Gehorsam


  1. Begriffsbestimmung
  2. Grundmuster religiöser Ausrichtungen
    1. 2.1. Gehorsam
    2. 2.2. Erkenntnis
    3. 2.3. Ergebung
    4. 2.4. Befehl
  3. Sehen und gesehen werden
    1. 3.1. Psychologische Bedeutung
    2. 3.2. Soziale und politische Bedeutung
  4. Rückbindungen
  5. Kulturgeschichte
Die Religion des Egos glaubt an Macht und Unterwer­fung, die des Selbst will in Freiheit zu sich stehen.

Ungehorsam gegenüber dem Ego ist unverzichtbar auf dem Weg zu sich selbst.

1. Begriffsbestimmung

Das deutsche Wort gehorsam ist eine Lehnübertragung des lateinischen oboediens = gehorsam, willfährig. Die Übertragung diente im germanischen Sprachraum der Übersetzung des christlichen Obedienzbegriffs.

Gehorsam und Spaltung

Im Weltbild politisch-konfessioneller Glaubens­lehren ist Gehorsam das unentbehrliche Mittel zum Heil. Das entspricht der dualistischen Auffassung, dass es keine substanzielle Verbindung zwischen Mensch und Gott gibt. Wenn eine substanzielle Verbindung fehlt, bedarf der Mensch göttlicher Gnade um trotz seines angeblichen Unwerts dem Tod zu entgehen.

In der mystischen Religion spielt Gehorsam keine Rolle. Mystik geht davon aus, dass dem Menschen Göttliches und somit unverlierbarer Wert bereits inneliegt, sodass er sich keine Gnade durch Unterwerfung verdienen muss. Der Mystiker will keine Gunst erwirken. Er will sich von dem befreien, was ihn darin hindert, in allem Gott zu sehen.

Obedienz geht auf das lateinische oboedire = gehorchen zurück. Oboedire besteht seinerseits aus den Begriffen ob = gegenüber und audire = hören. Dasselbe ob- findet man in Objekt oder Opposition.

Das deutsche Verb hören entspringt der indoeuropäischen Wurzel keu[s]- = auf etwas achten. Im lateinischen cavere = sich in Acht nehmen ist die indoeuropäische Wurzel deutlich zu hören. Cave canem! hieß es im alten Rom. Vorsicht bissiger Hund! Wörtlich hieß das: Beachte den Hund. Cavere und hören sind eng verwandt.

Gehorsam, die deutsche Entsprechung der lateinischen Obe­dienz, heißt: auf das Gegenüber achten... um sich an dessen Forderungen auszurichten.

2. Grundmuster religiöser Ausrichtung

Religion kann als Wiederanbindung verstanden werden. Wenn Lactantius' etymologische Deutung zutrifft, dass der Begriff Religion nämlich auf lateinisch religare = wiederanbinden zurückgeht, dann auch mit sprachgeschichtlicher Berechtigung. Wiederanbindung bedarf der Ausrichtung auf das, zu dem Bindung gesucht wird. Gemäß dem Weltbild, das der religiösen Ausrichtung vorangeht, folgt die Ausrichtung auf das Gesuchte zwei grund­sätzlichen Mustern:

  1. Im dualistischen Weltbild ist das Gesuchte entrückt. Es liegt außerhalb des Suchers. Es steht ihm gegenüber. Gesuchtes und Sucher sind füreinander Objekt.

    Dualismus und Egozentrik

    Im religiösen Dualismus gilt das Geschöpf als etwas Gemachtes. Im religiösen Monismus gilt es als Ausdruck. Als Ausdruck ist es der Würde gewiss. Dem Gemachten könnte Wür­de verliehen werden... wenn es den Verleiher dazu bringt, es zu tun.

    Das Verhältnis zwischen Mensch und Gott ist gemäß dualistischer Weltsicht politisch. Der Mensch steht göttlicher Macht gegenüber. Er verhält sich so, dass sie seiner Person nützt und ihr Schaden erspart. Das Denken bleibt egozentrisch. Mehr noch: Im dualistischen Bild ist es außerstande, seine egozentrische Sicht zu überwinden.

  2. Im mystisch-monistischen Weltbild ist das Gesuchte im Su­cher ausgedrückt; und der Sucher ins Gesuchte eingebettet. Das Gesuchte liegt innerhalb und außerhalb des Suchers. Es liegt vor ihm als sein Gegenüber und in ihm als sein Selbst. Als Subjekt fällt der Sucher mit dem Gesuchten in eins.

