Wahrheit


  1. Begriffsbestimmung
  2. Strukturen
  3. Religiöse Bedeutung
  4. Grundmuster und Umgangsarten
  5. Wahrheitsfindung
Wer das Wahre sagt, sagt immer dasselbe. Wer immer dasselbe sagt, sagt aber nicht immer das Wahre.

Das Subjekt ist jener Aspekt der Wirklichkeit, der sich aus sich selbst heraus erkennt. Jede Erkenntnis ist eine Selbsterkenntnis der Wirklichkeit.

1. Begriffsbestimmung

Die Etymologie des Wortes wahr weist auf zweierlei hin:

  1. worum es sich bei der Wahr­heit handelt.
  2. wie das Verhältnis zwischen ihr und dem Menschen beschaffen ist.
Die körperliche Struktur, die die Existenz des Menschen in der Wirklichkeit ermöglicht, ist eine Antwort darauf, was der evolutionäre Prozess als wahr erkannt hat. Alles, was lebt, verkörpert Wahrheit.

Wahrheit kann ohne Verwirklichtes sein, Verwirklichtes aber nicht ohne Wahrheit.

Wahr geht auf das althochdeutsche wāra = Vertrag, Treue zurück. Damit urverwandt sind das lateinische verus = wahr und das französische vérité = Wahrheit.

Wahrheit zu erkennen, führt zum Abschluss eines Vertrags. Das ist der Grund, warum man sich oft vor der Wahrheit fürchtet. Wer Wahrheit erkannt hat, steht in ihrer Pflicht. Zwar kann man sich der Pflichterfüllung entziehen; aber nur zu der Bedingung, dass man einen Preis für die Untreue zahlt. Dieser Preis ist kein Ding. Er stammt aus der Substanz des eigenen Wesens. Sich erkannter Wahrheit zu entziehen, geht nur in dem Maß, wie man seelisch am Vertragsbruch erkrankt. Alle Abwehrmechanismen der Psyche sind Methoden um sich dem Ruf der Wahrheit zu entziehen.

Wāra wiederum ist vom indoeuropäischen ṷer- = vertrau­enswürdig, Gunst, Freundlichkeit abgeleitet. Dieselbe Idee steckt in den Wörtern gewähren und Wirt. Der Wirt gewährt dem Gast freundlichen Empfang. Wahrheit ist die Gunst des Ganzen, die es den Teilen gewährt. Wahr ist die Zugehörigkeit des Guten zum Ganzen. Wahrheit ist die Stelle, an der der Teil vom Ganzen empfangen wird.

Die sprachgeschichtlichen Wurzeln des englischen Worts truth = Wahrheit gehen auf die indoeuropäische Wurzel deru- = fest, unverrückbar zurück. Derselben Wurzel entspringen englisch tree = Baum und to trust = vertrauen sowie Sanskrit dru [द्रु ] = Baum. Der Baum war für unsere steinzeitlichen Vorfahren Inbegriff der Unverrückbarkeit; genauso wie es auch heute noch die Wahrheit ist. Gerade diese Unverrückbarkeit ist die Grundlage des Vertrauens, das man der Wahrheit entgegenbringen kann.

Bindung und Vertrag
Das Verhältnis zwischen Mensch und Wahrheit ist eng. Keineswegs ist der Mensch hier und die Wahrheit dort, als könnte er sich beliebig zu diesem oder jenem Umgang mit ihr entscheiden, ohne dass die Entscheidung in sein Wesen hineinwirkt; so wie man sich zu diesem oder jenem Umgang mit einem Gegenstand entscheiden kann. Wozu der Mensch sich im Umgang mit dem Wahren entscheidet, bestimmt nicht nur darüber mit, was ihm gelingt und woran er scheitert. Es bestimmt über sein Wesen selbst. Die Bindung ist so eng, dass die Persönlichkeit des Menschen dem entspricht, was er für wahr hält.

Das Verhältnis zwischen Mensch und Wahrheit ist vertraglich. Die Wahrheit führt den Menschen durch die Wirklichkeit... wenn er ihr vertragsgemäß die Treue hält. Wahrheit kann nur führen, wenn man ihr vertraut.

Die Nachsilbe -heit war im Mittelalter ein Hauptwort. Heit benannte Rang, Stand, Wesen, Beschaffenheit oder die Person. Als Hoheit (spätmittelhochdeutsch: Hochheit) bezeichnet man dementsprechend eine hochrangige Person. Die indoeuropäische Urmutter des Begriffs liegt in der Wurzel kāi- = scheinen, leuchten, der sowohl das altindische kētú-h = die Lichterscheinung als auch das deutsche heiter entspringen.

Der Begriff Wahrheit verweist folglich auf drei Themen:

  1. Bindung / Bündnis / Treue / Vertrauen
  2. Freundlichkeit
  3. Erkennbarkeit

Wahrheit ist das freundlich Leuchtende, dessen Schein nicht trügt. Das Leuchten des Wahren ist Ausdruck echten Seins in treuer Absicht. Man kann darauf vertrauen, dass sie zum Guten führt. Die Wahrheit ist aber nicht nur da und leuchtet. Wer ihr Leuchten er­kennt, schließt einen Vertrag, durch den er sich mit ihr verbündet. Dem Bündnis entspringen Rechte und Pflichten. Wer seine Pflicht erfüllt, hat das Recht zu führen.

2. Strukturen

Die Wahrheit ist mit der Wirklichkeit und dem Subjekt verwoben, das beide erkennt.

2.1. Wahrheit und Wirklichkeit

Die Wirklichkeit ist alles, was es gibt. Folglich kann die Wahrheit nicht abseits von ihr stehen. Sobald Mögliches verwirklicht ist, ist Wahrheit in es eingewoben. Wahrheit verwebt alles Verwirklichte zu dem, was es ist. Nur Wirkliches kann tatsächlich wahrgenommen werden. Das Wahre im Wirklichen wird aus der Wirklichkeit herausgelesen. Der Weg ist da. Wer sieht, wie er vom Waldrand zum Fluss führt, hat Wahres erkannt.

Satz des Pythagoras

a² + b² = c²

In einem ebenen rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Kathetenquadrate gleich dem Hypothenusenquadrat.

