Identität und Identifikation


  1. Begriffsbestimmungen
  2. Selbst und Selbstbild
  3. Struktur des Ich
  4. Symptome egozentrischen Erlebens
  5. Selbstbestimmung
    1. 5.1. Spirituelle Wege
    2. 5.2. Experimentelle Identifikation
Je näher man sich kommt, desto weniger ist man ein Wer und desto mehr ein Was. Hat man sich erreicht, ist man selbst das nicht mehr.

Nur wer bestimmt, was er wirklich ist, ist in der Lage, selbstbestimmt zu sein.

Grundregel

Je mehr ich mich mit dem identifiziere, was ich von mir wahrnehme, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich für das halte, was ich tatsächlich bin. Je mehr ich mich an Vermutungen und Urteilen orientiere, desto größer ist das Risiko, dass ich mich irre. Je mehr ich mich über mein Wesen irre, desto größer sind die Umwege, die ich nach meinen Ent­scheidungen gehen muss.

1. Begriffsbestimmungen

Sagt man Ich bin..., spricht man über das, wofür man sich hält. Ent­weder man hält sich für das, was man ist, oder man hält sich für das, was man zu sein glaubt. Die Begriffe Identität und Identi­fikation verdeutlichen den Unterschied:

Dass sich Identität nicht irren kann, ist offensichtlich. Was ist, ist, was es ist; egal ob es richtig erkannt wird oder nicht. Dass jede Identifikation einer Irrtumsgefahr unterliegt, ist ebenso offensichtlich. Man kann sich mit allem gleichsetzen, wofür man sich hält, was man zu sein glaubt oder was man gerne wäre. In der Regel ist dem Menschen seine Identität nicht bewusst. Stattdessen setzt er sich mit etwas gleich, das er dann als seine Identität definiert.

Ich geht auf die indoeuropäische Wurzel eĝ[ō] = ich zurück. Die phonetische Nähe des ursprünglichen eĝ[ō] zum Fachbegriff Ego weist darauf hin, dass unsere Vorfahren ihr eĝ[ō] zum Zwecke der Abgrenzung einsetzten. Sie sagten: Das bin ich und das bist Du.

Filmgeschichte :)
Ich Tarzan, Du Jane. Wer kennt diesen Satz nicht? Er ist so berühmt wie Ich schau' Dir in die Augen, Kleines. Wenig bekannt ist, wie es zum ersten Satz kam.

Eigentlich wollte Johnny Weissmüller Maureen O'Sullivan sagen, dass sie ihm gefiel. Das intendierte Du bist schön klang durch die donauschwäbische Grammatikal­verkürzung im Freidörfer Dialekt Weissmüllers jedoch wie Du dschein. In der englischen Transkription wurde daraus Du Jane, woraus die Amerikaner schlossen, Weissmüller schlage für seine Partnerin einen Namen vor. So kam 1932 ein hübscher Mädchenname in die Neue Welt.

Im Netz kursieren auch andere Darstellungen des Sachverhalts; sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die hier vorliegende Variante von Käpt'n Blaubär erfunden ist.

Bemerkenswert ist, dass westgermanische Sprachen bei der Konjugation zwei indoeuropäische Wurzeln miteinander mischen: es- = sein und bheu- = wachsen, werden, entstehen, wohnen, sein. So kommt es zur erstaunlichen Konjugation des Verbs sein:

Mit der Wahl der Wurzel bheu-, die auch zum Verb bauen und dem Bauern führt, beschreibt das Deutsche das Sein des Ich nicht als Zustand, sondern als Prozess. Ich bin heißt Ich werde. Die Sprache berücksichtigt, dass sich das Ich und das Du in der Begegnung unumkehrbar verändern. Spricht das Ich über einen Er, eine Sie oder ein Es, lässt es das Werden außer Acht. Den, über den es spricht, fasst es vereinfacht als Zustand auf. Den, mit dem es spricht, betrachtet es als Vorgang.

Was kommt und geht, ist Welt. Was ist und bleibt, sind Sie.

2. Selbst und Selbstbild

Die leibliche Identität der Person wird durch den Körper verwirklicht. Gemäß materialistischem Weltbild entspringt dem Körper ein Bewusstsein, das als physiologische Funktion des Körpers dessen Überleben dient. Wer diesem Denkmodell folgt, meint mit dem Begriff Ich eine Person. Das heißt: einen seiner selbst bewussten Leib, der mit dem sozialen Umfeld interagiert und dessen Identität mit dem leiblichen Horizont zusammenfällt.

Definition
Als Ich wird eine Gestalt bzw. die Instanz aufgefasst, die über ihre angenommene Außengrenze hinweg die Wirklichkeit inter­pretiert. Was nichts hat, was als Außengrenze aufgefasst werden kann, kann kein Ich im umgangssprachlich definierten Sinn sein.

Existenzbedingung
Ein Ich ist eine Instanz, die weiß, dass sie sich als Ich auffasst. Ohne Bewusstsein gibt es kein Ich.

Sein oder Nichtsein
Seiend ist, was direkt oder indirekt eine Spur im Bewusstsein hinterlässt oder hinterlassen könnte. Was das nicht kann, ist nicht. Einen Unterschied zwischen Sein und Nichtsein gibt es nur, wenn ein Bewusstsein gegenwärtig ist, das das Sein dessen verwirklicht, was bewusst werden kann.

Im Gegensatz dazu geht das spirituelle Selbstbild davon aus, dass der Person eine seelische Dimension innewohnt, die den Horizont des Körpers überschreitet. Gemäß dieser Sichtweise wird die Psyche nicht als bloße Funktion des Körpers gedeutet. Vielmehr fasst sie den Körper als ein Werkzeug der Seele auf, das deren Existenz in der Raumzeit verwirklicht.

Während die leibliche Identität im Rahmen beider Weltbilder leicht zu bestimmen ist - ein Blick in den Spiegel genügt -, ist es mit der psychischen bzw. seelischen schwer.

Abgesehen vom Körper, hat das Ich keine feste Form; und selbst dessen Form ist nur scheinbar fest. Was es ist, weiß das Ich nicht von vornherein. Es macht sich erst ein Bild davon. Dazu nimmt es wahr, stellt Vermutungen an und identifiziert sich mit dem, wofür es sich jeweils hält.