    Als religiöser Monismus wird hier die Vorstellung bezeichnet, dass es zwischen verursachender Kraft und verursachter Erscheinung eine wesenhafte Verbindung gibt. Während im dualistischen Bild das Geschöpf jenseits des Schöpfers willkürlich dahingestellt ist und ihm gegenübersteht, geht das monistische Bild von einem Gott aus, der nichts verwirklicht, was nicht zugleich Ausdruck seines Wesens wäre.

Unterwerfung und Anspruch

Gehorsam ist Unterordnung. Unterordnung untergräbt das Selbstwertgefühl. Als Ersatz bietet Gehorsam dem Ego Stolz, Hochmut und Anspruchsdenken an. Ich bin etwas Besseres als die anderen, weil ich der Macht gehorche. Mir steht das Himmelreich zu, den anderen die Hölle. Die Dynamik aus gekränktem Selbstwertgefühl und dem Versuch, es durch Hochmut zu heilen, schlägt Andersdenkenden bei Gelegenheit als fremdgefährlicher Wahn entgegen.

Entsprechend der beiden Grundmuster wählt religiöses Verhalten verschiedene Wege.

Auch die verbal vermittelte religiöse Botschaft kommt von außen. Nicht, dass eine Botschaft, die von außen kommt, nicht auf das Ziel verweisen könnte. Sie stimmt aber nur dann, wenn das Ziel, auf das sie verweist, innen liegt.

Aufrichtigkeit

Aufrichtigkeit ist eine Haltung, die Unterwer­fung ausschließt. Sollte es dem Himmel ge­fallen, dass der Mensch aufrichtig ist, wäre es erstaunlich, würde er erwarten, dass man ausgerechnet im Umgang mit ihm die aufrechte Haltung aufgibt. Den Befür­wortern des Gehorsams mag es gefallen, dass sich Heere Unterworfener verneigen. Ob es dem Himmel gefällt, dass ihm die Gläubigen dabei den Rücken zuwenden, blieb bislang sein Geheimnis.

2.1. Gehorsam

Gehorsam als religiöse Tugend ist die logische Konsequenz eines gespaltenen Weltbilds. Der Glaube an seinen religiösen Wert war schon im Polytheismus der Antike verbreitet. Auch der griechische Stadtstaat meinte, er müsse diesen oder jenen Gott durch Unterwerfungsgesten auf die eigene Seite bringen. Solange man verschiedene Götter zur Auswahl hatte, musste man das Preisdiktat des einen aber nicht bedingungslos hinnehmen. Das Gebot des Gehorsams blieb relativ.

Als der heidnische Polytheismus dem politisch-konfessionellen Monotheismus unterlag, wurde das Gebot des Gehorsams totalitär. Du sollst keinen anderen Gott neben mir haben heißt: Du sollst keine andere Idee haben als dich denen zu unterwerfen, die den Glauben predigen, dass du dich zu unterwerfen hast.

Ordensregeln

In den ⇗Ordensregeln der Benediktiner heißt es...

In der muslimischen Auslegung der abrahamitischen Weltsicht steht der Gehorsam so im Vordergrund, dass Religion und Unterwerfung sprachlich gleichgesetzt werden. Islam (الإسلام) geht auf das arabische Verb aslama (اسإم)= sich ergeben, sich unterwerfen zurück. Gleiches gilt für das Wort Muslim. Der Muslim ist der Sich-unterwerfende.

Auch das Wort Moschee spricht den gleichen Vorgang an. Das arabische masdschid (مسجد) geht auf das Verb sadschada (سجادة) = sich niederbeugen, verehren zurück (Will Durant: Das Zeitalter des Glaubens, Francke Verlag 1952, Seite 241). Die Moschee ist der Ort der Niederwerfung. In der Moschee unterwirft sich der Mensch der Macht.