Es kann sein, dass es weder Raum noch Zeit gibt. Es kann aber nicht sein, dass es keine Wahrheit gibt. Selbst wenn es keine Raumzeit gäbe, wäre es wahr, dass der Satz des Pythagoras in einer Raumzeit mit der geo­metrischen Struktur der unseren wahr wäre.

Obwohl die Wahrheit in das Verwirklichte eingewoben und alles Verwirklichte grundsätzlich wahr ist, besteht zwischen beiden ein wesentlicher Unterschied. Wahrheit ist zeitlos. Das Verwirklichte ist es nicht. Was wahr ist, bleibt wahr, auch wenn das Verwirklichte, dessen Struktur es bestimmt, sich gewandelt oder aufgelöst hat. Wahrheit ist der überdauernde Aspekt der Wirklichkeit, in den deren Wandel eingebettet ist. Es mag sein, dass der Weg heute nicht mehr vom Waldrand zum Fluss führt. Es bleibt aber wahr, dass er es tat.

Vorgabe

Es ist unmöglich, nicht an eine absolute Wahrheit zu glauben. Wenn jemand sagt, es gebe keine Wahrheit, dann meint er, dass diese Aussage wahr ist. Also postuliert er eine Wahrheit. Mehr noch: Er glaubt, dass diese Wahrheit immer zutrifft. Er glaubt, dass diese Wahrheit der Zeit nicht unterworfen ist. Er glaubt an etwas Absolutes.

Auch der Buddhismus, der die Existenz eines beständigen Selbst verbal verneint, setzt sie voraus: als Nirwana, in dem das Erfahrende von jeder Bedingung befreit ist und jede Bindung an Bedingtes hinter sich gelassen hat.

2.2. Wahrheit und Subjekt
Wahrheit erscheint im Objekt. Ihr Bestand ist jedoch als dessen Substanz im Subjekt verankert und steht mit ihm jenseits von Raum und Zeit. Das Subjekt begegnet der Wahrheit nicht nur. Es ist sie. Nimmt es sie an, nimmt es sich an.

Haben und Sein
Das Subjekt ist eigenständige Wirklich­keit. Das Objekt hat verliehene Wirk­lichkeit. Verliehene Wirklichkeit ist eigen­ständiger nachgeordnet. Das Objekt wird seine Wirklichkeit an das Subjekt zurückerstatten. Gibt es außer dem Subjekt keine weiteren Aspekte der Wirklichkeit, ist es die vollständige Wirklichkeit selbst.

Auch wenn das absolute Subjekt als Wahrheitsträger der Wirklichkeit mit ihr verwoben ist, bleibt es von ihr unberührt. Es macht wahr, ohne dass das Wahrgemachte auf es einwirkt. Es bleibt unberührt, weil es als Wahres in Wahrheit nicht verändert werden kann. Das Wahre muss nicht verändert werden, weil aller Wert in ihm bereits verwirklicht ist.

Wahrheit ist die Substanz des Subjekts. Das Subjekt verwirklicht das Mögliche, indem es weiß, dass es wahr ist.

Das Subjekt taucht in der Wirklichkeit unter zwei Aspekten auf:

  1. als absolutes Subjekt bzw. als absolutes Selbst
  2. als Vielzahl relativer Subjekte, als Person bzw. relatives Selbst
2.2.1. Wahrgebende Instanz

Das Wesen der Objekte ist Erkennbarkeit. Was nicht erkennbar ist, ist kein Objekt. Das Wesen des Subjekts liegt darin, erkennen zu können. Das Subjekt nimmt wahr. Was nicht wahrnehmen kann, ist kein Subjekt.

Diese Beschreibung deckt die strukturelle Beziehung zwischen Subjekt und Objekt nur unvollständig ab; denn gäbe es nichts, was erkennen kann, wären Objekte nicht erkennbar. Ihr Wesen könnte nicht verwirklicht werden. Die Wirklichkeit ist folglich ein Ganzes, in dem erkennbare Objekte und Tatsachen durch eine erkennende Instanz verwirklicht sind. Die Bindung der Objekte an die Präsenz des Subjekts ist unauflösbar. Das absolute Subjekt ist eine wahrgebende Instanz. Ohne es könnte es keine Wirklichkeit geben, die Wahrheit enthielte.

2.2.2. Wahrnehmende Instanz

Das Subjekt liegt der Wirklichkeit nicht nur als wahrgebende Instanz zugrunde und webt sich als Wahrheit in sie ein, es verkörpert sich zusätzlich als Vielzahl relativer Subjekte, die der Wirklichkeit von ihrer jeweils individuellen Position heraus begegnen. Der Wahrheitsgehalt der Wirklichkeit ist für relative Subjekte von zentraler Bedeutung.

Personen sind erkennende Instanzen der Wirklichkeit. Sie sind durch die Eigen­schaften ihrer objektiven Struktur moduliertes Subjekt. Wie Licht scheint das Subjekt durch Strukturen hindurch und erscheint jenseits der Strukturen in jeweils besonderer Form. Jedes Besondere ist eine abgewandelte Ausdrucksform des Grundsätzlichen.

Während das absolute Subjekt uneingeschränkt Subjekt ist, sind relative eingeschränkt. Ihr objektiver Ausdruck steht mit anderen Per­sonen und der Wirklichkeit als solcher in Beziehung. Ihre subjektive Grundsubstanz erkennt.

Wie sich die Person als psychosomatischer Organismus auf die Wirklichkeit bezieht, hängt von den Vorstellungen ab, die sie für wahr hält.

Pflicht und Freiheit

Die Wahrheit verfügt über die Person und macht sie dadurch frei. Die befreite Person geht in der Wahrheit auf. Das Erkennen des Ich-bin führt zur Pflicht, das Erkannte zu sein. Das Erkannte zu sein, befreit von dem, was man nur scheinbar ist. Freiheit ist die Pflicht, man selbst zu sein. Die höchste Pflicht ist in Wahrheit frei zu sein.

Der Organismus erscheint als Körper und Psyche. In ihrer jeweiligen Beziehung zur Wirk­lichkeit richten sich beide Erscheinungsformen an Informationen aus, die für wahr gehalten werden. Ein großer Teil dieser Wahrheitsvermutungen ist der Person weder bewusst noch unmittelbar zugänglich; vor allem jener Teil, der die biologische Funktionsfähigkeit des Organismus begründet. Wären in den Genen keine wahren, also zutreffenden Erkenntnisse über die Wirklichkeit verschlüsselt, hätte der Organismus keinen Bestand.