Das Ich wird seiner selbst bewusst, sobald es bemerkt, dass es etwas bewirken kann. In der frühen Kindheit setzt es sich mit dem Körper gleich. Es kann dessen Glieder bewegen und damit Geräusche machen. Später bemerkt es, dass es nicht nur den Körper durch die Außenwelt steuert, sondern auch Zugang zu einer geistigen Innenwelt hat, die andere nicht unmittelbar erkennen. In dieser Innenwelt begegnet es Gedanken, Gefühlen, Impulsen und Wünschen, die es bald für wesensnäher hält als seine bloße Körperlichkeit. Es verschiebt den Schwerpunkt seines Selbstbilds vom Stofflichen ins Geistige.

Parallel zur Gleichsetzung mit Körper und Psyche identifiziert sich das Ich mit sozialen Gemeinschaften, denen es sich zugehörig fühlt. Es sagt: Ich bin Deutscher, Europäer, Christ, Opelaner... Es identifiziert sich mit Rollen, die es in Gemeinschaften spielen will und mit Werten und Eigenschaften, die zur Gemeinschaft und zur Rolle passen.

Auswahl und Intensität dieser Identifikationen entscheiden darüber mit, was das Ich erlebt.

Grundsätzlich stehen dem Ich zur Bestimmung dessen, was es ist, zwei Mittel zur Verfügung:

  1. Wahrnehmungen

    Ich bin ärgerlich. Ärger kann ich wahrnehmen. Wenn ich Ärger wahrnehme, ist bewiesen, dass ich ärgerlich bin; wobei sich die Qualität ärgerlich jedoch auf das relative Selbst bezieht. Sie ist damit eine wahrnehmbare Eigenschaft der Person, nicht des absoluten Selbst (siehe unten).

  2. Vermutungen und Urteile

    Urteile verändern auch Wahrnehmungen. Wer urteilt Ich kenne keine Bosheit, bahnt die Verdrängung der Erkenntnis, dass er missgünstig sein kann.

    Ich bin tüchtig. Wenn ich mich für tüchtig halte, ist nicht bewiesen, dass ich es bin. Ich bin tüchtig ist ein Urteil. In jedem Urteil stecken Willkür und Zufall. Ich urteile vor dem Hintergrund von Erfahrungen, die ich zufällig gemacht habe und gemäß dem, was ich für meinen Vorteil halte. Urteile stellen nicht nur fest, was ist. Sie steuern auch auf das zu, was sein soll, was möglicherweise also nicht ist, sondern bloß gewünscht wird.

Große und kleine Fragen
Fragt das Ich nach sich selbst, kann es große oder kleine Fragen stellen.

Wer fragt, wer er ist, fragt nach einer Person. Personen sind Mitspieler im sozialen Kontext. Wer die kleine Frage stellt, blickt nicht über den sozialen Horizont hinaus.

Wer nach dem fragt, was er ist, fragt nach seiner Position in der Wirklichkeit. Sein Blick sucht nach der Quelle seiner Existenz. Auf dem Weg zur Antwort nach dem Was, lohnt sich hundertmal die Frage: Wie bin ich? Das Wie fragt nach den Eigenschaften und Erscheinungsformen der Person. Je mehr davon erkannt werden, desto eher gelingt es, sich aus der Identifikation mit der Person zu lösen.


Das Ego ist ein Dorthin, das Selbst ein Jetzt.

3. Struktur des Ich

Indem das Selbst sich erkennt, wird es zum Ich. Ein Ich ist, was weiß, dass es erkennt.

Zur Klärung des Unterschieds zwischen dem, was man ist und dem, wofür man sich hält, dienen acht Begriffe:

Definitionen im Überblick

Begriff Was benennt er?
Ich Das, was sich gleichsetzt...
... mit dem, was es wahrnimmt, mit dem, was es zu sein glaubt oder mit dem, was es sein will.
Das, was das Selbstbild zu sich selbst erklärt.
Ego Die Rolle, die das Ich gegenüber anderen spielen will.
Das, was glaubt, von der Welt getrennt zu sein.
Das, was der eigenen Person einseitig Vorteile verschaffen will.
Vorsatz der individuellen Parteilichkeit.
Relatives Selbst Der eigene Körper und das, was das Ich unmittelbar wahrnehmen kann: Gefühle, Gedanken, Impulse.
Inhalt, Struktur und Dynamik der eigenen Person; persönliche Interessen und Zielsetzungen.
Absolutes Selbst Das, was wahrnimmt und entscheidet. Das, was wahr ist, wahrmacht und verwirklicht. Potenzial, sich als Subjekt in die Person zu erstrecken. Wesen der Wirklichkeit. Das, was sich selbst erschafft.
Wirklichkeit Gemeinsamer Nenner aller wirksamen Kräfte und Formen. Inhalt der Wirklichkeit ist alles, was unterschieden werden kann, ihr Wesen, was nicht zu unterscheiden ist. Die objektive Wirklichkeit ist das Verwirklichte. Zur absoluten Wirklichkeit gehört auch das Mögliche. Das Verwirklichte verweist auf einen Zeitpunkt. Das Mögliche ist zeitlos.

Das Ich definiert sich anhand zwei grundsätzlicher Regeln: Ausgrenzung und Einschluss.

  1. Es ist das, was ausgrenzt: Ich bin dies, aber nicht das.
  2. Es ist das, was einschließt: Ich bin dies und das.

Das egozentrisch deutende Ich grenzt das Nicht-Ich aus und schließt die Inhalte des relativen Selbst ein. Das spirituell deutende Ich überschreitet das dualistische Selbstbild. Es schließt alles konkret Seiende als Grundlage seines Wesens aus. All dies bin ich nicht, aber ich bin. Zugleich schließt es alles Seiende als seinen Ausdruck ein. Was ist, ist Verwirklichung meiner Möglichkeit.

Zwei verschiedene Ich-Konzepte

Nicht-Ich

Ich


Materialistisches Modell

Im materialistischen Weltmodell ist das Ich vom Nicht-Ich (der Welt) umschlossen und erscheint als separates, also vom Nicht-Ich abgegrenztes Phänomen. Im materialistischen Bild fallen Person und Selbst zusammen. Materialistisch ist ein Weltbild, wenn es die Materie als primäre Ursache des Geistes betrachtet.

Absolutes Selbst

Nicht-Ich Ich


Mystisches Modell

Im mystischen Weltmodell bilden Ich und Nicht-Ich eine Einheit, die im absoluten Selbst erscheint. Im mystischen Bild ist das Selbst des Ich umfassend. Es umfasst die jeweilige Individualität des Subjekts und die Objekte, die es erkennt.