Alkoholverbot
Bekanntlich ist es dem Moslem verboten, Wein zu trinken. Man sollte also meinen, dass Alko­holkonsum in den Augen des Islam verwerflich ist. Inhaltlich ist er das jedoch nicht. Das Alkohol­verbot auf Erden ist lediglich Prüfstein des Gehorsams. Hat sich der Gläubige als gehorsam erwiesen, bekommt er als Lohn der Abstinenz einen Platz im islamischen Himmel. Dort ist Weinkonsum nach Belieben erlaubt. Wenn sogar im Himmel mit Gottes Zustimmung getrunken wird, wie kann Trinken dann Sünde sein?
2.2. Erkenntnis

Während die Gläubigen dualistischer Konfessionen das Heil in Unterwerfung und Gehorsam suchen und sie daher nach außen blicken, richtet sich die Achtsamkeit des monistisch Gläubigen nach innen und außen zugleich. Da er Schöpfer und Geschöpf nicht kategorisch voneinander trennt, ist nicht der Gehorsam das Fundament seiner Suche nach Heil, sondern die Erkenntnis seiner selbst und seiner Position im Ganzen.

Versuch und Irrtum
Wer nach Süden will, aber nicht nach Süden geht, kommt dort nicht an. Das ist keine Strafe für mangelnden Gehorsam, sondern Folge einer Ursache: der fehlenden Kenntnis fakti­scher Zusammenhänge. Dass Gott von Geschöpfen Gehorsam fordert, ist unbewiesene Behauptung. Gehorsam zu fordern ist Besitzanspruch. Der Ruf nach Gehorsam ist der Anspruch einer befehlenden Person, durch den sie sich eine gehorsame Person zum Besitz machen will.

Tatsächlich schaut das Selbst zu, wie der Mensch die Wirklichkeit erkundet und so den Weg entdeckt, der zu ihm führt. Wenn Besitz das Verhältnis Gottes zur Schöpfung überhaupt beschreibt, dann besitzt er unverlierbar alles; egal ob es den Weg findet oder sich verirrt. Gott zu unterstellen, ein besitzheischendes Ego zu sein, das der Eigensinn, den es seinen Kreaturen anvertraut, in Rage bringt, sobald sie die Gabe verwenden, ist Resultat einer Verwechslung. Das Ego, das glaubt, Gott verlange Gehorsam, überträgt sein beschränktes Selbstbild auf das Absolute.

2.3. Ergebung

Zu unterscheiden sind Unterwerfung und Ergebung. So führt religiöse Erkenntnis zwar regelhaft dazu, dass sich der Erkennende dem Erkannten ergibt, seine Ergebung ins Ganze ist aber keine Unterwerfung.

Sich ergeben und sich unterwerfen sind kategorisch unterschiedliche Vorgänge. Das belegt ein Vergleich denkbarer Aussagen.


Mögliche und unmög­liche Vorgänge
mög­lich unmög­lich
Sich unter­werfen Ich unter­werfe mich.
Ich unter­werfe dich.
Sich erge­ben Ich erge­be mich. Ich erge­be dich.

Der Vergleich zeigt: Entgegen dem ersten Anschein sind die Verben sich ergeben und unterwerfen nicht synonym. Wären sie es, wäre der Satz Ich ergebe dich sinnvoll. Ergebung erfolgt von innen heraus. Unterwerfung beugt sich äußerem Druck. Die Verben benennen weder denselben Vorgang noch führen sie zum gleichen Resultat.

Falls das Arabische beide Begriffe im Verb aslama (اسإم) gleichsetzt, belegt es damit einen Mangel an Unterscheidungskraft. Der Koran jedenfalls begnügt sich keineswegs damit, dass man sich seiner Lehre aus freien Stücken durch Erkenntnis ergibt. Er fordert, dass man sich seinem Anspruch unterwirft. Dazu erteilt er Gläubigen einen klaren Auftrag:

Sura 9, 5:**
... tötet die Götzendiener, wo ihr sie auch findet, fanget sie ein, belagert sie und stellt ihnen nach aus jedem Hinterhalt.


Unterschiede
sich ergeben sich unter­werfen
Ergebung ist Ergebnis von Einsicht. Unterwerfung ist Ergebnis von Ohnmacht.
Widerstand ist unangemessen. Wer sich ergibt, anerkennt das Recht dessen, dem er sich ergibt. Widerstand ist zwecklos. Wer sich unterwirft, beugt sich einer Macht, die ihn überwältigt.
Wer sich ergibt, erkennt seinen Platz im Ganzen. Er spekuliert auf keinen Gewinn. Sein Ego gibt jeden Anspruch auf, der durch den Platz im Ganzen nicht bereits erfüllt ist. Sich zu unterwerfen ist berechnend. Durch Unterwerfung sichert der Unterworfene sein Ego. Er schützt es vor Schaden und erhebt Anspruch auf Unterwerfungs­gewinn.
Ergebung ist ein freier Akt der Selbstbestimmung. Unterwerfung ist Akzeptanz von Fremdbestimmung.

