Borderline-Syndrom


  1. Begriffsbestimmung
  2. Symptome
  3. Ursachen
  4. Psychosoziale Dynamik
  5. Abgrenzungen (Differenzialdiagnosen)
  6. Lösungsansätze

1. Begriffsbestimmung

Besser man nimmt den Raum wahr, den man in sich selbst trägt, als dass man ständig um den Platz kämpft, den man jenseits von sich haben könnte.

Früher teilte die Psychiatrie seelische Erkrankungen in zwei Gruppen ein: Psychosen und Neurosen. Später fiel auf, dass es Patienten gab, die weder der einen noch der anderen Gruppe zugeordnet werden konnten. Man ging davon aus, dass sich diese Menschen in einem Grenzbereich zwischen Neurose und Psychose befinden. Daher fasste man die Zustandsbilder unter dem Begriff Borderline-Syndrom zu einer neuen Krank­heitseinheit zusammen. Borderline heißt auf Deutsch Grenzlinie.

Die genaue Analyse ergab, dass die Vorstellung eines Grenzbereichs zwischen Neurose und Psychose fragwürdig ist, da sie einen fließenden Übergang zwischen beiden Krank­heitsgruppen unterstellt; was vermutlich genauso falsch ist, wie die Annahme eines Übergangs zwischen einer bakteriellen Gelenkentzündung und einer Gicht; bloß weil sich die Symptome beider Erkrankungen teils ähneln, teils überlappen.

Bei der Suche nach einem passenderen Begriff einigte man sich auf die Benennung des Leitsymptoms: die heftigen und häufigen Wechsel von Stimmung und Gefühl. So kam es zum Begriff der emotional-instabilen Persönlichkeit.

Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) ordnet das Krankheitsbild den Persönlichkeitsstörungen zu. Sie unterteilt es in zwei Varianten.

Emotional-instabile Störungen gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO

Name ICD
Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ F60.30
Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ F60.31

2. Symptome

Zur Kernsymptomatik des impulsiven sowie des Borderline-Typs gehören:

Fehldeutung
Leere ist Reichtum an Möglichkeit. Im Borderline-Modus verkennt das Bewusstsein den Reichtum der Leere als bedrohliches Nichts. Statt sich der Leere anzuvertrauen, die in der Mitte des Daseins liegt, flüchtet der Kranke in die Randbereiche des Erlebens, weil er seine Existenz vom Lärm der Intensität bestätigt sieht. Am Rand liegen die polaren Gegensätze eindeutig gut und eindeutig böse.

Beim Borderline-Typus kommen zu den bisher genannten weitere Symptome dazu:

Die Symptome der Borderline-Störung führen zu zwischen­menschlichen Konflikten und häufigen Beziehungskrisen. Im Rahmen solcher Zuspitzungen kommt es gelegentlich zu dissoziativen Symptomen oder psychotischen Episoden mit paranoiden Erlebnisweisen und wahnhaften Vorstellungen. Dabei sind auch Trugwahrnehmungen (Halluzina­tionen) möglich.

Im Gegensatz zu den eigentlich dissoziativen Störungen und der echten Paranoia sind solche Symptome aber flüchtig. Sie klingen mit der Beilegung krisenhafter Zuspitzungen wieder ab.

Beziehungsagieren
Unter einem Beziehungsagieren versteht man Verhaltensweisen, die darauf ausgerichtet sind, das Verhalten von Bezugspersonen zu beein­flussen, ohne das gewünschte Verhalten durch transparente Kommunikation zu erbitten oder anzufragen. Wer agiert, sagt nicht: Kannst Du Dich mal um mich kümmern. Er sorgt dafür, dass man durch sein Verhalten dazu gedrängt oder gar gezwungen wird.

3. Ursachen

Die Ursachen seelischer Störungen sind vielschichtig. So ist es auch beim Borderline-Syndrom. In der Vorgeschichte der meisten Borderline-Persönlichkeiten sind aber besonders ungünstige Be­dingungen festzustellen. Überdurchschnittlich oft war ihre Kindheit durch problematische Bezugspersonen belastet. Borderline-Patienten berichten über...

Frühe Störung

Das Borderline-Syndrom wird auch als frühe Störung bezeichnet. Das Wort früh grenzt die entwicklungs­psychologische Entstehungszeit des Syndroms von anderen Persönlichkeitsstörungen ab. Früh heißt: Die ungünstigen Bedingungen trafen das Kind bereits im ersten Lebensjahr. Man nimmt an, dass die frühe Beeinträchtigung der psychologischen Entwicklung den Grundstein für das Borderline-Syndrom legt.

