Vernunft


  1. Begriffsbestimmung
  2. Störungen der Vernunft
    1. 2.1. Nicht können
    2. 2.2. Nicht wollen
      1. 2.2.1. Individuelle Verweigerung
      2. 2.2.2. Kollektive Verweigerung
    3. 2.3. Nicht dürfen
  3. Felder der Vernunft
    1. 3.1. Alltag
    2. 3.2. Wissenschaft
    3. 3.3. Politik
    4. 3.4. Religion
Das egozentrische Bewusstsein bleibt durch seine Vorteilsrechnung in der Unvernunft gefangen. Es vernimmt nur, was seinem Horizont entspricht. Vernunft rückt das Ich aus dem Ego in die Wirklichkeit. Dort ist das Glück.

Vernunft ist die Stimme des Himmels im Menschen und das Ohr des Menschen um die Stimme zu hören.

1. Begriffsbestimmung

Vernunft ist eine geistige Aktivität. Sie ist praktiziertes Verneh­men. Beim Vernehmen wird das Vernehmbare, also der erkennbare Teil der Wirklichkeit, als Erkenntnis ins Weltbild der Person übernom­men. Darauf verweisen die Vorsilbe ver- und das Verb nehmen.

Vom An- und Vernehmen

Akzeptanz ist ein Gebot der Vernunft. Er­kennbares zu vernehmen bedeutet zugleich, die Wirklichkeit zu akzeptieren, wie sie ist. Zur Wirklichkeit, die zu akzeptieren ist, gehört die innere Reaktion, die auf äußere Ereignisse antwortet. Eine seelische Reaktion zu akzeptieren, heißt nicht, sie stets in Ta­ten umzusetzen. Oft reicht es, ihrer Existenz Respekt zu zollen. Nur wer die Existenz all seiner Elemente wahllos anerkennt, ohne darüber zu Gericht zu sitzen oder sie mit der äußeren Wirklichkeit zu verwechseln, kann überhaupt vernünftig sein.

Ver- heißt verschieben, überführen, von dort nach da übertragen. Das Verb nehmen im Prozess der Vernunft besagt, dass der Ver­nünftige das Vernehmbare nicht nur anschaut, sondern das von ihm annimmt, was seine Wahrnehmung als wahr erkennt. Die Wissenschaft bezeichnet diesen Vorgang auch als Apperzeption (von lateinisch ad = hinzu und percipere = wahrnehmen). Die Apperzeption fügt sinnlich oder logisch Wahrnehmbares einem Sinngefüge zu.

Das Weltbild, zu dem auch das Selbstbild gehört, dient der Orien­tierung des Individuums in der Wirklichkeit. Es ist ein Lageplan, der aus Erfahrungen und Vermutungen aufgebaut wird. Zusammen mit dem momentan Wahrnehmbaren bildet das Weltbild die Grundlage der Entscheidungen. Vernunft ist nur dann Vernunft, wenn das Vernehmbare, das ins Weltbild übernommen wird, als das Wahrge­nommen wird, was es ist. Ein Trugbild ist ein Teil der Wirklichkeit. Sein Umgang damit entspricht aber nur der Vernunft, wenn es als Trugbild eingeordnet wird.

Verstand und Vernunft - Geschwister im Geiste

Auf dem Wechselspiel von Verstand und Vernunft fußt geistiger Fortschritt. Was der Vernunft widerspricht, widerspricht auch dem Geist. Der Geist hat zwar die Fähigkeit, unvernünftig zu sein, er ist aber nur Herr seiner selbst, wenn er sein Spiel erkennt. Erkennt er sein Spiel nicht, ist er der Spielball.

Der Vernünftige richtet sein Handeln am Vernommenen aus. Das Potenzial, vernünftig zu handeln, wächst mit Menge und Bedeutung verstandener Wirklichkeit. Dabei unter­liegt der Verstand einem Paradox: Wer wenig versteht, glaubt, dass es viel ist. Wer viel versteht, weiß, dass es wenig ist. In der Folge fühlen sich vor allem jene, die wenig verstehen, dazu berufen, viel vom wenigen umzusetzen. So kommt es, dass der Mensch oft Dinge tut, deren Motiv, sie zu tun, oft unvernünftig ist.

2. Störungen der Vernunft

Störungen der Vernunft sind häufig. Dafür sind verschiedene Faktoren verantwortlich. Sie können drei Kategorien zugeordnet werden:

  1. nicht können
  2. nicht wollen
  3. nicht dürfen
2.1. Nicht können

Der Mensch ist in der Lage, einen Teil der Wirklichkeit zu erkennen. Dazu stehen ihm vier Wege offen.