Je nach Selbstverständnis ist das Ich Illusion oder Wirklichkeit. Soweit es Illusion ist, ist der Tod sein Ende. Soweit es wirklich ist, ist der Tod das Ende einer Illusion.

Es gibt kein Ich, das nicht zugleich durch ein Nicht-Ich mitbedingt wäre. Das absolute Selbst als Unbedingtes geht über das Wesen des Ichseins hinaus. Ich und Welt sind Aspekte der Wirklichkeit, die eine Einheit bilden. Eine Einheit bilden heißt: In jedem Nicht-Ich ist Ich enthalten. Jedes Nicht-Ich ragt ins Ich hinein. Das persönliche Ich ist in die Erinnerung an die individuelle Ereigniskette eingewoben, an der der Körper teilgenommen hat. Es ist ein Fall der Ichhaltigkeit. Ichhaltigkeit ist eine Eigenschaft des Universums. Das Universum hat die Eigenschaft, Bewusstseinsfelder zu enthalten, die sich als abgegrenzte Ichs begreifen.

3.1. Das Ego

Das Ego ist nicht angeboren.

Der Begriff Ego ist wohlgemerkt irreführend. Das Substantiv Ego unterstellt, dass das Ego ein eigenständiges Etwas ist, das aus sich heraus handelt. Tatsächlich ist das Ego eine Funktionsweise des Ich, die durch Absichten, Notwendig­keiten, Sichtweisen und Irrtümer des Ich ins Leben gerufen, gestaltet und gesteuert wird.

Unterwerfung oder Erkenntnis

Das Ego ist ein Instrument der Psyche. Sein Ziel ist die Kontrolle dessen, was geschieht. Es dient der Abgrenzung vom Umfeld und der Vertretung persön­licher, also egozentrischer Interessen. Damit gerät es in Verdacht, böse zu sein und uns die Teilhabe am Ganzen zu verwehren. Dem Verdacht entspringt die Vorstellung, ein guter Mensch müsse das Ego bekämpfen.

Der Vorsatz, sich zu verbessern, indem man das Ego bekämpft, ist jedoch seinerseits egoistisch. Es ist der Versuch, das Kontrollorgan zu kontrollieren. Es ist der Versuch, den Gewinn zu maximieren, indem man den Eifer beim Gewinnen zügelt. So beißt sich die Katze in den Schwanz.

Die Grenzen des egozentrischen Selbstbilds über­steigt, wer es als gedankliches Konzept erkennt und in seinen Grenzen wirken lässt. Wer das Ego zu unterwerfen versucht, stärkt es. Wer es erkennt, hört auf, sich mit ihm zu verwechseln. Wer es sieht, kehrt zu sich selbst zurück. Wer es bekämpft, stachelt es ebenso an, wie der, der ihm bedenkenlos die Führung überlässt.

Das Ego entwickelt sich im Laufe der frühen Kindheit parallel zum Erwachen des Ich-Bewusstseins. Es besitzt keine primäre Existenz, die mit der biologischen Geburt ins Dasein tritt. Das Ego ist vielmehr ein Konzept des Bewusstseins, mit dessen Hilfe sich das Ich in der Welt zurechtzufinden versucht. Das Konzept besagt, dass das Ich als abgegrenzte Einheit mit dem Umfeld nicht wesenhaft verbunden ist, sondern ihm bloß dialogisch, als Rivale und Handelspartner, entgegentritt.

Obwohl das Ego nicht als seelisches Organ des Körpers gemeinsam mit diesem geboren wird, ist sein Wesen untrennbar mit dem körperlichen Aspekt der Person verbunden. Es ist darauf ausgerichtet, das Wohl der in ihrer Körperlichkeit verankerten Person bedingungslos zu fördern. Wie ein treuer Hund ist es bereit, nach allem zu beißen, was dem Wohl der Person im Weg zu stehen scheint; oder es achtlos zu übergehen.

Das Ego hat wichtige Funktionen:

Wer die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich als Illusion erkennt, setzt das Ego an eine Position, von der aus es ihn nicht mehr beherrschen kann.

Das Ego ermöglicht es, als eigenständiges Individuum gegenüber der sozialen und physikalischen Umwelt aufzutreten. Es sagt: Ich bin ich und nicht ihr.

Das biologische Erbe
Das Ego ist eine notwendige Bedingung der biologischen Evolution. Die Entwicklung der Arten ging Hand in Hand mit einem Phänomen, das als instinktiver Vorgänger des egozentrischen Ich-Bewusstseins aufgefasst werden kann: der Bereitschaft biologischer Strukturen, im Interesse ihrer selbst oder ihrer Gene rücksichtslos zu sein. Das gilt für röhrende Hirsche auf dem Brunftplatz ebenso wie für Zucker­erbsen im Gemüsebeet. Man wird dort kaum eine Erbse finden, die bereit wäre, zum Vorteil ihrer Miterbsen auf den hellsten Platz am Rankgitter zu verzichten.

Obwohl das Ego ein wichtiges Werkzeug des Lebens ist, ist seine Erfindung nicht der Weisheit letzter Schluss; erst recht nicht als alleiniges Prinzip persönlichen Handelns. Der Mensch selbst ist dafür Beispiel. Sein evolutionärer Erfolg beruht vor allem auf dem Zusammenschluss zu solidarischen Gemeinschaften; ohne den bereits die Sprachentwicklung unmöglich wäre. Der Erfolg solcher Gemeinschaften wäre ohne Fortentwicklung des blanken Egoismus bescheiden. Beim Zusammen­schluss sozialer Gemeinschaften wird das Ego nicht abgeschafft. Es wird fortent­wickelt. Zum bloßen Ich will für mich kommt ein Was uns dient, nützt auch mir.

Das Ego als Anwalt zu bezeichnen macht Sinn. Anwälte sind streitbare Kräfte im Konflikt. Das Ego als Streitkraft zu erkennen, ermöglicht es, seine Wirkungen im innerseelischen Raum besser zu verstehen. Analog zu den Streitkräften auf nationaler Ebene, folgt die individuelle Streitkraft militärischen Mustern. Ihr geht es um Fragen der inneren und äußeren Sicherheit, um Ressourcenverteidigung, Geländegewinn, Rang, Schlagkraft und Rivalität.

Das Ego mag ein guter Diener sein, ein guter Meister ist es nicht.

Der Egoist ist eine Militärdiktatur. Er bedroht das Umfeld, aber nicht zuletzt auch alle übrigen Möglichkeiten seiner selbst.

Geistige Scheingefechte zwecks Ego-Ertüchtigung sind eine wesentliche Ursache der Psycho-physiologischen Schlafstörung.