4. Psychosoziale Dynamik

Das Wesen des Borderline-Syndroms wird klar, wenn man die individual-psycho­logischen Vorgänge im Patienten mit der Beziehungsdynamik in Verbindung bringt, aus der das Syndrom meist hervorgeht und die es im weiteren Verlauf selbst erzeugt.

Kernillusion

Nur die Verbindung zu einem absolut Guten, das außerhalb von mir liegt, gibt meinem Leben Wert und Sinn.
4.1. Innerseelische Vorgänge

Individual-psychologisch betrachtet ist das Borderline-Syndrom Resultat uner­füllter Bedürfnisse, einer einseitigen Ausrichtung der Aufmerksamkeit und eines spezifischen Abwehrmechanismus: der Spaltung. Es wird durch ein wirklichkeits­widriges Selbst- und Weltbild aufrechterhalten. Das Kernproblem des Borderline-Themas ist die Illusion, Glück sei nur in der Verbindung zu etwas uneingeschränkt Gutem möglich, das sich jenseits des eigenen Selbst befindet. Der Borderliner glaubt, dass er mit Widersprüchen keinen Frieden machen kann, ohne den eigenen Wert zu verfehlen. Kann er nicht mehr daran glauben, dass er das Gute findet, kochen seine Emotionen hoch. Er verfällt in Angst, Verzweiflung oder Wut.

Übergänge

Das kognitive Grundmuster des Borderline-Themas ist die vorwiegende Anwendung der Spaltung als Abwehr­mechanismus. Die Spaltung des Ich- und des Du-Bildes in gut und böse ist ein mögliches Abwehr­muster fast aller Menschen. Je nach Situation wird es mehr oder weniger stark einge­setzt.

Weder der impulsive Typ noch der Border­line-Typ noch die emotional-instabile Persönlichkeit überhaupt ist daher als eindeutig vom Gesunden abgrenzbare Krankheitseinheit zu beschreiben. Vielmehr gehen sowohl die beiden Typen als auch das Borderline-Spektrum ohne klar feststellbare Grenze in den Normbereich menschlicher Verhaltensweisen über.

4.1.1. Bedürfnisse

Das wichtigste psychologische Bedürfnis des Kindes ist das nach Zugehörigkeit und schützender Bindung. Ist das Umfeld nicht in der Lage, dieses Bedürfnis verlässlich zu erfüllen, erlebt das Kind die Welt als einen Ort ständig drohender Gefahr. Es fühlt sich hilflos ausgesetzt und reagiert mit Angst.

Affenkinder, Angstbereitschaft und Bindung
Es ist nicht viel Zeit vergangen, seit unsere Urgroßeltern als Kapuzineraffen ver­kleidet durch die Wipfel huschten. Als unsere Großeltern auf die Welt kamen, war es daher überlebenswichtig, sich im Fell der Mutter festzuklammern. Ohne schützende Bindung wären sie abgestürzt. Sie hätten nicht einmal die ersten 24 Stunden überlebt.

Da auch Menschenkinder nicht ohne liebende Zuwendung auskommen, hat ihnen die Weisheit der Natur einen Sicherheitsreflex mit auf den Weg gegeben. Wenn ein Kleinkind spürt, dass zu viel Bindung auf einmal verlorengeht, versucht es mit aller Kraft, das notwendige Maß an Bindung zu halten. Damit es sich aus eigenen Stücken an seine Bedürftigkeit erinnert, hat ihm die Natur als nötigen Treibstoff zur Bindungssuche Angstbereitschaft eingeflößt.

Patienten mit Borderline-Störung sind in der frühen Kindheit regelhaft auf Bezugs­personen gestoßen, die mit sich selbst nicht im Reinen waren. Eltern aber, die mit sich selbst nicht im Reinen sind, fehlt oft die Kraft und die Geduld, das Zugehörigkeits­bedürfnis ihres Kindes so lange zu beantworten, bis es sich im Laufe der Entwicklung, dank des aufkeimenden Drangs, über sich selbst zu bestimmen, aus freien Stücken und ohne überschießende Angst von seinen Bezugspersonen löst.

