ADHS / Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung


  1. Symptome
    1. 1.1. Überlappungen
    2. 1.2. Varianten
    3. 1.3. Diagnostik
    4. 1.4. Bedingungen
  2. Ursachen
  3. Häufigkeit und Verlauf
  4. Psychosoziale Prozesse
    1. 4.1. Vom Scheitern zum Erfolgsdruck
    2. 4.2. Aufmerk­samkeits­defizite
    3. 4.3. Fatales Zusammenspiel
  5. Gesellschaftliche Faktoren
  6. Lösungsstrategien
    1. 6.1. Psychotherapie
    2. 6.2. Medikamentöse Behandlung
      1. 6.2.1. Methylphenidat
      2. 6.2.2. Atomoxetin
      3. 6.2.3. Amphetamine
    3. 6.3. Selbsthilfe

Flüchtigkeitsfehler

Flüchtigkeitsfehler entstehen, weil man zu schnell am Ziel sein will. Man tut nicht, was für das Erreichen des Ziels notwendig ist, sondern flüchtet durch kopfloses Tun aus einem Jetzt, das man für ungenügend hält. Wer möglichst schnell möglichst viel Erfolg will, scheitert daran, das Mögliche für sich zu nutzen.

1. Symptome

Das Kernsymptom der ADHS ist die mangelnde Einbindung der psychischen Präsenz in den Ereigniszusammenhang des Hier-und-Jetzt. Statt dem Hier-und-Jetzt jene Beachtung zu schenken, die Grundlage erfolgreichen Handelns ist, ist der ADHS-Erkrankte im Geiste bereits in einem Dort-und-Dann, in dem vermeintlich alles besser wird.

Dieses Dort-und-Dann ist weder ein echter Ort noch eine echte Zukunft. Es ist ein Gemenge verschwommener Vorstellungsbilder, die der Kranke von Ort und zukünftiger Zeit im Kopfe trägt. Der Erkrankte ist so vom angestrebten Resultat seines Tuns besessen, dass er in wechselnder Ausprägung vier Dinge tut:

  1. Bei dem, was er tut, beeilt er sich.
  2. Er überlässt sich jedem Impuls, der ihm Erfolg verspricht.
  3. Er versucht, mehrere Schritte gleichzeitig zu tun oder Etappen zu überspringen.
  4. Statt in der Wirklichkeit zu tun, was zum Ziel führt, träumt er davon, bereits dort zu sein.

Daraus ergeben sich gemäß DSM-IV (Diagnose-Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung) drei Gruppen typischer Folgesymptome:

  1. Aufmerksamkeitsdefizit

    • Mangelnde Achtsamkeit gegenüber Details
    • Flüchtigkeitsfehler
    • Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit über längere Zeit auf ein Thema zu bündeln
    • Unachtsamkeit beim Zuhören
    • Vorzeitiges Abbrechen von Aufgaben
    • Schwierigkeit beim Organisieren und Planen von Aktivitäten
    • Abneigung gegen Aufgaben, die länger dauernde geistige Anstrengung erfordern
    • Verlieren und Verlegen benötigter Gegenstände
    • Gesteigerte Ablenkbarkeit sowohl durch Außenreize als auch durch gedankliche Assoziationen und Einfälle
    • Vergesslichkeit bezüglich Alltagstätigkeiten
    • Vergessen von Verabredungen
  2. Hyperaktivität

    • Zappeln mit Händen und Füßen; Sitzunruhe
    • Nervöses Nägelkauen
    • Ziellose Beschäftigung der Hände (Büroklammern verbiegen)
    • Aufstehen in Situationen, in denen Sitzenbleiben passender wäre
    • Unangemessenes Herumlaufen
    • Sich leise beschäftigen fällt schwer / unnötiges Lärmen
    • Häufig auf Achse / wirkt wie aufgezogen
    • Exzessives Reden
    • Entspannung durch Sport
    • Ungeduld und Reizbarkeit bei erzwungener Inaktivität
    • Paralleler Beginn mehrerer Aktivitäten
  3. Impulsivität

    • Herausplatzen mit der Antwort, bevor die Frage beendet wurde
    • Nicht warten können, bis man an der Reihe ist
    • Häufiges Unterbrechen und Stören anderer
    • Risikoverhalten im Straßenverkehr
    • Kopflose Entscheidungen
    • Vorschnelle Einkäufe, die nachher als sinnlos bereut werden
    • Mangelnde Affektkontrolle
    • Kommunikation unter Einfluss unkontrollierter Affekte
    • Beziehungskonflikte
1.1. Überlappungen

Viele Patienten mit ADHS leiden zusätzlich unter Symptomen, die anderen Diagnosen zugeordnet werden können. Man spricht dann von einer Komorbidität, also dem gemeinsamen Auftreten mehrerer Krankheiten.