Im Eifer, seine Rolle zu erfüllen, versucht das Ego stets, sich kampfbereit zu halten. Daher kämpft es nicht nur, sobald Konflikte mit dem Umfeld auszu­tragen sind. Zur Steigerung der Kampfkraft führt es zwischen den Kämpfen Manöver aus. Es macht sich mobil durch Scheingefechte, die es als Simulationen im Geiste vollzieht.

Die Scheingefechte zur Ertüchtigung des Egos erleben wir als phantasierte Dialoge, in denen wir unseren Widersachern Vorwürfe machen, Forderungen an sie richten oder uns rechtfertigen. Fühlen wir uns unter Druck, können solche Ego-Ertüchtigungen in stundenlangem Gedankenkreisen vonstattengehen. Das Ego übt und übt und übt; bis die Erschöpfung endlich so groß ist, dass man einschläft.

3.2. Das Selbstbild

Die Funktion des Egos ist untrennbar mit einem typischen Selbstbild verbunden: dem Bild des Ich, ein polarer Gegensatz zum Nicht-Ich zu sein, und als Zentrum die Perspektive zu bestimmen, aus der die Wirklichkeit betrachtet wird. Dieses Bild ist egozentrisch. Es formt das Grundgerüst des nackten Ego.

Wechselwirkungen

Wie eine Person ist, hängt davon ab, als was sie sich betrachtet. Das wahrnehm­bare Objekt Person und die Wahrnehmung ihrer Eigenschaften beeinflussen sich gegenseitig. Sie sind unauflösbar miteinander verbunden. Nimmt man ein Merkmal bei sich wahr, verändert man sich.


Ego und Verantwortung

Aufgabe des Egos ist es, Unheil von der Person abzuwenden. Da verantwortlich zu sein, Unheil bedeuten kann, neigt das Ego dazu, Verantwortung auf andere abzuschieben. Mit seinem Mandanten meint es Anwalt Ego damit gut. Gut gemeint ist aber oft nicht wirklich gut; weder für den Mandanten, der sich seiner Verantwortung entzieht noch für die anderen, denen er sie in die Schuhe schiebt.

Zum egozentrischen Selbstbild gehört aber nicht nur die Hypothese vom grundsätzlichen Gegensatz zwischen dem Ich und dem Rest der Welt. Um sich selbst erkennbare Formen zu geben und damit Anker, an denen es sich in der Wirklichkeit vertäut, bestückt sich das egozentrische Selbstbild mit einem jeweils individuellen Repertoire eingrenzender Identifikationen. Dazu gehören Meinungen und vermeintlich unverrückbare Glaubens­sätze ebenso wie Zugehörig­keiten zu sozialen Gruppen.

Gerade jungen Menschen verschafft ein klar umgrenztes Selbstbild Sicherheit. Es verengt den Blick auf das, was der Person unmittelbar nützlich ist und Schutz zu vermitteln scheint. Wenn ich daran glaube, Schalke-Fan zu sein, weiß ich, in welcher Kurve ich am Samstag sitze. Das Selbstbild legt den Platz fest, von dem aus man sich am Rollenspiel der Welt beteiligt.

Die Verengung auf das egozentrische Selbstbild ist aber auch eine Quelle der Angst. Das Ego setzt der Welt eine Behauptung entgegen, ein konkretes So-und-nicht-anders-sein, ein Ich will! und Ich bin!, ein Das-ist-gut! und Das-ist-schlecht!. So formuliert es Positionen, die nach außen hin zu verteidigen sind. Im egozentrischen Modus definiert sich das Ich als eingegrenztes Etwas, das den großen Anspruch seiner kleinen Existenz gegenüber der Übermacht des Nicht-Ich zu behaupten hat. Unterschwellig ist es daher kampfbereit und fühlt sich stets bedroht. Die Endstrecke des egozentrischen Selbst­bilds ist das paranoide Erleben. Eine Befreiung aus der Grundbereit­schaft zur Angst kann es ohne Auflösung des egozentrischen Selbstbilds nicht geben.

Sprachprobleme

Das Wort Ich ist immer polar. Es ist ein Ich-Du oder ein Ich-Er. Es denkt die Spaltung der Wirklichkeit in Ich und Nicht-Ich mit.

Deshalb ist der Satz Ich bin die Wirklichkeit irreführend. Er stimmt nur inso­weit es in Wirklichkeit ein abgetrenntes Ich nicht gibt. Das Subjekt der Wirklichkeit ist anders als die Subjekte in der Wirklichkeit.

Das Subjekt der Wirklichkeit (das absolute Subjekt) kann sich durch Subjekte in der manifesten Wirklichkeit (relative Subjekte) zum Ausdruck bringen. Ohne tatsächlich aufgeteilt zu sein, unterteilt es sich in Erscheinungsformen. Jede Seinsart des relativen Selbst verwirklicht eine Seinsmöglichkeit des absoluten. Die Subjekte in der Wirklichkeit können sich nicht unterteilen. Sie können zum Charakter des Subjekts der Wirklichkeit zurückfinden, indem sie ihre Wesens­gleichheit damit erkennen. Erkennen ist dabei mehr als ein Akt intellektueller Hypothesenbildung. Die Wahrnehmung absoluter Wirklichkeit ist ihrerseits Verwirklichung.

3.3. Das Selbst

Das Selbst des Menschen ist das, was er tatsächlich ist; nicht das, was er zu sein meint oder sein will.

Das relative Selbst ist angeboren. Seine Inhalte werden stark vom Ego beeinflusst. Es besteht aus dem Körper und den unmittelbar wahrnehmbaren innerseelischen Ereignissen, die das Ich als mein Gefühl, mein Impuls, meine Meinung, mein Gedanke bezeichnet. Es bildet die Struktur der Person, die sich als Rollenspieler mit dem Umfeld in Verbindung setzt. Die innerseelischen Anteile des relativen Selbst sind durch Achtsamkeit nach innen wahrnehmbar. Damit ist es Objekt.

Das absolute Selbst ist ungeboren. Es entspricht der Wirklichkeit als Ganzes, aus deren Sicht Geburt und Tod nur Formen sind. Weil das egozentrische Individuum zwecks Unterscheidung von persönlichem Vor- und Nachteil zwar die innerweltlichen Gegensätze fokussiert (nützlich/schädlich, mein/dein etc.), kaum aber den Zusammenhang des bloß vordergründig Gegensätzlichen, ist das absolute Selbst der Wahrnehmung kaum je zugänglich. In der Regel wird bestenfalls an seine Existenz geglaubt, oder es wird auf sie durch Denkprozesse schlussgefolgert. Wahrnehmung heißt dabei nicht, dass es als Objekt der Betrachtung erkannt werden könnte. Wahrnehmung heißt hier, dass es als wahr erkannt und somit angenommen werden kann. Das absolute Selbst ist kein geformtes Sosein, sondern der Wahrheitsgehalt des jeweils Wahrnehmbaren.