Was geschieht bei der Borderline-Persönlichkeit

Der Mensch neigt dazu, die Erfüllung genau jener Bedürfnisse für unerlässlich zu halten, deren Erfüllung er nur bruchstückhaft oder gar nicht erlebt hat. Deshalb verlegt sich das unbehütete Kind darauf, mit aller Kraft nach einer Bezugsperson zu suchen, die ihm ein unverbrüchliches Zugehörigkeitsgefühl vermitteln könnte. Oft ist es bereit, diesem Ziel alle übrigen Belange ohne Rücksicht auf Verluste unterzuordnen.

4.1.2. Abwehrmechanismen

Neugeborene haben kaum Lebenserfahrung. Bei der Einschätzung der Wirklichkeit ist ihr Bewusstsein auf grobe Beurteilungsmuster angewiesen. Die wichtigste Entscheidung, die immer wieder neu zu treffen ist, beantwortet die Frage, ob das, was dem Kind gerade begegnet, nützlich oder schädlich ist. Das grobe Raster, das in der frühen Kindheit dazu angewendet wird, ist die Unterscheidung zwischen gut und schlecht. Der qualitativen Unterscheidung zwischen gut und schlecht entspricht die moralische zwischen gut und böse oder die bildhafte zwischen schwarz und weiß.

Spaltende Urteile

Dazu richtet das Bewusstsein zunächst zwei Kategorien ein: Entweder etwas ist gut, oder es ist schlecht.

Weitere Unterscheidungen macht es zunächst nicht. Man sagt: Das Bewusstsein spaltet sein Bild der Realität in zwei Hälften.

Im Laufe der Zeit erweitert sich der Erfahrungsschatz. Das Kind stellt fest, dass es zwischen gut und schlecht Phänomene gibt, die man nicht der einen oder anderen Kategorie zuordnen kann. Vieles ist durchwachsen. Anderes scheint heute gut zu sein und morgen schlecht. Das Bewusstsein fängt an, die starre Grenze zwischen beiden Kategorien aufzugeben. Es betrachtet die Wirklichkeit nicht mehr als Schachbrett­muster mit schwarzen und weißen Feldern. Mit der Zeit unterscheidet es immer mehr. Es erkennt, dass der Wert vieler Dinge davon abhängt, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet.

Was geschieht bei der Borderline-Persönlichkeit

Wird das Kind zu früh durch unverhältnismäßige Härten des Lebens verunsichert, wird sein Bedürfnis, schmerzhafte Aspekte abzuwehren, überwertig. Da es meint, es sich in seiner lieblosen Umwelt nicht leisten zu können, bei der Abwehr schmerzhafter Erlebnisse Fehler zu machen, verzichtet es auf das kurzfristige Risiko kompromissbereiter Unterscheidung... und riskiert dadurch langfristig noch mehr: Es bleibt auf den Abwehrmechanismus der Spaltung fixiert.

Damit das Kind sich einer Sache anvertraut, muss sie makellos gut sein. Weil es schon zu viel Schlechtes erlebt hat, schreckt es selbst vor einer geringfügigen Beimischung von schlecht zurück. Der Begriff Fixierung beschreibt dabei einen weiteren Abwehrmechanismus, der beim Borderline-Syndrom wirksam ist.

Kompromisse
Gewiss: Durch die ausschließliche Akzeptanz des Nur-Guten vermeidet man das Risiko, schlechten Beimischungen im Guten zu begegnen. Kompromisslos zu sein führt aber oft dazu, dass man immer mehr Üblem begegnet. Komplexes ist fast immer so, dass es den Bedürfnissen des Einzelnen nicht vollständig entspricht. Das gilt vor allem für persönliche Beziehungen, Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse. Wer dort auf das Ideale schielt und den Kompromiss verwirft, droht leer auszugehen.
4.1.3. Ausrichtung der Aufmerksamkeit

Kommt das Kind auf die Welt, ist sein Bewusstsein nach außen gerichtet. Es erkundet den Ort, an den das Schicksal es ausgesetzt hat. Mit der Zeit lernt es zwischen innen und außen zu unterscheiden. Ein Teil der Achtsamkeit wendet sich dem neu entdeckten Innenleben zu. Das Kind wird selbst-bewusst.

