Dissoziative Störungen


  1. Gemeinsamer Nenner der dissoziativen Störungen
  2. Wichtige dissoziative Störungen
  3. Verwandte Störungen
  4. Ursachen und Auslöser
  5. Therapie
  6. Selbsthilfe
Je mehr ein Umfeld das Individuum missachtet und je abhängiger das Individuum von diesem Umfeld ist, desto eher wird der Preis seiner Zugehörigkeit eine seelische Erkrankung sein.

1. Gemeinsamer Nenner der dissoziativen Störungen

Der gesunde Mensch erlebt sich als Einheit der verschiedenen Bestandteile seiner Selbstwahrnehmung. Er deutet sein Ich als Verbund seiner Empfin­dungen und Wahrnehmungen, seiner Gedächtnisinhalte, Gedankengänge, Impulse, Ent­scheidungen und Willkürbewegungen. Er definiert seine Identität als ununterbrochene Abfolge zusammengehöriger Daseinsweisen, die in den Kontext der Umwelt eingebettet ist.

Dissoziiert (von lateinisch dissociare = trennen, spalten, auflösen) nennt man eine Selbstwahrnehmung, bei der dieser Zusammenhang verloren gegangen ist. Die integrative Funktion des Bewusstseins ist während solcher Zustände außer Kraft gesetzt, sodass der Kranke von einer oder mehreren Ebenen seiner persönlichen Identität nichts mehr weiß. Der dissoziierte Modus macht sich selbständig. Er führt ein Eigenleben.

Im Gegensatz zu den Ich-Störungen, die insbesondere für schizophrene Psychosen charakteristisch sind, wird die Funktion des betreffenden Modus aber nicht als von außen bewirkt bzw. beeinflusst erlebt.

Dissoziative Störungen gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO

Name ICD Abgespaltene Modi
Dissoziative Amnesie F44.0 Gedächtnis­inhalte
Dissoziative Fugue F44.1 Gedächtnis­inhalte, Handlungs­entscheidungen, Kenntnis der persönlichen Position im Lebenskontext
Dissoziativer Stupor F44.2 Willkür­bewegungen
Trance- und Besessen­heits­zustände F44.3 gesamtes psychomo­torisches Verhalten
Dissoziative Bewegungs­störungen F44.4 Willkür­bewegungen, Handlungs­entscheidungen
Dissoziative Krampfanfälle F44.5 Willkür­bewegungen, Handlungs­entschei­dungen
Dissoziative Sensibilitäts­störungen F44.6 Leibliche Empfindungen, Sinneswahr­nehmungen
Multiple Persönlich­keits­störung F44.81 Teilaspekte der Persönlichkeit
Transitorische dissoziative Störungen in Kindheit und Jugend F44.82 verschiedene

Transitorisch: Im Rahmen von Reifungskrisen in Kindheit und Jugend kommt es gehäuft zu vorübergehenden psychischen Turbulenzen, die sich nicht zu fortdauernden Erkrankungen verfestigen.

2. Wichtige dissoziative Störungen

2.1. Dissoziative Amnesie

Bei der dissoziativen Amnesie kommt es zu ausgestanzten Erinnerungslücken, die sich meist auf peinliche, erschütternde oder traumatisierende Ereignisse beziehen. So kann sich der Betroffene nach Unfällen, nachdem er gedemütigt oder misshandelt wurde, nachdem er Opfer einer Straftat geworden ist oder selbst etwas Verbotenes tat, nicht mehr an Details der Ereignisse erinnern. Oder er vergisst das Ereignis überhaupt.

Fließende Übergänge bestehen zu Erinnerungsverfälschungen. Dabei besteht zwar eine Erinnerung an das Ereignis, die erinnerten Details erscheinen jedoch ebenso stark subjektiv verzerrt, wie die Deutung des Erlebten insgesamt. Untersuchungen zeigen, dass bereits die normale Gedächtnisfunktion Inhalte keineswegs objektiv abspeichert. Je länger Erlebtes zurückliegt, desto mehr verdichtet das Gedächtnis es zu einer individuellen Version, die stark von den Versionen anderer abweichen kann. Dabei scheint Verdrängung eine große Rolle zu spielen.