Ergebung und Unterwerfung trennen zwischen Religion und Rebellion. Wer sich unterwirft, würde seinen Herrscher stürzen, wenn er die Macht dazu hätte. Nur wer sich erkennend ergibt, bindet sich tatsächlich ins Ganze. Wer gehorcht, ist im Herzen treulos.

Man kann sowohl sich selbst als auch einen anderen unterwerfen. Das zeigt, dass Unterwerfung eine Aggression des Egos gegen das Selbst ist. Das Ego beugt das eigene Selbst oder das eines anderen im Interesse seiner Zwecke.

Wer sich dem Heiligen unter­werfen will, erklärt es zum Feind.

Das Eingeständnis, unwissend zu sein, ist religiöser als jede Inbrunst, mit der man einen Lehrsatz für wahr erklärt.

Ergebung ist etwas anderes. Indem man die Stelle erkennt, die man im Kosmos innehat, ergibt man sich ins eigene Selbst. Aus der Erkenntnis ergibt sich die Wahl dessen, was man für richtig hält. Es ergibt sich und man ergibt sich gehen ineinander über. Ergebung ist der Verzicht des Egos auf Dominanz. Unterwerfung ist die Maske des Gegenteils.

2.4. Befehl

Befehlen geht auf die indoeuropäische Wurzel pel- = bedecken, umhüllen zurück. Derselben Wurzel entspringen das Fell, die Pelle und der Pelz.

Menschen befehlen Gehorsam. Gottes Befehl lautet frei zu sein.

Fell, Pelle und Pelz sind etymologisch über das althochdeutsche bifelahan = übergeben, anvertrauen, übertragen, begraben mit dem Befehl verbunden. Der Sinnzusammenhang zwischen der Pelle und dem Befehl wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass ein Inhalt seiner Hülle zum Schutz anvertraut wird. Beim Begräbnis wird der Körper des Verblichenen der Erde übergeben. Auch durch den Befehl wird etwas anvertraut. Durch den Befehl wird eine Gabe übergeben.

Während uns die Sprache daran erinnert, dass durch den Befehl eine Gabe anvertraut wird, formuliert das dualistische Denken vorgebliche Befehle Gottes im Sinne eines Machtanspruchs und einer Unterwerfungspflicht. Was laut Dualismus übergeben wird, sind Verhaltensmuster, die auszuführen sind. Keineswegs vertraut er der Freiheit des Einzelnen, über sich selbst zu entscheiden.

Wie kurzsichtig das ist, zeigt die Verwandtschaft zwischen dem Befehl und der Empfehlung. In beiden ist das indoeuropäische pel- enthalten. Das Vertrauen, das im Befehl eigentlich erwiesen wird, ist auch bei der Empfehlung erkennbar. Wer einem anderen etwas empfiehlt, übergibt ihm eine Möglichkeit... und belässt ihm das Recht zur Wahl.

Befehle werden im militärischen Kontext keineswegs als Handlungsempfehlungen oder bloße Befugnis betrachtet. Welche Armee würde je einen Krieg gewinnen, wenn sie das täte? Kriege sind dualistische Prozesse in reinster Form. Daher ist klar, dass auch die verzerrte Auffassung des Befehls als Unterwerfungspflicht unter göttliche Kommandos von dualistischen Religionen übernommen wird.

Man kann dem Schönen, Wahren und Guten dienen, weil es gefordert wird. Dann sind Dienst und Freiheit zwei.
Man kann dem Schönen, Wahren und Guten dienen, weil man sich darin erkennt. Dann sind Dienst und Freiheit eins.

Gemäß dualistischem Gottesbild hat uns ein Allmächtiger als seine Unter­tanen erschaffen. Gemäß mystischem Bild hat ein Allfreier uns uns aus sich selbst heraus übergeben. Mit der Gabe hat er sich in uns verhüllt und der Hülle sein Wesen anvertraut. Da das Wesen des Freien Freiheit ist, lautet der Befehl des mystischen Gottes: Sei frei.