Was mit der ADHS gemeinsam vorkommt
oder
mit ihr verwechselt werden kann


Weitere Komorbiditäten

  • Schlafstörungen
  • Einnässen
  • Neurodermitis
  • Tic-Störungen
  • Legasthenie
  • Dyskalkulie / Rechenschwäche

Da sich die diagnostischen Merkmale psychiatrischer Krankheits­bilder oft überlappen, ist zuweilen schwer zu entscheiden, welche Erkrankung man überhaupt feststellt. Krankheitsbilder, die so ähnlich aussehen können wie eine ADHS, bezeichnet man als ihre Differenzial­diagnosen.

1.2. Varianten

Nicht alle Betroffenen leiden unter der gleichen Mischung an Symptomen. Man unterscheidet drei Varianten:

  1. Vorwiegend Aufmerksam­keits­störung
  2. Vorwiegend hyperaktiv und impulsiv
  3. Mischtyp

Grundsätzlich gilt: Hyperaktiv-impulsive Bilder sind bei Kindern häufiger. Bleibt die Störung bis ins Erwachsenenalter bestehen, geht die Impulsivität oft zurück. Die Störung der Aufmerksamkeit tritt in den Vordergrund. Bei Vorliegen eines deutlichen Aufmerk­samkeitsdefizits ohne wesentliche Hyperaktivität spricht man von einer ADS (Aufmerksamkeits­defizitstörung).

1.3. Diagnostik

Im Regelfall ist es nicht schwer, die Symptomatik einer ADHS zu erkennen. Ein begründeter Anfangsverdacht besteht, wenn in einem oder mehreren der oben genannten Symptomfelder deutliche Auffälligkeiten bestehen, die bis in die Kindheit zurückreichen. Ein spielerischer Test kann den Verdacht untermauern.

Zur weiteren Objektivierung liegen umfangreiche Fragebögen vor, die die gleichen Symptomgruppen abdecken:

1.4. Bedingungen

Nicht jedes Zustandsbild, das von Konzentra­tionsstörungen und Antriebssteigerung geprägt ist, ist einer ADHS zuzuordnen. Vier Bedingungen sollten erfüllt sein:

  1. Das Leiden besteht seit der Kindheit.
  2. Es tritt nicht nur bei besonderem Stress auf, sondern auch bei alltäglichen Tätigkeiten.
  3. Andere Ursachen, zum Beispiel eine Überfunktion der Schilddrüse oder Substanzeinfluss, sind ausgeschlossen.
  4. Es führt zu starken Problemen in Beziehungen und Arbeitswelt.

2. Ursachen

Vermutlich ist die ADHS keine einheitliche Erkrankung, sondern eine Gruppe von Störungen mit ähnlichen Symptomen. Zwillingsstudien belegen, dass anlagebedingte Faktoren eine große Rolle spielen. Mindestens ebenso groß ist der Einfluss familiärer Konflikte, elterlicher Verhaltens­auffälligkeiten und auseinanderbrechender Kleinfamilien. Untersuchungen zufolge steigt das Risiko, eine ADHS zu entwickeln, durch psychosoziale Belastungen in der Kindheit und Kommunikationsstörungen von Seiten der Eltern auf das Vielfache an.

Zivilisationskrankheit
Die Figur des Zappelphillip aus dem Kinderbuch Struwwelpeter gilt als Parade­beispiel eines Jungen mit ADHS. Offen­sichtlich gab es das Phänomen schon früher. Immer wieder ist jedoch zu hören, dass die Zahl der Betroffenen zunimmt. Ist die ADHS also eine Mode­diagnose? Wahrscheinlich nicht!

Menschen, denen es schwerfiel, sich stillsitzend auf eine Sache zu konzentrieren, gab es immer. Früher fielen sie aber weniger auf; denn früher gab es für motorisch aktive Menschen mehr zu tun. Man rackerte sich auf dem Feld ab, schleppte die Einkäufe zu Fuß nach Hause, schwang in der Schmiede den Hammer und wer im Winter nicht frieren wollte, musste die Kohlen eigenhändig in den Keller schippen; oder sogar Holz hacken. Die lebhafte Motorik hatte viel zu tun. Sie tobte sich an den physikalischen Widrigkeiten des Daseins aus.