Was geschieht bei der Borderline-Persönlichkeit

Wenn von außen ständig Gefahr droht, zum Beispiel die ganze Palette der Misslichkeiten eines zerrütteten Elternhauses, kann das Kind den Blick nicht von der Außen­welt abwenden. Zum einen muss es auf der Hut sein, um neuen Verletzungen auszu­weichen, zum anderen ist es auf der Suche nach dem wirklich Guten, dem es sich gefahrlos anvertrauen kann. Wer aber keine Zeit hat, nach innen zu blicken, wird nicht selbst-bewusst. Das Innere bleibt im Schatten der Aufmerksamkeit. Es erscheint als Hohlraum unverstandener Kräfte, von denen aus neue Gefahren zu befürchten sind.

4.1.4. Selbstwertgefühl

Die menschliche Psyche kennt einen klaren Zusammenhang:

Borderline-Persönlichkeiten wurden von ihrem Umfeld meist nur wenig wertgeschätzt. Daraus ziehen sie den Schluss, dass sie tatsächlich nur wenig wertzuschätzen sind. Ihr Selbstwertgefühl ist mager und brüchig. Je magerer aber das Gefühl des Eigenwerts bleibt, desto mehr glaubt der Betroffene an die Notwendigkeit, Wert jenseits seiner selbst zu suchen. Die Suche an der falschen Stelle geht daher weiter.

4.2. Zwischenmenschliche Vorgänge

Die innerseelische Dynamik geht Hand in Hand mit einem typischen Muster zwischen­menschlicher Beziehungen. Dabei verstärken sich beide Kraftfelder wechselseitig.

4.2.1. Rollenspiele

Um eine wahrhaft gute Bezugsperson zu finden, bedarf es einer Strategie. Die gäng­igste Strategie zur Anwerbung einer selbstlos liebenden Person ist es, die Rolle eines lieben Kindes zu spielen.

Bei ihrer Suche nach der erträumten Bezugsperson glaubt die Borderline-Persönlichkeit des Öfteren, fündig geworden zu sein. Ist ihr Drang, geliebt zu werden, übermächtig, verliebt sie sich auf den leisesten Verdacht. Dann ist sie vom Gegenüber begeistert und idealisiert es über alle Maßen. Das gelingt ihr umso besser, je weniger sie das Gegenüber kennt.

Polare Rollen

Da der Andere vermeintlich selbstlos ist und sich der Borderliner seiner Liebe würdig erweisen will, stellt er alle egozentrischen Impulse zurück und gibt sich seinerseits selbst-vergessen der Liebe zum Anderen hin; und zwar mit dem ungetrübten Vertrauen, mit dem es ein Kind einer selbstlos liebenden Mutter gegenüber ungestraft tun kann.

Da kein Erwachsener auf Dauer aber einem anderen Erwachsenen gegenüber selbstlos ist, wird die Illusion des Borderliners über kurz oder lang von der Wirklichkeit durchbrochen. Der Andere zeigt ein Verhalten, dass die Borderline-Persönlichkeit nicht mehr zu 100% als liebevoll zugewandt einord­nen kann.

Während der emotional stabile Mensch solche Enttäuschungen hinnimmt, tut das die Borderline-Persönlichkeit nicht. Bei ihr gibt es keine Zwischentöne. Es gibt nur gut oder schlecht. Und da der bislang für 100% gut Befundene es offensichtlich nicht (mehr) ist, verschiebt ihn die Borderline-Persönlichkeit in die einzige Kategorie, die in ihren Augen übrig bleibt: in die Schachtel mit der Aufschrift schlecht. Die Wut darüber, sich vom Leben erneut getäuscht zu sehen, wird oft ausagiert. Aggressiv wendet sich der Enttäuschte gegen den Anderen oder gegen sich selbst. Das liebe Kind wird zu einem schwarzen Schaf, das durch die Probleme auffällt, die sein emotional sprunghaftes Verhalten macht.

4.2.2. Aufschaukeln der Konflikte

Täuschung und Enttäuschung

Zur Tragik des Borderline-Themas gehört es, dass die Borderline-Persönlichkeit durch Enttäuschungen nicht wach wird. Die Illusion vom ideal-guten Gegenüber geht zwar zu Ende, um den Zwiespalt seiner Gefühle abzuwehren, stürzt sich der Enttäuschte aber in eine neue Illusion: die vom vollkommen schlechten. Die Enttäuschung des Enttäuschten endet nicht im ungetäuschten Blick auf die Wirklichkeit. Sie mündet in eine neue Täuschung.