Das absolute Selbst ist die höchste Instanz des Universums. Es ist das, auf das das Universum ausgerichtet ist. Der Begriff Universum enthält die lateinischen Wörter unus = eins, einer und vertere = drehen, wenden. Das Universum ist das zum Einen Hingewendete. Das Eine, zu dem es sich hinwendet, ist das Wahre, das alles Wahre zu sich vereint.

Je mehr sich die Betrachtung der Struktur des Ich dem absoluten Pol zu nähern versucht, desto weniger lässt sich begrifflich davon fassen. Da Begriffe Formen und Formen Begrenzungen sind, entzieht sich die formlose Quelle des Ich der Begreifbarkeit. Eine Gegenüberstellung deutet darauf hin, was das Wesen des absoluten Selbst von dem des Egos unterscheidet.

Tatsächliche und virtuelle Identität

Das Ego ist... Das Selbst ist...
virtuell nicht existent, aber wirklich
austauschbar grundsätzlich
gemacht gegeben
ein Gefüge sozialer Rollen und Eigenschaften, die man sich zuschreibt das Wesen, das hinter dem bewussten Dasein steht
Organisator der Person, als die
man der Außenwelt begegnet
transpersonal
objektivierbar Ursprung der eigentlichen Subjektivität
an Wirkung orientiert auf das Sein bezogen
körpernah und aktualitätsbezogen zeit- und formlos
parteiisch unparteiisch
trennend verbindend
kampfbereit friedfertig
ausgesetzt unverletzbar
auf etwas ausgerichtet in sich ruhend

Das Ego hat, aber es ist nicht. Das Selbst ist, aber es hat nicht.

Die Person... Das Selbst...
erscheint als Begrenztes.
erlebt sich begrenzt.
ist aus Begrenztem aufgebaut.
versucht, Grenzen zu erweitern.
ist unbegrenzt.
befasst sich mit Inhalten im Raum.
ist Inhalt im Raum.
bietet Inhalten Raum.
erzeugt durch Zuordnung von Wissen Bewusstsein. ist gewahr.
verfolgt Ziele. nimmt wahr, was die Person tut.
ist verwirklicht. geht als Möglichkeit über Verwirklichtes hinaus.
liegt Verwirklichtem zugrunde.

Der Begriff existent wird als Adjektiv realen Objekten beigestellt. Er reicht daher nicht aus, um den Wirklichkeits­charakter des absoluten Selbst zu beschreiben. Würde man sagen, das absolute Selbst sei existent, dann lediglich um das Gefälle anzudeuten, das zwischen dem virtuellen Realitätsgrad des Egos und dem Wirklichkeits­charakter des absoluten Selbst besteht.

Absolut es selbst ist, was sich selbst erschaffen kann. Das absolute Selbst eines jeden Geschaffenen ist die Kraft, die es schuf. Soweit das Individuum in der Lage ist, sich selbst in freier Wahl zu erschaffen, kommt absolutes Selbst in ihm zum Ausdruck.

3.4. Horizonte der Wahrnehmung

Das egozentrische Selbstbild geht von der Existenz eines eng umgrenzten Ich aus, das einem schier unermesslichen Nicht-Ich gegenübersteht. Trotz oder gerade wegen der Unermesslichkeit des Nicht-Ich schreibt es dem umgrenzten Ich eine alles überragende Bedeutung für das eigene Tun zu. Verursacht wird das verengte Selbstbild durch drei Faktoren:

  1. begrenzte Wahrnehmung

    Das individuelle Bewusstsein nimmt wahr, dass seine Inhalte (z.B. Gedanken und Gefühle) vom Bewusstsein anderer Individuen nicht unmittelbar erkannt werden. Daher glaubt es, sein Bewusstsein unterliege der Hoheit einer separaten Instanz. Tatsächlich besteht die Abgetrenntheit aber nur in der Abschirmung der Bewusst­seinsinhalte gegenüber dem unmittelbaren Einblick von außen. Die Inhalte selbst werden im Gegensatz dazu unauflösbar von dem Kontext mitbestimmt, in den das Individuum jeweils eingebettet ist; oder früher eingebettet war. Außerdem wirkt sich jeder Bewusstseinsinhalt auf das Verhalten aus, sodass das Umfeld auch dann durch einen Gedanken beeinflusst wird, wenn das Individuum ihn nicht ausspricht.

  2. spaltende Fehlurteile über die Struktur der Wirklichkeit

    Das Ego deutet die Wirklichkeit nicht als organische Einheit, sondern als gigantisches Stückwerk, in dessen unendlichen Weiten Millionen vereinzelter Existenzialisten einen heroischen Kampf gegen das eigene Ende ausfechten.

  3. das Kontrollbedürfnis einer ins Dasein ausgesetzten Zerbrechlichkeit

    Dasein heißt ausgesetzt sein. Als Reaktion auf das Ausgesetztsein in grenzen­loser Weite entwirft sich das Ego als überschaubares Interessensgeflecht, für dessen Wohlergehen es sich verantwortlich sieht. Die Verantwortung für das Nicht-Ich lässt es jenseits seiner vermeintlichen Grenze liegen.

Das Ego entwirft das Bild seiner selbst in Anlehnung an die Losgelöstheit des Körpers vom Umfeld, die sich in der Fähigkeit des Körpers zeigt, sich willkürlich im Raum zu bewegen. Es deutet die Seele als virtuellen Körper, der wie ein Raumschiffkapitän hinter den Augen auf der Brücke sitzt und das Schiff von dort aus durch die Einsamkeit ihm wesensfremder Räume steuert.

Ins Ganze eingebunden zu sein heißt zugleich, aus allem heraus entbunden zu sein.