Vier Wege der Erkenntnis

Prinzip Beispiel
1 Unmittelbarer Erkenntnisgewinn durch logische Denkakte Da zwei mal zwei vier ist, ist vier durch zwei zwei.
2 Mittelbarer Erkenntnisgewinn durch Verwendung der Sinnesorgane Ich habe gesehen, wie der Stein im See versank.
3 Mittelbarer Erkenntnisgewinn durch technische Methoden Die C14-Methode ergab, dass schon der Wasseraffe Krabben aß.
4 Lernen durch Informations­übertragung von Mensch zu Mensch Es heißt, dass man mit der schwarzen Mamba keine Scherze treiben sollte.

Obwohl die menschlichen Möglichkeiten, die Strukturen der Wirklichkeit zu vernehmen, beträchtlich sind, können wir davon ausgehen, dass es jenseits unseres sinnlichen und intellektuellen Horizonts Bereiche gibt, die unserer Vernunft verschlossen bleiben. Ein vernünftiger Mensch wird sich im Klaren sein, dass seine Vernunft an Grenzen stößt.

Die physiologische, also biologisch vorgegebene Vernunftgrenze des Menschen ist beim Kind mangels Erfahrung enger. Zusätzlich verengt wird sie durch...

Krankheiten, die die Vernunftfähigkeit herabsetzen:

Psychotrope Substanzen

Der Stellenwert von Rauschzuständen durch psychotrope Substanzen hängt von den Umständen ihres Einsatzes ab. Im Grundsatz kann jede Substanz die Grenzen der Vernunft erweitern, indem sie Erfahrungshorizonte öffnet, die ohne Substanz nicht oder nur schwer erreichbar wären. Ist die Erfahrung aber gemacht und wird der Konsum zur Gewohnheit, um unangenehme Erfahrungen zu verdrängen, übersteigt der Schaden schnell den Nutzen. Das zu ignorieren, ist praktizierte Unvernunft. Die Verdrängung unangenehmer Erfahrungen durch vorübergehend angenehme Substanz­wirkungen führt in den Kreislauf der Sucht. Jede Sucht heißt: Ich will die Wirklichkeit nicht so vernehmen, wie sie ist. Jedes Ausblenden der Wirklichkeit führt dazu, dass der Umgang mit ihr erschwert wird.

Bei seelischen Problemen, die psychologische Abwehrmechanismen einsetzen, ist der Unterschied zwischen dem Unvermögen, vernünftig zu sein und der mangelnden Bereitschaft dazu, oft kaum erkennbar.

2.2. Nicht wollen
Nicht können, nicht dürfen und nicht wollen gehen oft nahtlos ineinander über.

Ein mächtiger Gegner der Vernunft ist die Weigerung, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die eigentlich unübersehbar sind. Wichtige Abwehrmechanismen, die diesem Vorsatz dienen sind:

Zwei Formen der absichtlichen Unvernunft sind weit verbreitet: die individuelle und die kollektive. Absichtlich heißt dabei: Vom tatsächlich Vernehmbaren wird abgesehen, um Ziele zu erreichen oder Zustände aufrechtzuerhalten, die man durch das Vernehmbare gefährdet sieht. Dem, der Vernunftgründe absichtlich zurückweist, ist seine Absicht oft nicht bewusst. Sie wird verdrängt, weil die Erkenntnis der Absicht die Ausführung des Unvernünftigen erschweren würde.

2.2.1. Individuelle Verweigerung der Vernunft

Die individuelle Weigerung, Vernehmbares zur Kenntnis zu nehmen, ist eine Strategie des Egos. Das Ego versucht jenes Bild von sich und der Welt aufrechtzu­erhalten, von dem es am meisten zu profitieren glaubt. Glaubt es, dass ihm eine vernehmbare Erkenntnis schaden könnte, versteift es sich in Unvernunft. Zur Vernunft ist das Ego meist nur bereit, wenn es unter den Folgen seiner Unvernunft zu leiden hat. Viele lernen nur, wenn sie vom Schicksal Prügel beziehen. Allerdings ist selbst das nicht sicher. An manchen schlägt sich das Schicksal die Finger wund, weil ihr Ego nicht von der unbewussten Absicht lassen kann, über die Wirklichkeit zu triumphieren.