Enttäuschungen sind umso bitterer, je krasser der Unterschied zwischen Täuschung und Wirklichkeit ist. Noch schlimmer kommt es, wenn man sich von einer Enttäuschung nicht in die Wirklichkeit führen lässt, sondern sich in eine diametral entgegengesetzte Täuschung stürzt. So ergeht es der Borderline-Persönlichkeit.

Sobald der Wert der bislang idealisierten Bezugsperson in den Augen der Borderline-Persönlichkeit ins Bodenlose stürzt, schlägt ihre Liebe und Vertraulichkeit ins Gegenteil um. Wut kocht hoch. Und da es der Borderline-Persönlichkeit nur schlecht gelingt, den Ausdruck aggressiver Impulse zu mildern, bricht sie einen Konflikt vom Zaun, der allzu oft zerstört, was an Beziehungsqualität zu retten wäre; wenn sie sich durch Enttäuschungen weise die Augen für die Komplexität der Wirklichkeit öffnen ließe. Das tut die Borderline-Persönlichkeit nicht.

So schaukeln sich im Leben der Borderline-Persönlichkeit Konflikte auf, was die Welt in ihren Augen erst recht als Ort des Unglücks und der Einsamkeit erscheinen lässt.

4.2.3. Schwierige Bezugspersonen

Meist ruhen die Familienmitglieder der Borderline-Persönlichkeit nicht in sich selbst. Stattdessen schütten sie ihrerseits Treibstoff ins Feuer zwischenmenschlicher Konflik­te. Zur Tragik des Borderline-Themas gehört darüber hinaus, dass emotional-instabile Menschen emotional stabile durch ständige Stimmungswechsel und Konfliktneigung vergraulen.

Mit der Zeit verengt sich dadurch das soziale Bezugsfeld möglicher Kontakte auf Men­schen, die sich ihrerseits durch unüberlegt-impulshaftes Handeln (z. B. Drogenkonsum, Kleinkriminalität, Verschuldung, andersartige psychiatrische Probleme), verminderte Kompro­missbereitschaft in Beziehungsfragen, mangelndes Selbstbewusstsein und Selbstwert­zweifel aus dem normalen Kontext ablösen.

In diesem Umfeld durchlebt die Borderline-Persönlichkeit gehäuft affektüberladene Kon­taktepisoden, die ihre innerseelische Problemkonstellation verstärken.

5. Abgrenzungen (Differenzialdiagnosen)

Bei typischer Ausprägung ist das Borderline-Syndrom leicht zu erkennen. Ein begrün­deter Verdacht entsteht, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

Obwohl die Störung oft gut erkennbar ist, gibt es diagnostische Alternativen, die abzuwägen sind. Dazu gehören vor allem:

Die beiden genannten Krankheitsbilder sind nicht nur als Differenzial­diagnosen zu benennen. In der Praxis gehen psychische Symptome oft so ineinander über, dass man für einen Patienten mehrere Diagnosen gleichzeitig stellt. Dann spricht man von Komorbidität (lateinisch morbus = Krankheit).

6. Lösungsansätze

Sollten Sie emotional-instabile Verhaltensmuster bei sich feststellen, die Ihnen Probleme machen, ist es sinnvoll, die Dinge nicht als tragisches Unglück zu verstehen, sondern als Ausgangspunkt einer fruchtbaren Entwicklung. Sämtliche Problemfelder des Borderline-Spektrums können aus eigener Kraft und/oder durch therapeutische Hilfe zum Guten gewendet werden. Borderline ist kein Schicksal, sondern Aufgabe.

6.1. Medikamente

Medikamente, die die Borderline-Störung an der Wurzel packen, gibt es nicht. Daher ist der Einsatz von Psychopharmaka zunächst nur als symptomatische Maßnahme zu erwägen. Immerhin: Symptomatisch heißt, die Symptome werden gedämpft. Da die Symptome der Borderline-Störung aber nicht nur schmerzhaft sind, sondern ihrerseits eine Verschärfung der Problematik nach sich ziehen können, sind Psychopharmaka auch als vorbeugende Maßnahme zu betrachten. Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Einsatzmöglichkeiten entsprechender Substanzen.