Dem Gegenpol der Losgelöstheit, dem Eingebundensein, misst es im Gegensatz dazu bei der Bestimmung seines Selbstbilds kaum Bedeutung zu. Seiner Wahrnehmung fällt dieser Gegenpol nur schemenhaft ins Auge. Die willkürliche Beweglichkeit im Raum rechnet es sich selbst und dem Körper zu, nicht aber den Raum, dessen Existenz unauflösbar mit der Willkür seiner Bewegung verwoben ist. Das Ego sieht sich im Raum, aber nicht als Raum. Es glaubt, in der Welt zu atmen, erkennt aber nicht, dass es von ihr beatmet wird. Es glaubt, aus sich heraus zu leben und übersieht, dass sich sein Leben ereignet, indem es aus dem Abgrund der Wirklichkeit heraus geschieht.

Früher habe ich versucht, mich in meine Person zu fügen. Heute will ich aus ihr entbunden sein.

Wer sagt: Ich bin, was ich bin, und das Sein mit keinem Wort verwechselt, ist was er ist.

Ich brauche mich nicht gleich­zusetzen, weil ich bereits von allem dasselbe bin.

Das Ego spielt die Rolle, für die es sich hält. Für das Selbst ist das Ego eine Rolle, die es spielt.

Das Ego erkennt nicht, dass sein Selbst nicht allein in der abgegrenzten Person, als die es sich betrachtet, liegen kann, sondern nur im Netzwerk sämtlicher Kräfte, die deren Existenz bedingen. Das absolute Selbst der Person liegt in und außerhalb von ihr.

Den geistigen Raum als Binnenraum aufzufassen, ist eine sprachliche Konvention. Tatsächlich bezieht sich die Polarität innen-außen auf die Welt der Formen und Dinge. Das Selbst einer Person innerhalb von etwas - zum Beispiel ihres Körpers - zu verorten, ist widersinnig, wenn damit gemeint ist, dass es nicht auch außerhalb liegt.

3.5. Entwicklungsprozesse

Selbstbilder unterliegen Entwicklungsprozessen. Ein junges Gemüt glaubt womöglich, nichts als der sichtbare Körper im Spiegel zu sein. Mit der Zeit erweitern sich meist die Konzepte; sodass man sagen kann: je mehr sich das Selbstbild aus der Enge festgefügter Definitionen löst, desto reifer wird es. Mehr noch: Erst wenn das Ich alle Gleichsetzungen aufgibt, kommt es vom Bild zu sich selbst.

Die Preisgabe aller Gleichsetzungen ist keineswegs ein bloßer Denkakt, sondern eine existenzielle Positionierung in der Wirklichkeit. Die letzte Gleichsetzung ist die mit dem Ich. Das Ich hat alle Gleichsetzungen aufgegeben, wenn es dementsprechend handelt. Wer er selbst ist, steht handelnd über dem Ich. Er positioniert sich nicht gegenüber der Wirklichkeit, sondern steht in der Wirklichkeit und handelt aus ihr heraus.

Die Person ist eine Erfahrung des Selbst. Als Person ist das Selbst ins Konkrete gebeugt.
3.6. Die Person

Der Begriff Person geht auf etruskisch phersu = Maske zurück. Er wird auch mit dem lateinischen personare = hindurchtönen in Verbindung gebracht.

Maske ist untrennbar mit der Dualität von Ich und Du verbunden. Wo kein Du ist, an das sich das Ich wendet, macht keine Maske Sinn. Maske ist, wodurch sich das Ich des Individuums einem Du hindurchtönend verlautbar macht und hinter dem es sein wahres Gesicht zugleich vor dem Du verbirgt.

Partikel und Feld
Die Person ist ein verwirklichtes Gefüge. Sie liegt als konkreter (lateinisch: concrescere = zusam­menwachsen) Partikel (lateinisch: particulum = Teilchen, Verkleinerungsform von pars = Teil) im Raum und bewegt sich dort. Raum ist das Existenzfeld des Unterteilten so wie Zeit das Existenzfeld des Veränderlichen ist. Das absolute Selbst ist weder unterteilt noch abteilbar. Es liegt somit nicht als Partikel im Raum. Es schafft der Möglichkeit Raum, die von ihm jeweils verwirklicht ist. Es liegt auch nicht in der Zeit. Es bestimmt die Zeit, die Unterteiltes braucht, um vom einen ins andere überzugehen.

Die Person ist der Aspekt des Individuums, der sich an ein Du wendet. Sie setzt daher Trennung voraus... und ist somit der Mandant des Ego, das die Interessen der Person dem Nicht-Ich gegenüber vertritt.

Der Begriff Individuum zeigt an, dass das Unge­teilte im Einzelnen anwesend ist. Da das Ungeteilte der Teilung vorausgeht, ist der Kern des Einzelnen nondual.

Zur Person gehört das relative Selbst, dessen Inhalte in ständiger Wechselwirkung mit dem Nicht-Ich stehen; und von dort aus mitbedingt werden. Ins relative Selbst hinein wirkt auch das absolute, das Inhalte des relativen Selbst bestimmen kann; und somit in der Lage ist, die Bedingtheit der Person zu überwinden.

Entscheidungsfreiheit
Entscheidungen können aus verschiedener Perspektive heraus getroffen werden:
  1. aus der des Ego
  2. aus der des Selbst

Das Ego ist mit dem Umfeld verstrickt. Seine Entscheid­ungen sind stets auch Reflex. Sie hängen eng von momentanen Gegebenheiten ab und unterliegen dem Vorurteil seiner weltanschaulichen Konzepte. Das Ego trifft seine Entscheidungen gemäß voreingestellter Algorithmen; gewissermaßen wie ein Apparat. Soweit der Apparat über Sachverhalte entscheiden kann, ist er frei. Soweit er seinen Entscheidungsalgorithmen unterliegt, ist er es nicht. Da seine Entscheidungen bedingt sind, sind sie immer nur so frei, wie das Ich sich über sein Ego erheben kann.

Je mehr das Ich sich selbst vertraut, desto mehr löst es sich von den Wechsel­fällen der Welt. Die Anschauungen des absoluten Selbst sind vorurteilsfrei.

Das Selbst wirkt nicht gemäß Plänen, wie die Welt sein sollte, sondern gemäß dem, wie es selbst ist. Im Voraus geurteilt wird auf der Basis bislang gesammelten Wissens; das in der Regel beschränkt und Extrakt vergangener Erkenntnisepisoden ist. Das absolute Selbst weiß nichts. Es sammelt kein Wissen, da sein Wesen darauf beruht, allem, was wahr ist, gegenwärtig zu sein.

Entscheidungen sind umso unbe­dingter, je weniger sich das Ich mit Dinglichem gleichsetzt. Dinglich sind auch Ego und Person.