2.2. Dissoziative Fugue

Der Betroffene einer dissoziativen Fugue bricht plötzlich aus einer alltäglichen Situation aus und macht sich auf den Weg nach sonst wohin. Er verlässt Wohnung oder Arbeitsplatz und wundert sich Stunden oder Tage später, wie er an die Stelle kam, an der er wieder "zu sich kommt". Dabei vollzieht der Kranke von außen betrachtet ganz normale Handlungsabfolgen. Während der Reise kann sowohl die Erinnerung an seine Vergangenheit als auch an seine aktuelle Lebenssituation abgespalten sein. Im Nach­hinein besteht Amnesie für den Hergang der Fugue und die Motive, die zum Aufbruch führten.

2.3. Dissoziativer Stupor

Beim dissoziativen Stupor verfällt der Kranke in einen Zustand geistesabwesender Bewegungslosigkeit, an den er sich danach nur verschwommen erinnern kann. Während des Zustands reagiert er kaum auf äußere Reize.

2.4. Trance- und Besessenheitszustände

Trance- und Besessenheitszustände kommen spontan vor oder sie werden im Rahmen meist archaischer religiöser Praktiken herbeigeführt bzw. simuliert. Nur ungewollt entstehende Zustände gelten als krankhaft. In der Trance erlebt der Betroffene einen Verlust seiner persönlichen Identität sowie eine eingeschränkte Wahrnehmung der Umgebung. Besonders im Rahmen religiöser Praktiken wird der Verlust des persönlichen Identitätsgefühls als Besessenheit durch einen fremden Geist gedeutet.

2.5. Dissoziative Bewegungsstörungen
Ataxie, Apraxie, Akinese, Aphonie, Dysarthrie, Dyskinesie, Parese: all das kann neurologisch bedingt sein... oder psychogen dissoziativ.

Risiko

Sind bei einem Patienten dissozia­tive Störungen bekannt, entstehen spezifische Risiken. Der Patient riskiert im Falle einer aufkommenden neurologischen Erkrankung nicht ernst genommen zu werden. Der Arzt riskiert einen Kunstfehler, wenn er im Glauben, auch das sei psychogen, rettende Maßnahmen unterlässt.

Bei den dissoziativen Bewegungsstörungen kommt es zu "Lähmungen" oder vermeintlich unwillkürlichen Bewegungen einzelner Körperglieder, die sich der Kranke nicht erklären kann.

2.6. Dissoziative Krampfanfälle

Dissoziative Anfälle ahmen körperlich begründete, epileptische Anfälle nach. Allerdings kommt es kaum je zu den typischen Begleiterscheinungen echter Krampfanfälle, wie Zungenbiss, Einnässen oder Einkoten. Auch Verletzungen sind sehr selten.

Zu den dissoziativen Anfällen ist ebenfalls ein bestimmter Typus von Kollapsneigung zu rechnen, der heute selten geworden ist. In viktorianischen Zeiten fiel so manche Dame in Ohnmacht, wenn ein peinliches Thema aufkam, das mit seinerzeit stark tabuisierten Trieben in Verbindung stand. Der Verkauf von Riechfläschchen, der damals florierte, ist heute kein Geschäft mehr; und uns bleibt es erspart, zur Rettung kollabierender Damen mit dem Ruf nach einem Riechfläschchen das zungenbrechende Potenzial von drei verketteten Zischlauten zu erleiden.

2.7. Dissoziative Sensibilitätsstörungen

Dissoziative Sensibilitätsstörungen treten als Taubheitsgefühl oder Kribbeln in unter­schiedlichen Hautarealen auf oder sie betreffen die Funktion einzelner Sinnesorgane. Es kommt zu Seh- oder Hörverlust. Der Kranke kann plötzlich nichts mehr riechen oder schmecken.

2.8. Multiple Persönlichkeit / Dissoziative Identitätsstörung

Bei der multiplen Persönlichkeit lebt der Kranke zu verschiedenen Zeiten verschiedene Rollen aus, ohne dass er die Eigenschaften dieser Rollen einer einzigen - widersprüch­lichen - Gesamtpersönlichkeit zuordnet. Während der gesunde Mensch weiß, dass er je nach Situation und innerem Werturteil lieb oder böse, pflichtbewusst oder gleichgültig, prüde oder sinnenfroh sein kann, geht das Bewusstsein der Widersprüchlichkeit bei der dissoziativen Identitätsstörung verloren. Die multiple Persönlichkeit deutet sich nicht als ein Sowohl-als-auch. Sie kennt sich nur als Entweder-oder.