Heute werden physikalische Widrigkeiten von Motoren beseitigt. Stattdessen nehmen komplex-zivilisatorische Widrigkeiten überhand, und fast jeder wird durch die Umstände dazu angehalten, aufmerksame Kopfarbeit zu leisten. Um im Leben seinen Platz zu finden, reicht eine handvoll Volksschuljahre nicht mehr aus. Außer im Sport gibt es wenig, was man motorisch erreichen kann. Umso mehr muss man sich in einer zunehmend komplizierten Welt selbst organisieren. Da fällt es auf, wenn man so etwas nicht gut kann.

3. Häufigkeit und Verlauf

In der Regel beginnt die Erkrankung in der frühen Kindheit oder spätestens im Jugend­alter. Etwa 4-5 % der Kinder sind betroffen. Ging man früher davon aus, dass sich die ADHS grundsätzlich auswächst, weisen neue Untersuchungen darauf hin, dass bei knapp der Hälfte Symptome bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Allerdings schwächen sie sich oft ab.

4. Psychosoziale Prozesse

Den drei Symptomgruppen der ADHS (Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität), liegt ein gemeinsames Kernsymptom zugrunde: Die mangelhafte Orientierung der individuellen Verhaltenssteuerung am situativen Ereigniszusammenhang.

Hinter dem Mangel an Aufmerksamkeit steht der Hunger nach Beachtung. Auf dem Weg zu Erfolg und Anerkennung hat es der Kranke eilig. Je mehr er sich beeilt, desto öfter stolpert er. Je öfter er stolpert, desto langsamer kommt er voran. Je langsamer er vorankommt, desto mehr beeilt er sich, den Rückstand aufzuholen. Auf der Jagd nach dem Glück bleibt keine Zeit, sich auf das Hier-und-Jetzt zu konzentrieren.

Vermutlich ist der Ausgangspunkt des Krankheitsgeschehens eine gene­tisch bedingte Normvariante des individuellen Grundmusters der Wahrneh­mungs- und Handlungsbereitschaft. ADHS-gefährdete Kinder gehen meist rasch auf das zu, was ihre Aufmerksamkeit erregt und lassen ebenso rasch davon ab, falls etwas Neues im Blickfeld auftaucht. Zunächst mag dieses Muster bloß ein Experiment der Natur sein, womit sie untersucht, ob rasch entschlossenes Handeln trotz flüchtiger Wahrnehmung bei der Eroberung der Welt nicht mehr Erfolg als durchdachte Planung verspricht.

Erst beim Aufeinandertreffen dieses Grundmusters mit dem jeweiligen Kommunikationsklima des Umfelds und dessen wirtschaftlichen Strukturen entscheidet sich, ob sich daraus eine handlungs­orientierte Persönlichkeit mit impressionistischem Wahrnehmungsstil entwickelt oder ein Mensch, der sich psychosozial schlecht integriert.

Gegensätzliche Muster
Im Spektrum der Verhaltens­möglichkeiten ist ein Gegenpol zum ADHS-Muster erkennbar: Anankasmus. Die anankastische Persönlich­keit überspringt beim Handeln keine Details, sondern beachtet sie so eingehend, dass sie kaum noch von der Stelle kommt. Statt Impulsen bedenkenlos zu folgen, haftet sie dermaßen an dem, was ihre Aufmerksamkeit gebunden hat, dass spontane Impulse im Ansatz ersticken. Auch bei der Impulsivität macht die Dosis das Gift. Zu viel führt ins Chaos, zu wenig zu Stillstand.
4.1. Vom Scheitern zum Erfolgsdruck

Maßgeblich beteiligt an der pathologischen Entgleisung sind der Psychologische Grund­konflikt und die Selbstwertregu­lation. Ein impulsives Kind konzentriert seine Aufmerksamkeit kürzer als andere auf die Gegenwart, in der sich jene Details befinden, deren Beachtung ihm eine erfolgreiche Teilnahme am Gemeinschaftsleben erleichtern würde. Wie Hans-guck-in-die-Luft ist es im Geiste nicht mehr da, wo Probleme zu lösen sind, sondern dort, wo man die Lösung der Probleme bereits feiert oder wo ein neuer Reiz rasche Begeisterung verspricht.