3.7. Das Individuum

Das Individuum besteht aus zwei Aspekten: Sein und Ausdruck. Das Sein des Individuums ist das Selbst. Dessen Ausdruck ist die Person. Die Unaufteilbarkeit ist im absoluten Selbst verankert; das seinerseits unveränderlich ist.

Die Person des Individuums ist zusammengesetzt. Sie ist so­mit wandel- und auflösbar. Zu jedem Zeitpunkt besteht sie aus einem Gefüge unterschiedlicher Elemente: körperlichen Strukturen, Gefühlen, Gedanken, Sichtweisen, Bewusstseins­zuständen.

Die Kontinuität zwischen einem sabbernden Säugling, einem pubertierenden Lulatsch und einem abgeklärten Greis ist nur durch rechtsmedizinische Analysen nachweisbar.

Die Zusammensetzung der Person ist fließend. Keines ihrer Elemente hat dauerhaft Bestand. Als jeweiliges Konstrukt fluktuierender Elemente ist die Person als das verwirklicht, was sie jeweils ist. Durch Altersprozesse und Persönlichkeits­entwicklung kann sich die Qualität einer Person im Laufe der Zeit drastisch verändern.

Im üblichen Sprachgebrauch wird der Begriff Individualität zu­meist der Person zugeordnet. Dort benennt er die Einzigartig­keit einer persönlichen Gestalt; also ein bestimmtes Muster, das eine Person A von allen anderen auffällig unterscheidet.

Das tatsächlich Individuelle liegt jedoch nicht in der vordergründigen Unverwechsel­barkeit eines persönlichen Soseins, sondern im Unabgetrennt­sein des Ich von seinem Selbst. Eine individuelle Person ist keine, die sich von anderen auffällig unterscheidet, sondern eine, die sich treu bleibt.

Die Struktur des Individuums ist bipolar. Als Person steht es als verwirklichte Struktur im Raum. Als Selbst ist es Raum, der die Verwirklichung von Strukturen ermöglicht. Dabei bedarf die Person immer des Selbst. Das Selbst bedarf keiner bestimmten Person.

4. Symptome egozentrischen Erlebens

Im Gegensatz zum absoluten Selbst, das zeitloser Wirklichkeit entspricht, ist das egozentrische Selbstbild speziell, willkürlich, kompliziert, widersprüchlich, verschachtelt und zerbrechlich. Von den Umständen wird es laufend infrage gestellt. Wenn man dem Ego und dessen Ringen mit der Welt zu viel Bedeutung schenkt, verliert man die zeitlose Dimension des Selbst aus dem Blick.

Setzt sich das Ich mit der Person gleich, als deren Anwalt das Ego wirkt, wird es vom Ego vereinnahmt. Statt dass das Ego Anwalt des Ich bleibt, wird das Ich zum Werkzeug des Ego. Die Verteidigung des Egos wird zum Selbstzweck. Es verteidigt nicht mehr das Selbst, sondern sich selbst. Daraus resultieren Unsicherheit, Angst, Neid, Missgunst, Aggression und Zwietracht.

Die Meinung der anderen

Der egozentrische Mensch interessiert sich vor allem für die Rolle, die er in Bezug zu anderen spielt. Daher legt er Wert darauf, deren Meinungen in seinem Sinne zu beeinflussen. Die anderen sollen...

  • etwas Gutes über ihn denken.
  • nichts Falsches über ihn denken.
  • seiner Meinung sein.

Wer sich mit seinem Ego gleichsetzt, ist durch Abwertungen kränkbar. Wer mit sich selbst identisch ist, weiß, dass er durch nichts zu entwerten ist.


Selbstbild und Wirklichkeit

Das Ego geht von Bildern aus. Es meint zu wissen, wie die Welt sein sollte. Das Bild, das es von sich selbst und der Welt entwirft, ist Resultat seiner Ängste und Wünsche, seiner persönlichen Erfahrungen und der Urteile, die es von anderen übernimmt. Daher ist das Bild verzerrt und eingeschränkt. Wenn das Ego die Führung übernimmt, versucht es, die Wirklichkeit seinen Bildern anzupassen. Der Wirklichkeit gegenüber wird man dadurch blind. Je weniger man die Wirklichkeit beachtet, desto härter wird der Aufprall, wenn man ihr begegnet. Der Schmerz rüttelt entweder wach oder liefert den Anlass, den Kampfauftrag ans Ego zu verstärken.

Aus der Identifizierung des Ich mit dem Ego entstehen proble­matische Gefühle. Sie gehen nahtlos in die psychopathologischen Symptome über, die Grundlage neurotischer Störungen sind. Mein Ego verstellt mir den Weg zu mir selbst. Um das zu vermeiden, gilt es, das Ego als bloßes Werkzeug zu sehen.

Ich komme nicht...

... aus meiner Haut heraus. Das beklagt so mancher, wenn er auf die immer gleichen Grenzen seines Verhaltensrepertoires stößt und sich einfach nicht anders verhalten kann wie gewohnt; obwohl er überzeugt ist, dass es für ihn besser wäre. Das kann daran liegen, dass er sich mit einer bestimmten Rolle oder bestimmten Eigenschaften identifiziert, die er unbewusst gegen jede Infragestellung verteidigt.

Das Ich verteidigt stets, wofür es sich selbst hält. Hat es sich mit einer psychologischen Rolle identifiziert, lehnt es ab, was diese Rolle in Frage stellt. Glaubt es nett zu sein, kann es nicht böse werden. Glaubt es bescheiden zu sein, kann es nicht ausgreifen. Glaubt es überlegt zu sein, blockiert es die eigene Spontaneität.

Mit der Haut, aus der man nicht herauskommt, sind die charakteristischen Persönlichkeitsmerkmale gemeint, die man für die eigenen hält. Die Haut ist ein Schutzorgan; körperlich sowieso, aber auch im übertragenen Sinn. In der Haut unserer Persönlichkeit fühlen wir uns zuhause. Ist die Identifikation damit unverrückbar, wird das Schutzorgan zur Zwangsjacke.


Sie wollen freier sein? Dann machen Sie sich klar: Sie haben keine Eigenschaften. Dass Sie so oder anders sind, ist bloß Erscheinung. Tatsächlich sind Sie die Wirklichkeit. Sie sind, was allem Verwirklichten verliehen ist, ohne ihm jemals zu gehören.

5. Selbstbestimmung

Die Ursache neurotischen Leids ist stets ein Nicht-Erkennen oder ein Nicht-Anerkennen dessen, was tatsächlich wahr ist. Neurotisches Leid ist Leid durch falsche Bilder.