Zu den Gaben Gottes gehören Freiheit und Verstand. Gehorsamsglaube stif­tet dazu an, die Gaben Gottes zu verwerfen.

3. Sehen und gesehen werden

Wer sich unterwirft, will seine Unterwerfung sichtbar machen. Der, dem er sich unterwirft, soll etwas sehen. Dem entsprechen die Gesten der Gehorsams­religion. Der Gläubige blickt im Akt der Unterwerfung auf den Boden. Nicht er soll sehen, wem er sich unterwirft, sondern der Mächtige soll sehen, ob er sich unterwirft.

All das geschieht im Glauben, dass Mächtige Unter­werfung belohnen; was für die Mächtigen der Erde zutreffen mag. Unterwirft man sich, wird man nicht erschlagen, sondern bloß versklavt oder zumindest tribut- und steuerpflichtig. Die Übertragung dieses Musters auf die transzendente Macht ist jedoch eine unbeweisbare Hypothese. Aber auch dann, wenn sie falsch ist, dient sie den Mächtigen der Welt.

Die große Macht im Universum ist das Sehen. Nicht dass die Macht des Sehens Gesehenes in irgendeinen Zustand beugt, sehen befreit vielmehr den Seher aus der Herrschaft dessen, was er sieht. Was beugt, ist kleine Macht. Was sieht, ist große Macht. Große Macht ist nicht, was unterwerfen will. Große Macht ist, was Unterworfenes befreit.

Dass der Griff zum Baum der Erkenntnis als Ursünde gilt, ist einer der beiden mythologischen Pfeiler der Gehorsamsreligion. Der Unter­worfene soll nicht sehen, sondern sich unwissend fügen.

Der zweite Pfeiler ist der Mythos von der göttlichen Gehorsamsprü­fung Abrahams. Der Gläubige soll seinen Gehorsam dadurch zeigen, dass er als Vater bereit ist, das Vertrauen seines Sohnes zu dessen Ermordung zu nutzen. Der Unterworfene soll sich vollständig ent­blößen, damit der Mächtige seine Unterwerfung kontrollieren kann.

3.1. Psychologische Aspekte

Das Verbot der unbefangenen Erkenntnis, durch das Gehorsamsreligionen ihren Glauben schützen, hat tiefreichende Folgen für den Bezug des Individuums zu sich selbst. Je mehr der Einzelne auf äußere Vor­gaben und kollektive Verhaltensregeln ausgerichtet wird, desto unfähiger wird er, sich selbst zu reflek­tieren. Statt sich seiner selbst bewusst zu sein, betreibt der Gehorsamsgläubige ein angepasstes Rollenspiel. Dazuzugehören wird überwertig. Sich selbst zu bestimmen und zu verstehen, gerät aus dem Blick.

Programmierungen

Manche Ideen verbreiten sich in Köpfen wie Viren im Netz. Der Ideoscript-Code dazu lautet:

<script>
function Ausbreitung () {
var datum = Geburtstag;
Sorge dafür, dass deine Kinder so denken wie du;
while: Bestrafe deine Kinder, wenn sie es nicht tun;
if not: Dann wirst du bestraft;}
</script>

Die alte Code-Anweisung...

2 Moses 13, 8:*
Du sollst es deinem Sohne einschärfen...

... gilt beim Ideoscript-Konsortium als deprecated. Deprecated heißt: Sie wird zwar noch von Millionen veralteter Browser ausgeführt, sollte zugunsten der Globalisierung aber durch die plattformübergreifende Variante ersetzt werden.

Nur weil das Heilige nicht beliebig ist und das, was es bewirkt, keine Willkür, ist es nicht egal, was der Mensch mit seiner Freiheit macht. Es hat Konsequenzen für das Ganze und nicht nur für seine Person. Im Himmel-Hölle-Schema der Gehorsamsreligion endet Verantwortung beim Eigennutz. In der Erkenntnis geht sie darüber hinaus.

Das gelobte Land ist nicht nur ein gepriese­nes Land. Es ist auch ein ausgelobtes Land. Ausgelobt heißt: Sein Besitz ist als Preis für die bestmögliche Unter­werfung ausgesetzt.
3.2. Soziale und politische Aspekte

Auf sozialer und politischer Ebene ist Gehorsam Ausdruck und Garant hierarchischer Ordnung. Es ist daher kein Zufall, dass sich staatliche Macht fast immer auf konfessio­nelle Religionen stützt und kaum je für mystische Formen eintritt. Konfessionen bemächtigen sich staatlicher Strukturen. Staaten benutzen Konfessionen für Herrschaftszwecke. Keine Konfession hat sich je ohne die Unterstützung staatlicher Gewalt flächendeckend verbreitet.