Werkzeuge individueller Verweigerung
Um grundsätzlich Vernehmbares daran zu hindern, Selbst- und Weltbild zu verän­dern, setzt man verschiedene Werkzeuge ein. Dazu gehören klassische Abwehr­mechanismen ebenso wie der Alkohol- und Drogenkonsum.
Wohlgemerkt

Abwehrmechanismen sind kein Teufelszeug. Es sind Mittel, um die Entwicklung des Selbstbilds zu steuern. Ihr Einsatz erfolgt unbewusst; und zwar aus der Entwicklungsgeschichte heraus, die die abwehrende Psyche bis dato durchlaufen hat. Abwehrmechanismen regulieren die Arbeit der Vernunft. Dabei werden Akte des Vernehmens eingeschränkt. Akte des Vernehmens zu einem bestimmten Zeitpunkt einzuschränken, muss aber nicht zwangsläufig zum Nachteil dessen sein, der Vernehmbares dadurch ignoriert. Bei so mancher Wahrheit kann es sein, dass ein günstigerer Zeitpunkt, sie zu vernehmen, erst noch kommt.

Als Nadja ihre Abschlussprüfung in der Tasche hatte und ihr Hajo per WhatsApp schrieb, dass er sich mit ihr treffen wolle, erschien ihr Gunters Treulosigkeit unübersehbar.

Oft bleibt die Vernunft aber dauerhaft in einem Netzwerk aus der Angst vor der Wahrheit und abwehrenden Mechanismen stecken.
2.2.2. Kollektive Verweigerung der Vernunft

Für die kollektive Verweigerung der Vernunft sind meist Weltbilder verantwortlich, die sowohl der Wirklichkeit wider­sprechen als auch davon ausgehen, dass der Widerspruch gegen das Gebot der Vernunft und die Weigerung, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, aus moralischen und/oder religiösen Gründen erforderlich ist.

Typische Vertreter solcher Weltbilder sind konfessionelle Religionen, die den Glauben an ihre Lehrsätze kategorisch über die Erkenntnis stellen. Typisch sind auch geschlossene politische Weltanschauungen, die Menschen umfassendes Heil versprechen und deren Binnenstruktur alles von sich weist, was ihre Richtigkeit in Frage stellt. Radikal rechtes Gedankengut kann sich ebenso wie radikal linkes nur über Wasser halten, wenn es den Anker der Vernunft über Bord wirft.

Während individuelle Zurückweisungen der Vernunft mal jenen, mal diesen Bedürfnispol des Psychologischen Grundkonflikts bedienen, steht das Bedürfnis nach Zugehörigkeit bei der kollektiven Verweigerung im Vordergrund. Man verleugnet die Vernunft, weil man sonst aus der Gemeinschaft der Unvernünftigen verstoßen würde; oder ihrem Hass zum Opfer fiele. Die Behauptung, Juden seien minderwertig, als Unfug zu erkennen, hätte Millionen keinerlei Mühe gemacht, hätte sie die Erkenntnis nicht demselben Hass preis­gegeben, der den Unfug allen Vernunftgründen zuwider erfand.

2.3. Nicht dürfen

Grundregel

Nicht vernünftig sein zu wollen, zielt auf persönliche Vorteile ab, die man sich durch Unvernunft verschaffen will. Darf man nicht vernünftig sein, geht es um soziale Nachteile, die man zu vermeiden versucht.


Wo Presse- und Meinungsfreiheit missachtet werden, lügt die Regierung.

Nicht vernünftig sein zu dürfen setzt Machtstrukturen und -gefälle vor­aus, die die Unvernunft der Zustände gewaltsam aufrechterhalten, weil es den jeweils Mächtigen Vorteile bringt. Um die Vernunft Beherrschter zu behin­dern, setzt politische Macht zwei Werkzeuge ein:

  1. Sanktionen

    Durch Sanktionen werden Einzelne eingeschüchtert, deren Vernunft Tatsachen benennt, die andere nicht hören wollen. Unmittelbare Repressalien wenden vor allem Diktaturen an, verdeckte Benach­teiligungen sind aber auch in Demokratien keine Seltenheit. Redak­teure tun im Interesse ihres beruflichen Fortkommens gut daran, geäußerte Sichtweisen mit jenen einflussreicher Kreise abzugleichen. Politiker aller Parteien üben sich in Parteidisziplin. So manches, was ihre Vernunft eigentlich vernehmen könnte, könnte ihrer Wiederwahl schaden. Sichtweisen, die der Zeitgeist nicht wahrhaben will, finden kein Gehör.