Während Identifikation mit dem Ego neurotisches Leid verursacht, ist Selbst­bestimmung das, was aus neurotischem Leid entlässt. Selbstbestimmung heißt zweierlei:

  1. festzustellen, was man selbst tatsächlich ist.
  2. dem Festgestellten die Stimme zu geben, die ihm zusteht.

Das Selbst nimmt wahr, was ist. Das Ego will bestimmen, wie die Welt sein soll. Das Selbst ruht in sich und sieht zu. Es bestimmt sich durch Wahrnehmung. Es wirkt durch Sosein. Es wirkt, indem es Wahrheit Anerkennung verschafft. Das Ego urteilt und greift ein, sobald die Welt nicht seinen Wünschen entspricht. Es wirkt, indem es festlegen will, was als wahr zu gelten hat. Um der Herrschaft des Egos zu entrinnen, muss man den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit verschieben: weg von dem, was zu bedenken, zu beurteilen, zu bewerten, willkürlich zu steuern und zu verändern ist, hin zu dem, was wahrgenommen werden kann. Das Selbst erkennt die Wirklichkeit an, weil es das Subjekt der Wirklichkeit stellt.

Es gibt sinnlich und unmittelbar Wahrnehmbares. Das sinnlich Wahrnehmbare informiert über Ereignisse der äußeren Welt, das unmittelbar Wahrnehmbare über die innersee­lische Dynamik des Ich. Unmittelbar wahrnehmbar sind Gedanken, Gefühle und Impulse.

Das unmittelbar Wahrnehmbare ist noch nicht das absolute Selbst. Das absolute Selbst ist der Raum, in dem das unmittelbar Wahrnehmbare (das relative Selbst) geschieht. Das relative Selbst kann als Übergang zwischen Ego und absolutem Selbst aufgefasst werden. Je ungetrübter ich das, was ist, so wahrnehme, wie es ist, ohne es zu bewerten oder Absichten zu unterwerfen, desto mehr verlagert sich das Zentrum meiner erlebten Identität ins absolute Selbst hinein.

Alles, was geschieht, geht gerade vorüber. Alles, was nicht vorübergeht, ist absolutes Selbst. Es geschieht nicht. Es ist.

Praktische Möglichkeiten

Am nächsten ist man sich, wenn man nicht mehr glaubt, etwas Bestimmtes zu sein.
5.1. Spirituelle Wege

Verschiedene spirituelle Traditionen führen den Prozess der Des-Identifikation vom Ego als meditative Technik konsequent zu Ende. In der Meditation versucht man, sich von der Anhaftung ans Ego zu lösen. Dazu übt man, die Inhalte des relativen Selbst - also Gedanken, Gefühle und Impulse - als flüchtige Formen einer fundamentalen Wirklichkeit zu betrachten, die als formgebende Leere verstanden wird. Man deutet die Folge der Wahrnehmungen als Reigen bunter Bilder, als Spiele der Wirklichkeit, die kommen und gehen, ohne dass eines der Bilder das Wesentliche des eigenen Selbst umfasst. Ich bin das alles und doch nichts von alledem.

Zunächst gelangt man in eine Geisteshaltung, aus der heraus man den Interessen der eigenen Person keine größere Bedeutung mehr beimisst, als den Interessen anderer. Man erlebt die Welt nicht mehr aus der Sicht eines Mitspielers, der gegen die anderen seinen Vorteil sucht, der bangt, hofft, konkurriert, kämpft und sich verweigert, sondern aus der Sicht eines Zuschauers, der keinerlei Partei ergreift.

Gelingt es, das Bewusstsein vollständig aus der Identifikation mit unmittelbaren Wahrnehmungen und Urteilen zu lösen, erreicht man die Schwelle zu einer Stille, die innerhalb, vor und jenseits aller Formen liegt.

Da zum Gewahrsein der Stille kein vom Umfeld getrennter Willensentscheid gehört, ist der Schritt über die Schwelle nicht machbar. Geschieht er, wird das als Gnade erlebt. Jenseits der Schwelle ist das Ich mit dem Sein identisch ohne eigentlich noch Ich zu sein. Das Formlose hat sein Wesen entdeckt. Nach der Rückkehr ins Feld flüchtiger Formen kennt es reine Dankbarkeit.

5.2. Experimentelle Identifikation

Als fruchtbarer Gegensatz zur Des-Identifikation durch Meditation kann die experimen­telle Identifikation angewandt werden. Dabei handelt es sich um eine Technik der Selbsterkenntnis, die in unterschiedlicher Form von verschiedenen Therapieschulen und therapeutischen Ansätzen (⇗Gestalttherapie, ⇗Psychodrama, ⇗Familienaufstellung) angewandt wird.

Experimentelle Identifikation

Während sich das Ich bei der Des-Identifikation seiner Mäntel entledigt, um der nackten Wahrheit beizukommen, probiert es bei der experimen­tellen Identifikation neue Mäntel aus. Dadurch fühlt es sich in bisher unentdeckte Aspekte des eigenen Daseins ein. Oder es lernt die Welt aus der Sicht anderer kennen.

So können im Rollenspiel soziale Konflikte nachgestellt und die Sicht­weisen der Konfliktgegner durch Rollentausch nachempfunden werden.

Bei der Stuhlarbeit im Rahmen einer Gestalttherapie werden innerseelische Konflikte durch Polarisierung verdeutlicht. Ist mir unklar, ob ich Anna heiraten oder nach St. Helena in See stechen sollte, kann ich mich abwechselnd mit einem Bräutigam und einem Seemann identifizieren, um den Konflikt durch Eskalation zu lösen. Dazu gilt es, sich möglichst tief in das jeweilige Bild einzufühlen.

Auch beim Verständnis von Träumen hilft experimentelle Identifikation. Dabei wird der Trauminhalt nicht durch assoziative Ideen gedeutet, sondern der Träumer fühlt sich in die Figuren und Elemente des Traumes ein. Dadurch nimmt er abgespaltene Anteile in sein Selbstbild auf.

Beispiel

Ich habe geträumt, wie ich mich auf der Flucht vor einer Schlange durch einen Sprung über den Abgrund gerettet habe und schließlich auf einem Baum saß. Ich identifiziere mich nacheinander mit der Schlange, dem Abgrund und dem Baum.

Empfand ich den Traum zunächst nur aus der Sicht dessen, der flüchtet, verstehe ich ihn nun aus der Sicht seiner verschiedenen Elemente. Die experimentelle Identifikation kann auch als integrative Identifikation bezeichnet werden.