Der Körper hält es für wahr, dass man aus Glukose Energie gewinnen kann. Dementsprechend setzt er Enzyme ein. Weil seine Vermutung eine Erkenntnis über die wahre Struktur der Wirklichkeit ist, hat er mit seinen Enzymen Erfolg.

Der Bestand eines relativen Subjekts beruht auf seiner Fähigkeit, genügend Wahres als wahr zu erkennen. Die Psyche, die sich als Ich erlebt, richtet sich ebenso wie der Körper danach aus, was ihr als wahr erscheint. Etwas anderes kann sie nicht wirklich tun.

Wenn ich Brot kaufen will, gehe ich zum Bäcker. Aber nur, weil ich es für wahr halte, dass es dort Brot zu kaufen gibt. Ich könnte auch zum Frisör gehen, obwohl ich es nicht für wahr halte, dass er Brot verkauft. Dann gehe ich aber nicht zum Frisör um Brot zu kaufen, sondern weil ich beweisen will, dass man sich aus der Bindung zur Wahrheit befreien kann. Ich gehe aber nur dann zum Frisör, wenn ich es für wahr halte, dass der Gang dorthin den Beweis meiner Unabhängigkeit erbringt. Also habe ich mich auch hier nach dem ausgerichtet, was ich für wahr hielt.

Die Ausrichtung an dem, was die Person für wahr hält, ist so nahtlos, dass sie selbst aus Wahrheit und Irrtum besteht. Je weniger sich die Person über die Wirklichkeit irrt, desto mehr verwirklicht sie ihr wahres Selbst.

3. Religiöse Bedeutung

Wahrheit an sich ist wertvoll. Nur wenige stimmen dieser Aussage nicht zu. Die Wertschätzung der Wahrheit ist dabei nicht nur Folge ihrer Nützlichkeit. Sie liegt vor allem daran, dass Wahrheit unvergänglich ist.

Als Person ist der Mensch der Vergänglichkeit ausgesetzt. Das treibt ihn dazu, nach etwas Unvergänglichem Ausschau zu halten, in dem er geborgen ist. Da Wahrheit unvergänglich ist und alles, was vergeht, nicht vollständig wahr sein kann, vermutet der Mensch die Macht zu seiner Rettung dort, wo sie auf reiner Wahrheit gründet.

Zwischen den vielen Wahrheiten, die man erkennen kann und der Wahrheit an sich ist zu unterscheiden. Die vielen Wahrheiten sind eine Menge.

n1 Spaghetti werden oft mit Tomaten kombiniert.
n2 Drei Tomaten plus zwei Tomaten sind fünf Tomaten.
n3 Wenn es heißt, Horst hat Tomaten auf den Ohren, muss das nicht wörtlich aufgefasst werden.

Die Wahrheit an sich wird als Ganzes verstanden, das die Menge des Wahren in eine Einheit bindet, die dem Wandel der Wirklichkeit ebenso zugrunde liegt wie sie über ihm steht und ihn durchdringt. Wer etwas der Wahrheit zuliebe tut, kommt der Wahrheit als Ganzes näher.

Eine parteiische Gottesperson
Die Silbe -heit in Wahrheit kündigt es an: Heit kann als Wesen verstanden werden. Deshalb könnte die Wahrheit als Ganzes eine Gottheit, also ein göttliches Subjekt sein. Deutet man Wahrheit als umfassendes Subjekt der Wirklichkeit, kann man nicht zeitgleich glauben, dass es parteiisch (lateinisch pars = Teil) ist. Die Vorstellung, dass das Umfassende sich zum Parteigänger macht, ist Widerspruch in sich. Parteilich­keit spaltet.

Da dem Menschen der Umgang mit konkreten Personen, zum Bei­spiel Vaterfiguren, näher liegt als der mit abstrakter Wahrheit, sucht er die Rettung aus der Vergänglichkeit meist nicht im Vertrauen auf das, was er selbst als wahr erkennen kann. Statt­dessen glaubt er an eine Gottesperson, die das Wahre vertritt und deren Führung er sich überlässt. Deren Entschei­dungen versucht er durch Rituale und Gehorsam dergestalt zu beeinflussen, dass sie die vergängliche Person durch einen Gnadenakt aus der Vergäng­lichkeit in das Reich des unvergänglich Wahren hebt.

Die Vorstellung Gottes als eines Bewahrers der Person verstellt den Blick auf das, worin Rettung tatsächlich liegt. Gebete und Rituale, die sich an einen Bewahrer wenden, sind Maßnahmen, die den Horizont der Person nicht übersteigen. Sie regulieren Selbstbild und Befinden der Person: Ich bin gut, weil ich in rechter Weise glaube. Ich kann beruhigt sein, weil ich das Gebet vollzogen habe.

Wahrheit als das freundlich Leuchtende, dessen Schein nicht trügt, führt das Ich jedoch nicht dorthin, wo es als beschränkte Person auf ewig überdauert, sondern über die beschränkte Identifikation mit der Person hinaus. Ihr Wesen liegt nicht im Anspruch, sich ihr zu unterwerfen und der Person als Lohn der Unterwerfung Ewigkeit zu verleihen. Die Unterwerfung der Person unter die Wahrheit ist von je her vollzogen und wird niemals zu ändern sein. Was das Ich vollziehen kann, ist vertragsgetreu nach dem Leuchten der Wahrheit Ausschau zu halten, um als sie selbst verwirklicht zu werden. Der religiöse Akt liegt darin, durch die Preisgabe der Gleichsetzung seiner selbst mit der Person aus den Begrenzungen der Person befreit zu sein.

Wahre Religion ist die konsequente Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt und der Entschluss des Subjekts, Subjekt zu sein. Es gibt nur ein wahres Bekenntnis. Es heißt: Ich bin, der ich bin. Ich bin das, was erkennt und was die Verantwortung für das übernimmt, was es erkannt hat.