  2. Desinformation

    Bei der Desinformation wird vernünftiges Handeln und Reden nicht mit Strafe bedroht. Den Beherrschten werden vielmehr jene Informationen vorenthalten, auf deren Grundlage sie die Wirklichkeit korrekt vernehmen könnten. Desinformativ ist auch, ausgewählte Informationen so in den Vordergrund zu schieben, dass die Sichtweise der Informierten in erwünschter Weise ausgerichtet wird. Strategisch betriebene Desinforma­tion ist ein Bestandteil politischen Handelns, auf dessen Einsatz kaum je eine Regierung verzichtet.

Macht wird nur dann vernünftig angewendet, wenn sie selbst die Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt und ihre Kenntnisnahme durch andere nicht behindert. Was Tatsachen unkenntlich macht, um zu verhindern, dass andere sie vernehmen, fördert den Einfluss der Unvernunft.

Bewusst und unbewusst Vernommenes
Vernunft, also die Bereitschaft, Entscheidungen an der erkennbaren Wirklichkeit auszurichten, kann stets als richtig gelten. Zugleich kann die Vernunft aber auch Tatsachen einbeziehen, deren Kenntnis der Person nicht bewusst zugänglich ist.

Dass Nadja die Signale bezüglich Gunters Untreue zunächst nicht zur Kenntnis nimmt, kann Folge einer Fehleinschätzung oder durchaus vernünftig sein. Vernünftig ist Nadjas Abwehr der Erkenntnis, wenn sie den Verlust Gunters erst überstehen kann, sobald Hajo sein Interesse signalisiert. Dann beruht die Abwehr der Erkenntnis zwar auf unbewusst, aber doch korrekt vernommener Wirklichkeit und ist somit als vernünftig anzusehen. Nimmt Nadja die Demütigung jedoch in Kauf, weil sie ihre Fähigkeit unterschätzt, auch ohne Gunter auszukommen, dann beruht ihre Abwehr auf einer Fehleinschätzung und ist somit unvernünftig.

3. Felder der Vernunft

Da Vernunft die Wahrscheinlichkeit steigert, realitätsge­rechte Entscheidungen zu treffen und somit vorteilhafte Entwicklungen zu bahnen, ist ihr Einsatz beim Vollzug des persönlichen Alltags, in den Wissenschaften, der Politik und erst recht in religiösen Dingen anzuraten.

3.1. Alltag

Vernunft besteht aus zwei Komponenten:

  1. der Berücksichtigung dessen, was mir grundsätzlich bekannt ist.
  2. der Beachtung dessen, was ich jetzt wahrnehmen kann.

Erst die Berücksichtigung der bekannten Regel und dessen, was momentan gegeben ist, schöpft die Möglichkeiten der Vernunft, angemessene Entscheidungen zu treffen, umfassend aus. Während Regeln im Prinzip zeitlos sind oder sich ihre Definition nur langsam ändert, ist das momentan Gegebene niemals ganz vorhersehbar.

Ein unverzichtbares Werkzeug der Vernunft ist daher Achtsamkeit. Nur sie ist in der Lage, das aus der Wirklichkeit zu vernehmen, was zur vernünftigen Anwendung von Regeln notwendig ist. Um der Vernunft im Alltag Vorschub zu leisten, gilt es, dem Alltag gebührend Beachtung zu schenken. Der Vernünftige lebt im Hier-und-Jetzt. Sein Geist kehrt immer wieder dahin zurück. Der Unvernünftige lebt in Vorstellungswelten, die er sich selbst zurechtzimmert.

3.2. Wissenschaft

Dass Vernunft oberstes Gebot beim systematischen Erwerb von Wissen und technischem Know-how ist, braucht man kaum eigens zu erwähnen.

Unterschiede

Das Thema der klassischen Wissenschaften sind die Objekte. Das Ego ist ein virtuelles Objekt. Die Psychologie befasst sich mit dem Ego. Sie ist daher eine klassische Wissenschaft.

Religion ist die Wissenschaft von der Freisetzung des Subjekts. In der Religion geht es um die Frage, wie sich das Subjekt aus der Identi­fikation mit Objektivem lösen kann. Da Religion Wissen­schaft ist, sind wissenschaftliche Regeln der Wahrheits­findung auch bei spirituellen Fragen gültig. Wissenschaftlich wird Wahrheit auf zweierlei Wegen gefunden:

  1. im Experiment, also durch überprüfbare Erfahrung
  2. durch logische Schlussfolgerung

Durch Lehrsätze, deren Infrage­stellung als sündig gilt, wird Wahrheitsfindung behindert.