Die verschiedenen Teilpersönlichkeiten ordnen sich meist Namen zu, so als gäbe es tat­sächlich zwölf Seelen in einer Brust. Dann ist heute die pflichtbewusste Annegret am Werk, morgen die verruchte Chantal und übermorgen die boshafte Käthe. Was aller­dings fehlt, ist eine konstante Persönlichkeitsinstanz, die Verantwortung für die Taten der Teilpersönlichkeiten übernimmt.

3. Verwandte Störungen

Parallelen zu den dissoziativen Störungen weisen zwei weitere Krankheitsbilder auf, die in der ICD-Klassifikation aber nicht dem gleichen Kapitel zugeordnet werden.

Störungen mit Bezug zur Dissoziation gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO

Name ICD Grundmuster
Depersona­lisation
Derealisation
F48.1 Entfremdungs­erlebnisse
Histrionische Persön­lichkeits­störung F60.4 Neigung zu dissoziativen Mustern im Rahmen einer Persön­lichkeits­störung

3.1. Depersonalisation / Derealisation

Bei der Depersonalisation kommt es zu einem Gefühl der Entfremdung gegenüber dem eigenen Körper oder der seelischen Selbstwahrnehmung. Die Betroffenen empfinden sich als Ganzes unwirklich, wie distanziert von sich selbst, ohne dass sie einen Teilas­pekt ihrer selbst als konkret verändert wahrnehmen. Eigentlich ist alles wie immer, nur dass es irgendwie merkwürdig ist. Solche Zustände können heftige Ängste hervorrufen, vor allem die Angst, verrückt zu werden; die sich ihrerseits bis zur Panik steigern kann.

Bei der Derealisation bezieht sich das Empfinden von Fremdheit und Distanz auf die Außenwelt. Unterwegs in der Stadt wirken die Dinge befremdlich, unwirklich, entrückt oder fassadär, ohne dass sich an den Details erkennbar etwas geändert hätte.

3.2. Histrionische Persönlichkeitsstörung

Was die histrionische Persönlichkeitsstörung in die Nähe der dissoziativen Störungen rückt, ist die Häufung dissoziativer Symptome, die bei hysterischen Persönlichkeiten zu beobachten ist. Dazu zählen die sogenannten Konversionssymptome, also pseudoneu­rologische Phänomene, die sich auf körperlicher Ebene manifestieren und auf den ersten Blick so aussehen als liege eine neurologische Ursache vor; zum Beispiel eine Nervenbahnschädigung, eine Epilepsie oder ein Schlaganfall. Tatsächlich sind es aber dissoziative Bewegungs-, Empfindungs- und Sensibilitätsstörungen oder dissoziative Anfälle.

4. Ursachen und Auslöser

Zwillingsstudien belegen, dass es eine angeborene Neigung gibt, mit dissoziativen Symptomen auf seelische Belastungen und ungelöste Konflikte zu reagieren. Diese ge­netische Anlage geht oft Hand in Hand mit Charaktermustern, die einer histrionischen Persönlichkeit zugeordnet werden können. Dazu gehören:

Neben einer dissoziativen Grundbereitschaft spielen als konkrete Auslöser emotionale Belastungen im Rahmen seelischer und zwischenmenschlicher Konflikte eine Rolle, vor allem wenn es der betroffenen Person nicht gelingt, im psychologischen Grundkonflikt einen tragfähigen Kompromiss zu finden. Da dissoziative Störungen oft durch zwischen­menschliche Konflikte ausgelöst werden, wirken sie zuweilen demonstrativ, appellativ oder manipulativ. Es hat dann den Anschein, als solle die Symptombildung im Interesse des Kranken etwas bewirken, was dieser nicht offen anzustreben wagt.

4.1. Seelische Traumata

Eine besondere Rolle bei der Entstehung dissoziativer Stö­rungen kommt unverarbeiteten Traumata zu. Unver­arbeitet ist ein Trauma, wenn der Traumatisierte die Gefühle, mit denen er auf das traumatische Ereignis reagierte, nicht zu Ende erlebt hat. Ein solches Abbrechen des heilenden Erlebniszyklus kommt vor allem vor...

Da beide Bedingungen vor allem für Säuglinge und Kleinkinder gelten, sind es vor allem frühkindliche Traumata, die als Ursprung dissoziativ-neurotischer Entwicklungen zu vermuten sind.