Es stimmt zwar: Das Christentum hat sich auch gegen den Widerstand des heidnischen Roms im römischen Reich behauptet. Katholisch (griechisch katholikós [καθολικος] = alles umfassend), wurde es aber erst, als staatliche Macht dafür sorgte, dass sich niemand mehr dem Zugriff der Glaubensgemeinschaft entziehen konnte.


Religiöse Grundmotive im Überblick
Gehor­sam Erkennt­nis
poli­tisch-konfes­sionell mys­tisch-spiri­tuell
Schwer­punkt im Grund­konflikt Gehöre dazu. Bestimme Dein Selbst.
Umgang mit Selbst­wert Ordne dich unter. Richte Dich auf.
Das Heilige ist... eine ent­rückte Obrig­keit, die straft, belohnt, fordert und verur­teilt. das imma­nente Wesen aller, das der Frei­heit zur Entschei­dung Verant­wortung beilegt.
Man sollte das Rich­tige tun... weil es persön­liche Vor- oder Nach­teile ein­bringen kann. weil es ins Gewebe der Wirk­lich­keit einwirkt.
Was richtig ist... wird als Dogma vorge­geben. kann durch Acht­sam­keit ermit­telt werden.
Aus­rich­tung der Acht­sam­keit Beachte, was von außen gefordert wird. Gehorche irdi­schen Stell­vertre­tern. Beachte Dein Inneres. Folge dem Gewissen. Erkenne Dich selbst.
Endziel Etwas zu bekommen. Unver­fälscht zu sein.
Gesell­schafts­modell feudal / hierar­chisch demo­kratisch / soli­darisch
Grund­ent­schei­dung Der Mensch ist als etwas willkürlich von Gott Gemachtes bloß Objekt. Als Subjekt ist jeder Ausdruck dessen, was ihn erschafft.
Hand­lungs­maxime Ernie­drige dich, damit du erhöht wirst. Ent­spreche Dir selbst.
Menschen­bild Der Mensch ist sein Ego. Als solches ist er grund­sätz­lich schlecht, bis er sich ver­worfen hat. Der Wesens­kern des Men­schen ist sein Selbst. Das Ego ist als Werk­zeug in Ord­nung, wenn es ver­antwort­lich ver­wendet wird.
Motto Glaube! Du darfst nicht vom Baum der Erkennt­nis essen. Zweifle! Nur wenn Dein Zweifel das Falsche entdeckt, kannst Du das Rich­tige tun.
Rück­bindung... an Glau­bens­gemein­schaft und Stell­vertre­ter. an die Gegen­wart des Hei­ligen im eige­nen Selbst.
Men­tale Modi Gehor­sam beur­teilt. Erkennt­nis nimmt wahr.

4. Rückbindungen

Sowohl die Gehorsams- als auch die Erkenntnisreligion betreibt Rückbindung; allerdings auf zweierlei Art und aus einem unterschiedlichen Menschenbild heraus.

Der Gehorsame sucht Zugehörigkeit durch Verzicht auf Selbstbestimmung.

Der Erkennende erkennt Zugehörigkeit, indem er sich selbst bestimmt.

Die Rückbindung der konfessionellen Religion ist ihrem Wesen nach sozial und politisch. Der Gläubige bindet sich an eine Gruppe, indem er deren Regeln gehorcht.

Das Muster dieser Rückbindungsform kommt im jüdischen Glauben an die Gehor­samspflicht des Einzelnen gegenüber der eigenen Gruppe in archetypischer Weise zum Ausdruck. Kein guter Jude - so lautet die Lehre - darf sich den politischen Vorsätzen seines Volkes straflos entziehen. Mehr noch: Die Regeln seiner Lehre gehorsam auszuführen, gilt laut alttestamentarischem Glauben als Seinszweck des Juden an sich. Er wurde von Gott in die Welt gesetzt, um vorgeschriebene Rituale durchzuführen. Zur Freiheit individueller Entscheidungen wurde er befähigt, um sie gehorsam zu verwerfen.