Dementsprechend macht es bei der Erledigung von Aufgaben Flüchtigkeitsfehler oder es bricht den Versuch, zeitraubende Projekte zu Ende zu bringen, vorzeitig ab, da ihm die Geduld fehlt, sich an einer komplizierten Aufgabe abzumühen. Wenn Erfolg auf sich warten lässt, fängt es lieber etwas Neues an. Wegen der Eile und Beiläufigkeit, mit der es Aufgaben lösen will, kommt das häufiger als bei achtsamen Kindern vor.

Kärrnerarbeit

Die Arbeit des Kärrners ist die Arbeit des Karren­ziehers. Bevor gebaut wird, zieht der Kärrner Karren mit Baustoffen herbei. Wird Richtfest gefeiert, ist der Kärrner vergessen. Kärrnerarbeit geschieht abseits des Beachteten. Das ist nicht verlockend.

Je mehr Aufgaben schlecht oder gar nicht gelöst werden, desto weniger Lob und umso mehr Kritik bekommt das Kind. Da mangelnde Bestätigung und wachsende Kritik die Angst vor dem Verlust der Zugehörigkeit schüren, wächst der Drang, möglichst rasch Erfolge vorzuweisen. Je kopfloser es aber dem Erfolg entgegendrängt, desto unachtsamer wird es, desto weniger Geduld hat es zuzuhören, desto impulsiver platzt es mit Antworten heraus, desto weniger will es die Kärrnerarbeit des Organisatorischen bewältigen und desto mehr unterbricht und stört es andere.

Da ein solches Kind selbst einem hartgesottenen Umfeld oft mehr Geduld abverlangt, als das Umfeld bereit ist zu geben, wird der Riss zwischen ihm und dem Kontext größer. Je größer der Riss wird, desto unbehaglicher empfindet das Kind die Gegenwart. So entsteht ein psychologischer Teufelskreis: Beim Versuch, möglichst bald in einem Kontext eingebettet zu sein, in dem es so, wie es ist, empfangen wird, setzt es sich über den Kontext hinweg und provoziert damit dessen Widerstand.

Flucht vor bedrückender Wirklichkeit

Nicht jeder Teufelskreis fängt mit der Verhaltensproblematik des Kindes an. Oft ist das Kind zunächst bloß lebhaft. Viele Kinder werden aber in familiäre Felder hineingeboren, deren Strukturen nur wenig Geborgenheit bieten.

Die Eltern sind zerstritten und vom Alltag überfordert. Der Vater trinkt und ist arbeitslos. Das Wohnzimmer wird von einem Bildschirm beherrscht, durch den sich Doku-Soaps und Actionknaller in den Raum ergießen. Wiederholt trennen sich die Eltern oder ein neuer Partner zieht ein. Die Mutter kommt aus der Kli­nik zurück. An der Haustür klingelt das Jugendamt. Vor dem Fenster rauscht Dauerverkehr. In der Nachbarschaft lebt ein Prekariat, das keine Ahnung davon hat, wie es je zu einer integrierten Gemeinschaft zusammenfinden soll.

Die ADHS des Kindes ist hier als Fluchtversuch zu verstehen.

Der Fluchtversuch scheitert. Er trägt dazu bei, das Knäuel familiärer Probleme zu vergrößern.

4.2. Aufmerksamkeitsdefizite

Es ist kein Zufall, dass Aufmerksamkeit im Namen der ADHS benannt wird. Es ist aber nicht so, dass die Rolle der Aufmerksamkeit sich darin erschöpft, beim kindlichen Umgang mit dem Hier-und-Jetzt zu fehlen. Das zeigt die oben beschriebene Dynamik. Neben dem Mangel an Aufmerksamkeit beim Kind taucht das Thema zusätzlich unter zwei weiteren Aspekten auf, die sich pathogen mit dem ersten verquicken:

  1. Die Unruhe, die das Kind durch Impulsivität und Hyperaktivität hervorruft, erregt die Aufmerksamkeit des Umfelds. Das Umfeld wird seinerseits daran gehindert, sich achtsam eigenen Interessen zuzuwenden; weil es sich darum kümmern muss, was das Kind gerade anstellt.

    • Nein! Es wird nicht mit dem Handy gespielt, bis es kaputt ist.
    • Nein! Die Wände werden nicht mit dem Filzstift bemalt.
    • Nein! Es wird nicht kopflos über die Straße gerannt.