4. Grundmuster und Umgangsarten

Die Art, wie man mit Wahrheit umgeht, hat tiefgreifende Folgen für das Erleben der Wirklichkeit. Ebenso tiefgreifend sind die Auswirkungen auf das Verhalten des Einzelnen und seinen Bezug zum sozialen Umfeld. Zwei Grundmuster und sechs gestaltende Umgangsarten können unterschieden werden.

4.1. Grundmuster

Die Grundmuster entsprechen der prinzipiellen Ausrichtung im Bezug zur Wahrheit an sich. Zwei Pole sind zu unterscheiden:

Die funktionale Ausrichtung betrachtet Wahrheit als Werkzeug der Person, die transpersonale die Person als Werkzeug der Wahrheit. Im profanen Denkmuster macht sich der Mensch die Wahrheit zunutze, im religiösen erfüllt er ihr gegen­über seine Pflicht. Religiös ist, wer seinen Vertrag mit der Wahrheit erfüllt.
  1. egozentrisch / funktional / profan
  2. anerkennend / transpersonal / religiös
4.1.1. Egozentrisch / funktional

Das primäre Verhältnis des Individuums zur Wahrheit ist funktional. Das heißt: Es interessiert sich für die Wahrheit nur soweit sie ihm persönlich zu nützen scheint. Im normalen Funktionsmodus ist der Mensch Partei seiner Person. Als solche Partei treibt ihn die Frage um, wie er sich Vorteile verschaffen könnte, die sein persönliches Dasein sichern. Er fragt: Welche Hilfsmittel kann ich benutzen, um in allen Lebenslagen überlegen zu sein?

Da die Vorteile, die er gewinnen könnte, der Kenntnis wahrer Fakten und Zusammen­hänge entspringen, ist er quasi gezwungen, nach Wahrem Ausschau zu halten. Er tut es aber nicht der Wahrheit, sondern unmittelbaren Vorteilen zuliebe, die eine Kenntnis dieser oder jener Wahrheit mit sich bringt.

4.1.2. Anerkennend / transpersonal

Im Zuge vertiefter Selbsterkenntnis kommt es zu einer Ausweitung des egozentrischen Musters über den Horizont des unmittelbar Nützlichen hinaus. Das Individuum erkennt, dass Wahrheit nicht nur ein untergeordnetes Werkzeug ist, das bei geschickter Hand­habung seinen Zwecken dient, sondern eine umfassende Instanz, in die sein eigenes Wesen genauso wie das der übrigen Wirklichkeit eingebettet ist. Das Verhältnis zur Wahrheit wird transpersonal. Das Individuum anerkennt Wahrheit als Wert an sich. Es bleibt ihr auch dann treu, wenn sie im konkreten Fall seinen persönlichen Interessen zuwiderläuft. Für den, der Wahrheit bis dorthin erkennt, ist die Welt, was Gott von ihr weiß.

4.2. Umgangsarten

Sechs Umgangsarten gestalten den Bezug zur Wahrheit im konkreten Fall:

  1. Wahrnehmung
  2. Glaube
  3. Verleugnung
  4. Lüge
  5. Missbrauch
  6. Bestechlichkeit / Korruption

Innerhalb der sechs Kategorien gibt es weitere Unterteilungen, die je nach persönlicher Absicht mehr oder weniger im Vordergrund stehen. Es gibt kaum einen Menschen, der nicht je nach Lage der Dinge alle sechs Kategorien zum Einsatz bringt.

Umgangsarten mit der Wahrheit

Wahrnehmung Glaube Verleugnung
Weitere Unterteilungen suchen
zulassen
erkennen
bekennen
schlussfolgern
ergänzen
vermuten
ersetzen
wähnen
verbreiten
verteidigen
ignorieren
verdrängen
relativieren
entkräften
Lüge Missbrauch Bestechlichkeit
ausbeuten
irreführen
schützen
auswählen
manipulieren
vertuschen
einfärben
abfälschen

Wie sich ein Mensch, eine Organisation oder ein ganzer Kulturkreis gegenüber der Wahrheit verhält, entscheidet grundsätzlich über sein bzw. ihr Wesen mit.

4.2.1. Wahrnehmung

Wahrheit ist in die Wirklichkeit eingewoben. Sie ist ihr So-und-nicht-anders-sein. Um Wahrheit festzustellen, ist die Wahrnehmung der Wirklichkeit unumgänglich. Erst wenn ich den Baum gesehen habe, entspricht die Aussage Ich habe den Baum gesehen der Wahrheit.

Nachdem Erfahrungen vorliegen, die durch Wahrnehmung gesammelt wurden, kann Wahrheit auch durch Schussfolgerung festgestellt werden:

Abstufungen

Man kann Wahrheit erkennen und sie für sich behalten. Man kann sein Wissen bekennen, indem man es anderen mitteilt. Und man kann seine Entscheidungen an dem ausrichten, was man für wahr hält. Je nachdem, was man mit der Wahrheit macht, kann das unterschiedliche Folgen haben.

Zu schlussfolgern erscheint zunächst als Denkakt. Die Wahrheit wird aber nicht ausgedacht. Deshalb wird beim Schlussfolgern zwar ge­dacht, das wesentliche Element ist aber ebenfalls ein Wahrnehmungs­akt. Dabei handelt es sich im Gegensatz zu den sinnlich-mittelbaren Wahrnehmungen (Ich sehe, was ich für einen Baum halte.) um einen unmittelbaren Wahrnehmungsakt. Bei der Schlussfolgerung muss die logische Plausibilität des gezogenen Schlusses erkannt werden. Wenn ich erkannt habe, dass kleine Sachen in große Gefäße passen, kann ich von der Erbse auf die Bohne schließen.

Fehlende Plausibilitätsprüfung
Holland ist ständig von Deichbrüchen bedroht. Deshalb tragen kluge Holländer Holzschuhe. Da Holz schwimmt, laufen die Klugen auch dann noch umher, wenn das Wasser steigt. Die Dummen ertrinken. Das Gen, das eine Vorliebe für Holzschuhe begründet, wurde in Holland im Laufe der Jahrhunderte heraus­selektiert. In der Schweiz kommt das Gen kaum vor. Kein Wunder: In Holzschuhen bezwingt man keine Steilwand, um Edelweiß zu pflücken; und das braucht der Schweizer, damit er seine Liebste überhaupt umwerben kann. Schweizer haben stattdessen eine Vorliebe für Löcherkäse. Warum? Weil sie an den Löchern im Käse die Griffe üben, durch die sie sich im Fels zum Edelweiß hangeln.