3.3. Politik

Je mehr Macht sich Gruppen oder Einzelne über Gesellschaften verschaf­fen, desto mehr wird die Vernunft durch Gruppendruck und Strafan­drohung gegenüber Vernunftwilligen behindert. Da es bei der Vernunft um ein Vernehmen von Tatsachen geht, neigt jede Macht, die parteiliche Interessen vertritt, dazu, Tatsachen zu vertuschen oder verzerrt darzustellen, um die Vernunftfähigkeit des Publikums zu untergraben. In der Partei­lichkeit ist die Bereitschaft, Vernunftgründe zu entkräften, die der parteiischen Zielsetzung im Wege stehen, im Ansatz verankert.

Da Unvernunft zu Fehlentscheidungen führt, hat jede Gesell­schaft, die Parteien über sich bestimmen lässt, einen Preis zu zahlen. Er ist umso niedriger, je mehr Demokratie verwirklicht ist. Vollgültige Demokratie ist direkte Demokratie.

Im Vergleich zur direkten ist die indirekte Demokratie unver­nünftig, weil die Dominanz der Parteien vernunftwidrige Entscheidungen fördert. Grundsätzlich kann das Volk als Ganzes vernunftwidriger entscheiden als es ein Einzelner täte. In der Regel ist es aber umgekehrt. In der Regel ist ein Volk als Ganzes vernünftiger als eine Gruppe von Repräsentanten, da es mehr relevante Wirklichkeit vernimmt, als jeder Ausschnitt.

3.4. Religion
Es gibt keinen Glauben, der über der Wissenschaft steht. Es gibt nur Religion, die höchste Wissenschaft ist. Die Wege zur Befreiung des Subjekts sind objektiv gegeben. Jenseits der Wege beginnt, was objektiv nicht zu erfassen ist. Das Subjekt ist Erkennung der Wirklichkeit. Es schafft Wirklichkeit, indem es sie kennt. Die Wirklichkeit besteht aus der Kenntnis, die das absolute Subjekt von ihr hat.

Vernunft heißt, das Wahre zu vernehmen. Religion heißt, das Wahre in sich aufzunehmen. Das Erste ist ein Schritt zum Zweiten. Vernunft ist praktizierte Religion. Unvernunft ist Aberglaube.

Im Gegensatz zur Wissenschaft, gesteht man Religionen zu, sich durch programmatische Unvernunft über die Wirklich­keit hinwegzusetzen.

1 Korinther 1, 21-23:*
Denn da die Welt mit ihrer Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Heilsbotschaft die zu retten, die glauben...

Tatsächlich kann man erst nach Abschalten der Vernunft daran glauben, dass ein gottgefälliges Leben, also doch wohl eins, das sich an Wahrheit ausrichtet, ausge­rechnet durch Torheit zu erreichen wäre. Solch ein Vorgehen wäre Glücksspiel, weil dem Toren die Vernunft fehlt, aus den tausend Torheiten, die er begehen könnte, genau jene herauszufinden, die angeblich Gott gefällt. Daher verwenden die Toren dieser Welt bei der Wahl ihrer Torheiten kaum je Mittel der Vernunft. Statt vernunft­gemäß zwischen wahr und unwahr zu entscheiden, halten sie jene Torheit für wahr, die sie von ihren Vätern mitgeteilt bekamen.

Unvernunft ist in religiösen Fragen ausgesprochen schädlich. Religion ist jene Wissen­schaft, die Techniken, Wege und Möglichkeiten untersucht, durch die das Ich nicht nur Wahres von außen erkennt, sondern sich mit dem Wahren verbinden und es so zu seinem Wesen machen kann. Religion ist zugleich angewandte Wissenschaft, die die entdeckten Mittel einsetzt, um das Ziel zu erreichen.

Religion befasst sich mit dem Wesen des Subjekts und seiner Position in der Wirklich­keit. Sie befasst sich mit Wahrheiten, die sich nicht auf Objektives beschränken, son­dern über jede Bedingung hinaus gültig sind. Dabei ist klar, dass Aussagen über das unbedingt Gültige Vermutungen und Fingerzeige sind, dass sie das unbedingt Gültige aber nicht vollständig erfassen. Was durch die Vernunft vernommen wird, sind die Fingerzeige, die das unbedingt Gültige als Ausdruck seiner selbst verwirklicht hat. Sie zeigen auf etwas hin, was die Vernunft übersteigt. Trotzdem wird niemand durch Torheit gerettet, sondern von der Vernunft geführt.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.