    Die Aufmerksamkeit, die das Umfeld aufbringt, ist in der Folge nicht bejahend. In der Regel ist ihr etwas Widerstrebendes beigemengt. So trägt das Verhalten des Kindes zwar dazu bei, Beachtung zu erzwingen, sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit wird wegen der widerstrebenden Qualität der erzwungenen Beachtung aber nur zwiespältig erfüllt.

  2. Aus psychologischen, psychosozialen oder wirtschaftlichen Gründen ist das Umfeld ADHS-kranker Kinder gehäuft von Personen bevölkert, die anderen grundsätzlich nur wenig substanzielle Aufmerksamkeit schenken; oder die so von allfälligen Alltagsproblemen überlastet sind, dass sie weder Kraft noch Zeit dazu haben. Die mangelnde Aufmerksamkeit, die Kindern in solchen Umfeldern zukommt, bringt sie dazu, durch das typische Problemverhalten danach zu suchen. Insofern kann die ADHS des Kindes als Abwehrstrategie in einem aufmerksamkeitsdefizitären Umfeld verstanden werden. Ob erst die Henne da war oder erst das Ei, bleibt eine Frage ohne Antwort.

Zwei Formen der Aufmerksamkeit

Substanziell ist Aufmerksamkeit, wenn sie sich dem Kind um des Kindes willen zuwendet. Im Gegensatz dazu ist Aufmerksamkeit bloß funktional, wenn sie dazu dient, den Eltern Kummer zu ersparen, der entstünde, wenn sie groben Unfug von Seiten des Kindes nicht verhindern.

4.3. Fatales Zusammenspiel

Die Anlage zur Unaufmerksamkeit kann sich mit einem narzisstischen Abwehrmuster verquicken. Es gibt Jugendliche, die ihren Flüchtigkeitsfehlern und der Erwartung des Umfelds, bei der Erledigung ihrer Aufgaben achtsam zu sein, mit Hochmut begegnen. Damit wehren sie Selbstwertzweifel ab. Sorgfältige Arbeit im Detail gilt ihnen als belanglose Pflicht für Kleingeister, die ein Mensch, der so hochfliegende Pläne wie sie selber hat, am besten von sich weist, um sich gar nicht erst mit Petitessen aufzuhalten. Wozu soll ein zukünftiger Stararchitekt etwas über Statik wissen? Darum können sich doch Subalterne kümmern!

Auch Ikarus wäre nicht so übel abgestürzt, hätte er bei der Planung seiner Flugmanöver den Regeln der Wirklichkeit mehr Achtsamkeit geschenkt.

5. Gesellschaftliche Faktoren

Wenn man sich dazu entschließt, dem Zeitgeist eine Diagnose zuzuordnen, trifft man mit ADHS ins Schwarze. Da der Einzelne sich nur mit Entschlossenheit dem Zugriff des Zeitgeists entziehen kann, sickert die Krankheit als subklinisches Muster millionen­fach in seelische Befindlichkeiten ein, die ebenfalls befallene Psychiater als normal betrach­ten; ... was sie ja auch sind, denn sie bilden eine eigene Norm: die des leistungs- und erfolgsorientierten Mittelklasseeuropäers, der das System, das ihn auf der Jagd nach immer neuem Wachstum durchs Leben hetzt, alle vier Jahre im Amt bestätigt.

Subklinisch heißt dabei: Das Leben vieler Menschen ist von einer Getriebenheit durchsetzt, die die diagnostischen Kriterien der psychiatrischen Manuale (ICD-10 bzw. DSM-IV) zwar nicht erfüllt, ihnen unterschwellig jedoch entspricht.

Den Symptomen des hyperaktiven Zeitgeists und seinem Unvermögen, das Hier-und-Jetzt zu achten, begegnet man auf Schritt und Tritt:

Außenweltvergiftung

Das multimediale Zeitalter hat zwischen dem Menschen und der Welt Fenster und Türen geöffnet. Blieb die Aufmerksamkeit vieler vor 50 Jahren noch in der Nachbarschaft hängen, dringen heute durch mediale Öffnungen globale Reize, Verlockungen, Sensationen und Aufrufe zum Mitmachen herein, die ständig Aufmerk­samkeit auf sich ziehen. Das meiste, was durch die Öffnungen kommt, füllt das Innere mit Themen der Außenwelt; so aufdringlich, dass sich das Innere am vielen Äußeren den Magen zu verderben scheint. Machen Sie sich klar: Das Sensationelle ist unwesentlich, weil das Wesentliche zeitlos ist.