Diese Theorie ist hübsch ausgedacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie der Wahrheit entspricht, ist jedoch gering. Das Denken ist so frei, dass man im Übermut eines Zauberlehrlings gerne auf die notwendige Überprüfung der Plausibilität seiner Produkte verzichtet. Dann macht das Denken nicht frei, sondern es verstrickt den Zauberlehrling in gefährliche Irrtümer.

Zur Umgangsart der Wahrnehmung gehören Suche, Zulassen und Bekenntnis.

Das rechte Verhältnis des Menschen zur Wahrheit ist kein Dienst. Es ist Anerkennung. Man kann die Wahrheit nicht missachten, ohne dass das schädliche Folgen hat. Das Bekenntnis kann rein sprachlich sein - indem ich sage: Dies und das halte ich für wahr. Oder es kann handelnd sein - indem ich tue, was der erkannten Wahrheit entspricht.

Wer Wahrheit vollständig anerkennt, wird ihr Ausdruck. Wer ihr Ausdruck geworden ist, ist von der Mühe befreit, zu entscheiden, was er als nächstes machen soll.

Bloßes Erkennen von Wahrheit bleibt intellektuell. Vollständig wahrgenommen ist sie erst, wenn man sie aufnimmt; ihr also Gehör verschafft, weil man die Wahrheit, die man erkannt hat, als sich selbst anerkennt. Wahrheit wird durch Vernunft vernommen.

4.2.2. Glaube
Wer lieber glaubt, als sich einzugestehen, dass er nicht wissen kann, hat zumindest sich selbst betrogen. Der Wahrheit nützt es nichts, wenn man für angeblich Wahres, das sich verlässlichem Wissen entzieht, die Hand ins Feuer legt. Für tatsächlich Wahres zu sterben, kann heldenhaft sein. Es für bloß Geglaubtes zu tun, ist oft ein unsinniges Opfer.

Nicht immer ist Wahrheit der Wahrnehmung zugänglich. Wenn ich keine Möglichkeit habe, Wahrheit durch Wahrnehmung festzustellen, kann ich vermuten, dass sie so oder anders ist. Dann glaube ich etwas, im Wissen, dass es anders sein kann. Die Übergänge zwischen der logischen Schlussfolgerung und der bloßen Vermutung sind fließend.

Ich kann schlussfolgern, dass sich die Neandertaler verbrannt haben, wenn sie ihrem Lagerfeuer zu nah kamen. Ich kann aber nur vermuten, dass sie das Feuer entfachten, um sich daran zu wärmen. Vielleicht haben sie es bloß zum Braten oder als Licht­quelle benutzt; und mochten Kälte so sehr, dass sie seine Nähe ansonsten vermieden.

Bei der Wahrheitsfindung können Glaube und Vermutung dazu dienen, Wissenslücken zu ergänzen. Dienen sie der vorläufigen Ergänzung von Lücken, und bleibt man sich ihrer dienenden Rolle bewusst, erwirbt das Geglaubte sein Recht; weil es tatsächlich dem höheren Zweck der Wahrheitsfindung dient.

Wissen erkennt Zusammenhänge. Dogma­tischer Glaube spaltet. Echte Einigung ist nur im Wissen möglich. Die vermeintliche Einigkeit im Glauben beruht auf einer Verleugnung der Spalten.

Oft dienen Glaubensinhalte aber nicht der Ergänzung, sondern sie ersetzen und verdrängen tatsächlich Gewusstes. Ihr Dienst gilt dann nicht der Wahrheit, sondern deren Beherrschung durch die Willkür von Teilinteressen, die sich durch sogenannte Glaubenswahrheiten Raum verschaffen. Die Willkür des Teiles gegen das Ganze ist beim ersetz­enden Glauben an verschiedenen Merkmalen erkennbar:

Glaubt ein Individuum Glaubensinhalten so, als sei ihr Wahrheitsgehalt bewiesen, leidet es unter einem manifesten Wahn. Tut es bloß so als ob, dann lügt es; in der Regel dergestalt, dass es die Lüge als Mittel für heiliggesprochene Zwecke rechtfertigt.

Anerkennung und Mutwille
Nur das Wahre kann erkannt werden, ohne dass es als Folge der Erkenntnis Schaden nimmt. Wird Unwahres erkannt, führt das zu seinem Untergang; denn Unwahres ist immer nur Bild. Indem man Unwahres erkennt, wird das Bild durch Wahres ersetzt und das Wahre als wahr anerkannt. Das rechte Verhältnis zur Wahrheit ist daher erfüllt, wenn ihr Sosein durch Erkenntnis bestätigt wird.

Selbst wenn wahr ist, was man glaubt, kann Glaube die Wahrheit nicht ersetzen. Auch wenn das geglaubte Bild dem Wahren entspricht, ist unerschütterlicher Glaube illegitim, weil sich unerschütterlicher Glaube an ein Vorstellungsbild hält, das man mutwillig wählt. Er ist illegitim, weil sich, wer mutwillig wählt, zum Herrn der Wahrheit erklärt.

In der mutwilligen Wahl greift der Gläubige blind nach der Wahrheit ohne es ihr zuliebe zu tun. Damit verfehlt er das Wesen des Wahren, das nicht zu ergreifen und festzuhalten, sondern anzuerkennen ist. Glaube ist nur im Recht, wenn er zweifelt. Redlicher Glaube ist vorläufig. Unerschütterlicher Glaube ist Wahn. Jeder Glaube an Dogmen ist Bilderkult. Wer sich zu Mythen bekennt, hat sich im Mittel vergriffen. Wer Irrtum ausschließt und sich vorsätzlich gegen Einsicht sträubt, tut der Wahrheit keinen Dienst. Er schadet ihr, weil er ein Vorbild liefert, wie mit der Wahr­heit gegebenenfalls willkürlich zu verfahren ist.

4.2.3. Verleugnung

Wahrheit kann angenommen werden: indem man sie erkennt oder korrekt vermutet. Wahrheit kann zurückgewiesen werden: indem man sie verleugnet. Bevor man Wahrheit verleugnen kann, muss man sie zumindest erahnen. Offensichtlich reicht es aus, Wahr­heit zu erahnen, damit bereits der Impuls entsteht, sich den ver­traglichen Pflichten zu entziehen, die ihre Anerkennung nach sich zöge. Ahnung kann eine vorbewusste Erkenntnis sein, der man die Anerkennung verweigert.