Religiös im vollgültig religiösen Sinne ist erst die Rückbindung der mystischen Spiritu­alität. Indem sie die Bindung zur Gruppe als zweitrangig erkennt, bindet sie an das zurück, wodurch und womit der Mensch erstrangig verbunden ist: an sein absolutes Selbst. Zugleich erweitert sie sein Zugehörigkeitsgefühl über jeden Gruppenhorizont hinaus; weil sie das absolute Selbst als das Selbst aller anerkennt.

Gehorsam
wendet sich dem Ritus zu. Er gleicht Formen aneinander an.

Erkenntnis
verwendet meditative und intro­spektive Techniken. Sie versucht, Inhalte zu bestimmen und ihren Zusammenhang zu verstehen.
Konfliktlinien
Bei der Betrachtung des Gehorsams fallen zwei Begriffe: Zugehörigkeit und Selbst­bestimmung. Es sind dieselben Begriffe, die die Psychologie zur Beschreibung eines seelischen Grundkonflikts verwendet.

In der Religion ist der psychologische Grundkonflikt entschieden zugespitzt. Zuge­hörigkeit ist das entwicklungspsychologisch frühere Bedürfnis. Seine Macht zeigt sich am Sog konfessioneller Gemeinschaften. Sie bieten Zugehörigkeit für Unter­werfung. Im Schoß der Glaubensgemeinschaft fühlt der Vereinzelte Geborgenheit. Im Konflikt gibt er Selbstbestimmung zugunsten sozialer Verbundenheit preis.

Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und -erkenntnis kommt entwicklungspsycho­logisch später. Es wendet sich der Mystik zu. Um sich selbst zu erkennen, lockert das Ich die Loyalität zu kollektiven Werten. Es wechselt von kollektiver Moral zu individueller Ethik.

Den Glauben an den Wert reiner Erkenntnis deuten die Parteigänger des Gehorsams als Bedrohung ihres schützenden Zusammenhalts. Je mächtiger das soziale Zuge­hörigkeitsbedürfnis konfessioneller Gruppen ist, desto misstrauischer ver­halten sie sich gegenüber mystischer Religiosität. Eigenständige Suche wird als Ketzerei verteufelt. Eine Übereinstimmung von Konfession und Mystik wird es niemals geben. Zur Mystik gehört die Überwindung aller Lehrsätze, zu denen man sich angeblich bekennen muss. Mystik fängt an, wo Konfession endet.

5. Kulturgeschichte

Glaubensgehorsam erschwert den Weg zu vertiefter Religiosität. Das heißt nicht, dass er kulturgeschichtlich wertlos gewesen wäre. Die westlichen Gehorsams­lehren sind antiken (Judentum und Christentum) und mittelalterlichen (Islam) Ursprungs. Antike und Mittelalter waren vom Wogen gewaltsamer Gruppenkonflikte durchsetzt. Völker unter das Joch einheitlicher Dogmen zu zwingen, kann daher auch als Fortschritt verstanden werden. Für viele Untertanen wird ein Kalif, ein Papst, ein Monarch von Gottes Gnaden besser gewesen sein als zweihundert zankende Zwergfürstentümer.

Konfession hat Religion zugunsten der Politik zurückgestellt. Es täte uns gut, das Verhältnis zurechtzurücken.

Der größte Wert der Gehorsamslehren liegt aber nicht auf dem Feld des Religiösen, sondern auf dem der Ordnungs- und Sozialpolitik. Da man versuchen kann, Geschichte zu verstehen, der Vorsatz, ihre Entscheidungen für falsch zu erklären, jedoch belegbarer Beweise entbehrt, wird ein redliches Urteil letztlich so klug sein, ihre geschichtliche Berechtigung als schicksalhaft anzuerkennen. Das braucht uns aber nicht davon abzuhalten, heute über die Denkmuster der Vergangenheit hinauszugehen.

In einer Welt, in der sich alle Völker aufeinander zubewegen, sind Mythologien, die Unterschiede betonen, eine Gefahr für die friedliche Integration. Spaltung ist durch Spaltung unüberwindbar, selbst wenn sich alle für eine Seite der Spaltung entschieden. Gehorsam kann kein Gebot der Zukunft sein, ohne dass der Mensch seine Bestimmung verfehlt.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.
** Der Koran, (Komet-Verlag, ISBN 3-933366-64-X), Übersetzung von Lazarus Goldschmidt aus dem Jahr 1916.