6. Lösungsstrategien

Gemäß den aktuellen Leitlinien der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) ist eine Behandlung der ADHS angezeigt, wenn ein Patient in einem Lebensbereich unter ausgeprägten Störungen leidet oder in mehreren Bereichen unter leichten Störungen.

Da die Fähigkeit des Kindes, eigenes Verhalten zu überdenken und daraufhin gezielt zu verändern, geringer als beim Erwachsenen ist, ist im Kindesalter eher an eine medika­mentöse als an eine psychotherapeutische Behandlung zu denken. Beim Erwachsenen ist es umgekehrt. Erst wenn klar ist, dass allein mit Maßnahmen zur aktiven Verhal­tensänderung keine angemessene Besserung zu erreichen ist, sind zusätzlich Medika­mente angezeigt.

6.1. Psychotherapie

Bei der Psychotherapie der ADHS stehen kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze im Vordergrund. Dabei gilt es, das konkret störende Verhalten gezielt anzugehen und Lösungsstrategien zu erarbeiten, die unmittelbar im Alltag nutzbar sind. Dazu gehören....

Besonders bei Erwachsenen kommt zu den drei genannten verhaltenstherapeutischen Strategien eine kognitive, introspektive, also tiefenpsychologische Komponente dazu. Es gilt, sich den seelischen Kern des Syndroms bewusst zu machen: den ungezügelten Erfolgsdrang, der dem achtlosen Vorwärtsstürmen zugrundeliegt.

6.2. Medikamentöse Behandlung

Bei der Pharmakotherapie der ADHS sind sogenannte Stimulanzien Mittel der ersten Wahl. In Deutschland kommt fast ausschließlich Methylphenidat zum Einsatz. Gibt es Gründe, die gegen Methylphenidat sprechen, kann in zweiter Linie auf Atomoxetin oder auf Antidepressiva zurückgegriffen werden, die eine Wirkung auf das noradrenerge Transmittersystem im Gehirn entfalten. Zu nennen sind Desipramin, Nortriptylin, Bupropion und Venlafaxin.

Wird die ADHS durch eine ausgeprägte Begleiterkrankung überlagert, wird in der Regel erst diese behandelt. Bei Depressionen und Angsterkrankungen bevorzugt man auch hier Substanzen mit noradrenerger Wirkung. Im Anschluss daran wird die verbleibende ADHS-Symptomatik hinsichtlich ihrer Behandlungsbedürftigkeit abgeschätzt.

6.2.1. Methylphenidat

Methylphenidat bessert die Symptome bei 70-80 % der Betroffenen. Zur Wahl stehen rasch wirksame und verzögert wirksame Präparate. Über die Wahl des Präparats und die Dosierung ist jeweils individuell zu entscheiden.

6.2.2. Atomoxetin

Atomoxetin hemmt wie viele Antidepressiva die Wiederaufnahme des Noradrenalins im synaptischen Spalt zwischen den Hirnzellen. Dadurch wirkt es auf die ADHS-Symptome ein. Es gilt als Mittel der zweiten Wahl bei der ADHS.

Wie beim Methylphenidat besteht ein wesentliches Risiko der Behandlung im Einfluss der Substanz auf das Herz-Kreislauf-System. Es kann zur Erhöhung des Blutdrucks und der Herzfrequenz kommen. Atomoxetin sollte nur angewendet werden, wenn potenziell gefährliche Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems ausgeschlossen wurden.

6.2.3. Amphetamine

In seltenen Fällen kommt auch Amphetamin zur medikamentösen Behandlung in Be­tracht. Amphetaminsäfte können entsprechend individueller Rezeptur in der Apotheke hergestellt werden. Für die Behandlung der ADHS bei Kindern und Jugendlichen steht als Fertigprodukt Dexamfetamin (Lisdexamfetamindimesilat) zur Verfügung.

6.3. Selbsthilfe

Die ADHS beim Erwachsenen ist ein Krankheitsbild, bei dessen Bewältigung die Selbst­hilfe eine große Rolle spielt. Ausgehend von der Symptomatik lassen sich Maßnahmen benennen, deren beharrliche Einhaltung zu wesentlichen Besserungen führen kann.

Es ist besser, Unruhe zu erkennen, als sich zur Ruhe zwingen zu wollen.
Maßnahmen zur Selbsthilfe