Zugehörigkeit
Die Verleugnung von Teilen der Wahrheit dient oft der Erfüllung eines der beiden psychologischen Grundbedürfnisse: der Zugehörigkeit. Weltanschau­liche Gruppen verfolgen politische Ziele und sind zugleich Bündnisse zum Zweck wechselseitiger Vergabe von Zugehörigkeit. Die bindende Weltan­schauung beruht auf einem Gefüge spezifischer Grundannahmen, die oft nur unvollständig oder gar nicht zu beweisen sind. Um das Bündnis zu festigen, werden mythologische Grundannahmen dogmatisch abgesichert. Das heißt: Erkenntnisse, die den Mythos in Frage stellen und damit das Bindemittel gefährden, werden durch Verleugnung abgewehrt. Nicht zu erkennen, dass der König nackt ist, redu­ziert die Gefahr, sich seine Gunst zu verscherzen.

Selbstbestimmung
Die Verleugnung von Teilen der Wahrheit dient eben­so oft der Erfüllung des anderen psychologischen Grundbedürfnisses: der Selbstbestimmung. Solange sich das Ich als separate Instanz auffasst, die dem Rest der Wirklichkeit konkurrierend gegenübersteht, ist es stets auf dem Sprung, unliebsame Wahrheiten als Feinde aufzufassen. Wer eine Wahrheit nicht als Weg zu seinem Wohl erkennt, tut womöglich so, als ob es sie nicht gäbe. Das kann bis zum Wahn ausar­ten. Wahn ist ein Versuch, sich gegen die Wirklich­keit zu wehren, indem man sie durch ein Bild ersetzt, auf dem man als Täter nicht auftaucht.

Je nachdem welche Konsequenzen drohen und welche Tragweite die Anerkennung einer Wahrheit hätte, reicht es entweder aus, das Wahre zu ignorieren oder man verdrängt es aktiv aus dem Bewusstsein.

Wer ein Schnitzel isst, mag das Wissen um seine Schuld am Tod des Tieres ignorieren, ohne sich überhaupt einen Gedanken darüber zu machen. Wer einen Menschen ohne zwingende Notwendigkeit tötet, verdrängt die Anerkennung seiner Schuld in der Regel aktiv: indem er dem Opfer Schlechtigkeit zuschreibt oder Umstände be­nennt, die die Tat als unvermeidbar beschreiben.

Geschlossene Gesellschaft

Verleugnungseffekte ergeben sich aus dem Bedürfnis des Menschen, sich die Welt abschließend zu erklären. Ungewissheit führt zur Furcht. Wenn wir die Welt erkannt hätten, wäre die Ungewissheit beseitigt. Daher sind wir bemüht, aus drei Puzzlestücken ein Ganzes zu schaffen und bereit, fünf mehr als einmal gerade sein zu lassen.

Haben wir etwas zurechtgezimmert, was einem Viereck ähnelt, stören alle Stücke, die aus dem Viereck ein Zwölfeck machen könnten. Je mehr man sich vom Viereck in den Bann ziehen lässt, desto leichter übersieht man die über­zähligen Stücke. Der Mensch mag es nicht, wenn die Wahrheit seinen Bildern widerspricht. Würde er die Wahrheit anerkennen, sähe er, dass die Furcht davor nicht nötig ist.

4.2.4. Lüge

Während man sich bei der Verleugnung der Wahrheit nicht vollständig bewusst ist, was man tut, ist die Lüge eine gezielte Manipulation. Man muss die Wahrheit klar erken­nen, um sie durch eine Lüge zu umgehen.

In der Regel steht die Lüge in klarem Gegensatz zur Wahrheit. Sie wird angewandt, um sich auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen. Dann ist die Lüge unrechtmäßig.

Es kommt vor, dass der Vertrag mit der Wahrheit nur durch eine Lüge erfüllt werden kann. Meist ist es aber anders.

Die Lüge kann aber auch im Bündnis mit der Wahrheit stehen, nämlich dort wo sie einen Wert gegen zerstörerische Kräfte schützt, die ihrerseits die Wahrheit igno­rieren. Dann ist die Lüge segensreich. Ein klassisches Beispiel ist der Schutz eines Juden vor dem Zugriff von Rassisten. Wenn der Beschützer des Juden es für wahr hält, dass Antisemiten von Vorstellungen ausgehen, für deren Wahrheitsgehalt es keine Belege gibt, steht die Lüge, die den Aufenthaltsort des Juden verheimlicht, im Bündnis mit der Wahrheit. Kants Behauptung, dass auch derlei Notlügen grund­sätzlich Unrecht sind, wird nicht von jedem geteilt.

Ein Großteil der Lügen im Alltag ist weder eindeutig segensreich noch ist er vom blanken Willen beseelt, andere Leute auszubeuten. Viele kleine Lügen, die der Mensch in die Struktur seiner Kommunikationsfelder streut, dienen der Vermeidung gefürchteter Klärungsprozesse. Insofern sind viele Unehrlichkeiten defensiv.

Die Eine und das Einzige
Es gibt nur eine Wahrheit. Sie ist das Einzige, worauf man sich einigen kann, während sich die Lüge immer gegen etwas richtet. Je nachdem, welche Begriffe man wählt, kann man das Einzige auch als den Einzigen bezeichnen. Nur wenn jemand mutwillig oder grob fahrlässig gegen das Einzige verstößt, scheint eine Lüge, die sich seinen Taten, nicht aber seinem Wohl wider­setzt, nicht im Gegensatz zum Einzigen zu stehen.

Zu entscheiden, wann eine Lüge der unmittelbaren Wahrheit vorzuziehen ist, ist eine Aufgabe des Gewissens. Oft be­stimmt aber nicht das Gewissen, sondern das Vorteilsdenken des Egos. Das Ego zieht die Notlüge vor, weil es die Person einer momentanen Not entheben will; ohne zu bedenken, dass es sie dadurch zukünftiger Not preiszugeben droht.