Symptomatische Behandlung beim Borderline-Syndrom

Wirkstoff Einsatzgebiet
Antidepressivum Depressive Verstimmung
Schlafstörungen
Hochpotente Neuroleptika Psychotische Entgleisung
Niederpotente Neuroleptika Unruhezustände
Schlafstörungen
Benzodiazepine Erregungszustände bei krisenhafter Zuspitzung

6.2. Therapeutische Hilfen

Heilbarkeit

Die Borderline-Störung ist nicht Ausdruck einer organischen und damit festgelegten Abweichung von der Norm. Sie ist Folge problematischer Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster. Diese Muster können durch Achtsamkeit und Übung verändert werden. Die Borderline-Störung ist daher vollständig heilbar.


Heilbar heißt aber nicht leicht heilbar. Zur Heilung der Störung bedarf es großer Beharrlichkeit. Wer auf Dauer am Ball bleibt, hat jedoch gute Chancen.

Psychotherapie bzw. Verhaltenstherapie ist das Mittel der Wahl zur Be­handlung der Borderline-Störung. Sie kann ambulant, teil- oder voll­stationär durchgeführt werden. Erfolgreiche Therapien basieren auf kogni­tiven und verhaltensverändernden Ansätzen. Als gemischt gruppen- und einzeltherapeutischer Ansatz hat die Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Verbreitung gefunden.

6.3. Selbsthilfe
Wann Sie gesund sind? Wenn Sie verstehen, dass Sie der Wert sind, den Sie außerhalb von sich suchten.

Sie sind in Wirklichkeit kein Ding, dem Wert gegeben werden könnte. Sie sind Wert und Wirklichkeit der Dinge. Gehen Sie mit allen Dingen achtsam um, so wie es deren (= Ihrem) Wert entspricht.

Die Grundpfeiler der professionellen Therapie gelten auch jenseits therapeutischer Übungsgruppen und Gespräche. Auch hier gilt:

Illusion und Wirklichkeit
Das Grundprinzip aller Borderlinetherapie liegt in der Hinwendung zur Wirklichkeit und damit der Auflösung der borderline-spezifischen Kernillusion. Wir erinnern uns. Die Kernillusion lautet:

Nur die Verbindung zu einem absolut Guten, das außerhalb von mir liegt, gibt meinem Leben Wert und Sinn.

Deshalb ist die Einübung von Fertigkeiten (Skills) nützlich, die die Achtsamkeit des Betroffenen auf das Hier-und-Jetzt lenken. Dort ist alle Wirklichkeit versammelt.

Was macht dem Borderliner zu schaffen? Dass er der Kernillusion anhängt und er, sobald sich vermeintlich rein Gutes als rein Böses zu entpuppen droht, in Angst, Verzweiflung oder Wut verfällt; was impulsiv selbstschädigende Handlungen nach sich zieht.

Die pathogene Kettenreaktion besteht aus fünf Elementen:

  1. illusionärer Realitätsdeutung
    Abstriche am Guten führen zu dessen völligem Wertverlust.
  2. Enttäuschung durch den Gang der Dinge
    Unachtsamkeit, Untreue, Rückzug, Desinteresse oder kritische Äußerungen von Seiten einer Bezugsperson, Misslingen oder nicht vollständiges Gelingen eines Vorhabens
  3. Fehlurteil
    Das enttäuschende Ereignis führt dazu, dass der Rest des Lebens schmerzhaft, sinnlos und unwürdig sein wird.
  4. Affektschwall
    • entweder resignativ
      Alles ist verloren. Jetzt kann ich mich auch umbringen oder zerstören, was mir nützlich war.
    • oder aufbäumend-widerstrebend
      Die ungebändigte Kraft meiner Wut kann es noch hinbiegen.
  5. problemträchtigem Handeln als Reaktion auf die eigenen Affekte
    selbstschädigend, fremdschädigend, Beziehungsabbruch, Preisgabe wichtiger Zielsetzungen

Die Bündelung erkennender Achtsamkeit auf unmittelbar (eigene Gefühle) und mittelbar Wahrnehmbares (Geruch, Geschmack, Tasterlebnisse, Geräusche, Sicht­bares, konkrete Personen oder Vorhaben, mit denen man zu tun hat) führt die Psyche von der Schreckensvision einer sinnlosen Zukunft in die Wirklichkeit zurück. Dort ist die Welt in der Regel durchwachsen aber immerhin erträglich. Momentan traurig oder wütend zu sein, ist entschieden weniger schlimm als der vermeintliche Sinn- und Wertverlust auf Dauer.