4.2. Pränatale Einflüsse

Bislang wenig erforscht ist der Zusammenhang vorgeburtlicher Einflüsse auf das ungeborene Kind und späteren psychiatrischen Erkrankungen. Das gilt auch für dissoziative Störungen, als deren mögliche Ursache verschiedentlich pränatale Traumata diskutiert wurden (Hochauf, Renate 2008)Zur Spezifik pränataler Traumatisierungen und deren Bearbeitung in der Therapie, Int. J. of Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine . Dabei ist zum Beispiel an Abtreibungsversuche, schwere Erkrankungen der Mutter oder andere Schwangerschaftskomplikationen zu denken.

Psycho­edukation

Was Sie erleben, ist nicht wirklich gefährlich.


Psychotherapie

Bleiben Sie bei Ihren Gefühlen, bis sie von selbst verebben.


Selbsthilfe

Bleiben Sie im Jetzt. Dort gehört alles zu allem.


Heilung

  1. Gefühle erleben
  2. Fakten anerkennen

5. Therapie

Nach Ausschluss körperlicher Ursachen kommt die entscheidende Rolle bei der Behandlung dissoziativer Symptome der Psychotherapie zu. Häufig befürchtet der Kranke, an einer bedrohlichen körperlichen Erkrankung zu leiden oder verrückt zu werden. Zunächst gilt es daher, ihn über die grundsätzliche Ungefährlichkeit der Störung zu informieren. Das nennt man Psychoedukation.

Bei der eigentlichen Psychotherapie werden die Auslöser der konkreten Symptom­bildung untersucht und die zugehörigen innerseelischen Konflikte analysiert. Tau­chen dabei unverarbeitete Traumatisierungen auf, zum Beispiel Gewalterfahrungen oder sexueller Missbrauch in der Kindheit, sind diese therapeutisch so lange zu bearbeiten, bis die abgespaltenen Scham- oder Schuldgefühle in ein bejahendes Selbstbild eingebunden sind.

Belege für eine Wirksamkeit von Psychopharmaka sind spärlich. Immerhin gibt es Hinweise, dass bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung Naltrexon helfen kann und Paroxetin bei Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungs­störung wirkt.

Heilender Erlebniszyklus
Erlebnisse können zu schwerwiegenden Erschüt­terungen führen; vor allem, wenn das Erlebnis Wert und Lebensrecht des Betroffenen infrage stellt. Auf solche Erlebnisse reagiert die Psyche mit Gefühlen: Angst, Wut, Hass, Scham oder Schuldgefühlen. Aufgabe der Gefühle ist die Heilung des Traumas. Durchlebt der Traumati­sierte die Gefühle ungehindert, führt das zu einer seelischen Entwicklung deren Resultat ein gestärk­tes Selbstwertempfinden auf der Basis höherer Bewusstheit und gereifter persönlicher Autonomie ist. Wird der Erlebniszyklus abgebrochen, kommt es zu einer neurotischen Störung.

6. Selbsthilfe

Manche dissoziativen Störungen gehen mit starker Angst einher. Das gilt insbesondere für die Depersonalisation und die Derealisation. Dann sind Maßnahmen zur unmittel­baren Selbsthilfe nützlich.

Grundprinzip dieser Maßnahmen ist es, eine Verschmelzung des dissoziativ unterbrochenen Selbsterlebens herbeizufüh­ren. Dazu geeignet sind Strategien, die die Aufmerksamkeit ins Hier-und-Jetzt bündeln; vor allem starke Reizung der verschiedenen Sin­nesorgane.

Geeignet ist ein Schmerzreiz natürlich nur, wenn man sich dabei keinen objektiven Schaden zufügt. Die Selbstverletzungen durch Messer, Glasscherben oder brennende Zigaretten, die sich Pat­ienten mit Borderline-Störung oder Psychosen zufügen, mögen ebenfalls eine Selbst­hilfe sein, um quälende Gefühlszustände zu beenden, eine geeignete Selbsthilfe sind sie aber nicht, weil die Selbstverletzung und ihre langfristigen Spuren das Selbstwertgefühl untergraben.

Reizung und Verlockung

Nicht nur die intensive Reizung der Sinnesorgane kann helfen, sondern auch die Verlockung des Angenehmen an sich.

Die Reizung der Sinnesorgane ist in der akuten Krise ein Mittel kurzfristiger Ent­lastung. Darüber hinaus sollten Betroffene generell eine intensive sinnliche Erfahrung ihrer Umgebung einüben. Je mehr Details man von der Welt erkundet, desto mehr erkennt man sie als ein zusammenhängendes Gewebe, aus dem nichts abzuspalten ist.