Jörg ist zu Besuch bei seiner Oma. Die Oma fragt, ob ihre sauren Nierchen schmecken. Obwohl Jörg mit Ekel kämpft, um das Zeug zu schlucken, nickt er beflissen. Beim nächsten Besuch kocht die Oma eine größere Portion. Dumm gelaufen!

4.2.5. Missbrauch

Sehr verbreitet ist der Missbrauch der Wahrheit. Dabei wird nicht gelogen, sondern so aus wahren Fakten ausgewählt, das Effekte entstehen, die demjenigen nützen, der die Wahrheit durch absichtliche Selektion dazu missbraucht, andere in seinem Interesse zu steuern.

Grundmuster und Umgangsarten

Die Häufigkeit, mit der die Umgangsarten bezüglich der Wahrheit zum Einsatz kommen, unterscheidet sich bei beiden Grundmustern.

egozentrisch-funktional anerkennend-transpersonal
Wahrnehmung + ++
Glaube ++ +
Verleugnung ++ -
Lüge + (+)
Missbrauch ++ -

4.2.6. Bestechlichkeit / Korruption
Wahrheit ist die Grundlage, auf der sich alle treffen können. Untreue zur Wahrheit ist Bruch der Gemeinschaft.

Bestechlichkeit ist ein Phänomen, das man mit Geschäften verbindet, bei denen verschwiegene Absprachen zu Lasten Dritter in Vertragsabschlüsse eingefloch­ten werden. Der Begriff stammt aus dem Bergbau. Dort bestachen die Berg­leute einst das Erdreich mit einer Sonde, um dessen Beschaffenheit zu prüfen. Bestechen heißt eigentlich prüfen. Wer besticht prüft, wie der Bestochene beschaffen ist. Gibt er der Versuchung nach oder bleibt er standhaft?

Korruption spricht vom selben Vorgang. Sprachhistorisch entstammt der Begriff dem lateinischen corrumpere = verderben, das seinerseits auf rumpere = brechen zurückgeht. Bei der Korruption wird das Vertrauen in die Redlichkeit von Personen gebrochen, die für das Wohl einer Gemeinschaft verantwortlich sind. Statt das Wohl der Gemeinschaft zu beachten, verfolgen sie ihr eigenes. Der Korrupte bricht den Vertrag mit der Wahrheit, der ihn mit allen verbindet, um abseits sein eigenes Süppchen zu kochen.

Korruption und Bestechlichkeit gibt es aber nicht nur beim Zuschlag zur Renovierung öffentlicher Gebäude und dem Verkauf von LKW nach Belutschistan. Beim alltäglichen Umgang mit der Wahrheit ist sie quasi Routine. Bestechlichkeit im Umgang mit der Wahrheit heißt, dass man Sachverhalte, ohne sich ausdrücklich um Objektivität zu bemühen, tendenziös so darstellt oder deutet, wie es für die eigene Position vorteilhaft ist. Und Hand aufs Herz: Wer hat sich in den letzten 24 Stunden nicht von seinem Ego bestechen lassen? Wer hat die Wahrheit nicht wenigstens um 2 Euro 70 abgefälscht, um besser dazustehen, als er es ohne den Bruch des Vertrags mit der Wahrheit täte?

Politik, Korruption und Routine

Der Begriff Routine ist mit Korruption verwandt. Routine geht auf französisch la route = der Weg, die Straße zurück, das ebenfalls dem lateinischen rum­pere = brechen entspringt. Der Weg bricht sich seine Bahn durchs Gelände. Sobald er gebahnt ist, wird der Gang von hier nach dort Routine. Routine heißt: Eine Verfahrensweise wird abgewickelt, ohne sie selbst ins Blickfeld zu rücken.

Korruption wird verdeckt betrieben. Korruption setzt Teilinteressen über das Ganze. Die Wahrheit soll dabei nicht ans Licht kommen. Warum? Weil die Wahrheit Treffpunkt aller ist. Wo ist ein korrupter Umgang mit der Wahrheit daher Routine? Dort wo die Durchsetzung partieller Interessen mit erklärtem Vorsatz betrieben wird. Wo ist das? In der Politik.

Teilinteressen über andere zu setzen, ist die Kernidee der Parteipolitik. Dort wo Parteipolitik Sichtweisen beeinflusst, wird der Vertrag mit der Wahrheit in der Regel gebrochen. In den Vertrag Schmiergeld zu mogeln, gehört so selbst­verständlich zu den parteipolitischen Verfahrensweisen, dass sie als Routine hingenommen wird. Kein Medium, das von Parteien beeinflusst wird, ist in der Lage, die Wirklichkeit unverfälscht darzustellen. Das ist bedauerlich. Wenn Medien es nicht versuchen, wird es verwerflich.

5. Wahrheitsfindung

Die Wahrheitsfindung wird oft durch die Absichten vereitelt, denen man sich verschrieben hat. Was richtig und falsch ist, will man nur soweit wis­sen, wie es hilft, zu bekom­men, was man haben will.

Ein Funke Wahrheit kann eine Scheune Irrtum niederbren­nen; wenn man den Funken im Stroh gewähren lässt.

Wasser findet den Ozean, Wahrheit das Licht.

Eigentlich ist es nicht schwer, Wahrheit zu finden; wenn man sich mit ihr begnügt. Da der Mensch sich aber als Person sieht und deren Vorteil betreibt, meint er oft, dass die blanke Wahrheit kein Garant für seinen Vorteil ist. Das führt dazu, dass er Gegensatz­paare durcheinanderbringt:

5.1. Gegensatzpaare

Bevor man entscheidet, was man tut, beurteilt man die Lage; mal bewusst-reflektiert, mal unbewusst oder reflexhaft-automatisch. Dabei fragt man nach wahr oder unwahr, richtig oder falsch, gut, böse oder schlecht. Eine erste Gegenüberstellung zeigt grundsätzliche Unterschiede auf.

Unterschiede von Gegensatzpaaren

Entscheidung Funktion
wahr-unwahr Benennt die Verlässlichkeit einer Erkenntnis
richtig-falsch Bewertet die Qualität eines Mittels
gut-böse Beurteilt den Wert dessen, der entscheidet

Die Unterschiede können dabei subtil sein. So ist es wahr, dass 2 + 2 = 4 ist. Zugleich ist es aber auch richtig. Das eine Mal erkennt man Wahrheit als solche an. Das andere Mal beurteilt man, ob die erkannte Wahrheit geeignet ist, das Ergebnis zu erzielen, auf das man es abgesehen hat. Für den, der erfolgreich weitere Berechnungen anstellen will, ist es nicht nur wahr, dass 2 + 2 = 4 ist, sondern auch richtig, von der Erkenntnis auszugehen und sie als Mittel für seine Zwecke einzusetzen.

Ebenso subtil kann der Unterschied zwischen relevanter Unterscheidung und Haarspal­terei sein. Der Addition von 2 + 2 zwei Merkmale unterscheidend zuzuordnen, könnte relevant sein; aber auch bloße Haarspalterei, durch die sich der, der sie betreibt als besonders geistreich hervorzutun versucht. Was er davon für wahr bzw. richtig hält, entscheide jeder für sich selbst. Niemand hat die Deutungshoheit über das, was er sagt.

5.1.1. Wahr-unwahr

Das Wahre ist unveränderlich und damit gegenwärtig. Es ist der Zeit enthoben. Beim Wahren ist es niemals so, dass es heute wahr ist, morgen aber nicht. Das Wahre wird erkannt und angenommen. Obwohl alles Wahre grundsätzlich im Jetzt als Erkennbares erscheint, wird in der Regel nur ein Bruchteil von ihm wahrgenommen. Die Fähigkeit des Einzelnen, Wahrheit zu erkennen, wird durch die Begrenzungen seiner persönlichen Existenz eingeschränkt. Da der Mensch nur wenig Wahres erkennt, ist er mit dem Erkannten oft unzufrieden. Er unterschätzt den Wert seiner Erkenntnis und steckt sich Ziele, von denen er glaubt, dass sein Leben dort besser sein wird.

5.1.2. Richtig-falsch
Oft wollen wir nicht wissen, was wahr, sondern was richtig ist. Dabei übersehen wir, dass man das Richtige umso eher findet, je mehr man weiß, was wahr ist.

Obwohl das Wahre immer wahr ist, ist es nicht immer richtig, es zu einem bestimmten Zeitpunkt auszusprechen.

Die Entscheidung, ob etwas richtig oder falsch ist, basiert auf einer Absicht. Jeder Absicht entspricht ein Ziel, das die Person definiert, weil sie davon ausgeht, dass sein Erreichen ihrem Vorteil dient. Ziele liegen in der Zukunft. Bei richtig oder falsch geht es um die Richtung, die man einzuschlagen hat, um diese oder jene Zukunft erfolgreich anzusteuern.

Um dafür zu sorgen, dass die Zukunft wird, wie es der Absicht entspricht, konzentriert die Person ihre Kraft auf die Umsetzung des Plans. Wahres, das unterwegs erkennbar wird, dem Ziel aber nicht zu dienen scheint, wird für falsch gehalten und übergangen.

Falsch ist mit dem lateinischen Verb fallere = täuschen verwandt. Das Falsche täuscht. Falsch ist es aber auch, sich selbst oder andere zu täuschen, weil das Wahre vor dem Hintergrund spezifischer Absichten unliebsam erscheint.

Bedingt oder unbedingt
Das Wahre ist unbedingt, das Richtige bedingt. Das Wahre bedarf keiner Bedingungen, um wahr zu sein. Grundlos ist es, wie es ist. Was man für richtig hält, hängt davon ab, was man bezweckt. Das gilt erst recht für das Gute und Böse. Ob man etwas für gut hält, hängt wesentlich davon ab, wie gründlich man nach dem Motiv, es gut zu finden, fragt, und danach, welche Folgen es noch haben könnte, abgesehen vom momentanen Vorteil, den es bringt.

Wer danach fragt, ob das, was er tut, richtig ist, will wissen, ob das Mittel, das er benutzt, geeignet ist, um das Ziel zu erreichen. Bei allem, was der Mensch für richtig hält, kann er sich fragen, welchem Vorsatz seine Ausrichtung dient. Fragt er das nicht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er Wahres verfehlt.

5.1.3. Gut-böse

Das Gute passt zu dem, der es als gut bewertet. Das Böse bedroht und verdrängt, und wird deshalb als böse angesehen. Wer eine Kraft, der er ausgesetzt ist, als gut oder böse bewertet, geht davon aus, dass sie in der Lage ist, ihre Wirkung aus sich selbst heraus zu steuern.

Auch das Urteil über Gut und Böse ist nicht unparteiisch. Es bildet die persönlichen Interessen dessen ab, der es vollzieht. Es ist primär nicht der Erkenntnis verpflichtet, sondern dem Vorteil dessen, der es fällt. Wer zwischen Gut und Böse unterscheidet, will oft nicht wissen, sondern mächtig sein. Trotzdem ist es nur das Gute, das nahtlos zum Wahren passt.

5.2. Verzahnungen
Jeder hat seine eigene Wahrheit. So heißt es oft. Tatsächlich ist es umgekehrt: Jeder hat seine eigene Unwahrheit. Das, was ein jeder von der Wahrheit erkennt und anerkennt, wird durch ein individuelles Muster an Irrtum und Selbstbetrug überlagert. Wahrheit ist das, was allen gemeinsam zugrunde liegt. Niemand hat sie. Jeder kann ihr entsprechen.

Im Alltag werden die genannten Gegensatzpaare oft verwechselt. Vor allem wahr und richtig werden gleichgesetzt, ohne zu hinter­fragen, welchen Motiven es entspringt, dies oder das für richtig zu halten. Da viele das, was sie für richtig halten, als unbedingte Wahrheit deuten und nicht als von Wünschen bedingt und durch Irrtum verzerrt, ist das Unverständ­nis groß, wenn andere die Richtigkeit bezweifeln. Nicht selten folgt der Empörung ein Urteil: dass der andere böse ist. Dabei haftet dem Urteil selbst etwas Böses an. Es will den Kritisierten entwerten und von den guten Rängen verdrängen.

Im Alltag geht es oft um praktische Fragen.

Das sind zunächst keine Fragen strenger Wahrheitssuche. Es sind Fragen nach prakti­kabler Richtigkeit. Und doch: Nur das Wahre, das ich anerkenne, schützt mich bei der Suche nach der Richtung vor grober Verirrung.