Im Universum überwiegt das Gute, weil nur das Gute zueinanderpasst. Das Gute ist das, was sich zu Höherem verbindet, das Böse, was sich nie einigen kann, das Heilige, was in allem das Gute erkennt und selbst dem Bösen den Platz zuweist, von dem aus es dem Ganzen nicht schadet.

Da vollständig ist, was seine Entstehung umfasst, gehört ein Prozess zur Ewigkeit, dessen Anfang und Ende zeitlos ist.

Da zu werden des Wechsels von passen und brechen bedarf, gehört zum Werden das Böse, das sich ins Heilige fügen wird.

Da das Gute im Heiligen zusammen­kommt und das Heilige endgültig ist, bleibt das Gute bestehen, während Böses und Schlechtes vorübergehen.



Die problematischen Folgen des erkennenden Ich werden überwunden, in­dem sich das Ich vollständig erkennt und als Folge der Kennt­nis den Platz einnimmt, der ihm zusteht: ihm selbst das Überall, der Person ein Irgendwo.

Wozu gibt es Schlechtes? Damit man sich für das Gute entscheiden kann. Geist ist gut und böse. Er braucht die Möglichkeit, sich zu dem zu entscheiden, wodurch er heilig wird.

Der Mensch ist gut, wenn er weiß, was er ist. Weiß er es nicht, ist das Böse in ihm stets zum Sprung bereit. Gutes erkennt. Böses übersieht.

Gut und Böse


  1. Herkunft der Begriffe
  2. Das Gute und das Ungute
    1. 2.1. Das Böse
    2. 2.2. Das Schlechte
  3. Das Verhältnis von Gut und Böse zueinander
  4. Zur Rolle des Bösen
  5. Passgenauigkeiten
  6. Religiöse Lehren
    1. 6.1. Egozentrik
    2. 6.2. Das abrahamitische Erbe
    3. 6.3. Spaltung und Heilung

1. Herkunft der Begriffe

Die Gegensatzpaare gut und böse bzw. gut und schlecht spielen bei der psychosozialen und religiösen Ausrichtung eine große Rolle. Die Unter­suchung der Begriffe erhellt dynamische Zusammenhänge, die zwischen den jeweiligen Paaren bestehen. Zugleich fördert sie Erkenntnisse über die Struktur der Wirklichkeit zutage.

2. Das Gute und das Ungute

Gut zu sein bedeutet...
  • so zu sein, dass die Auswirkungen des eigenen Soseins dem Ganzen dienen.
  • den Vorteil anderer als eigenen Vorteil zu sehen, solange deren Vorteil mit dem des Ganzen in Einklang steht.
  • dem Vorteil anderer nur zu widersprechen, wenn deren Vorteil zum Nachteil des Ganzen führt.

Obwohl gut, böse und schlecht sprachlich weit entfernten Wurzeln entstammen, stehen sie bei der Bewertung psycho­sozialer und religiöser Bezüge in enger Beziehung. Dabei sind zwei Ebenen zu betrachten:

  1. was gut, böse und schlecht tatsächlich bedeuten
  2. was als gut, böse oder schlecht beurteilt wird

Während das tatsächlich Gute das ist, was sich in ein über­geordnetes Ganzes fügt und durch sein Gutsein dem Ganzen dient, ist das Ungute logischerweise das, was den Aufbau des Ganzen behindert. Gut ist relativ. Es bezieht sich auf die Notwendigkeiten jenes Ganzen, von dessen Standpunkt her es als gut beurteilt wird.

Abhängigkeiten
Unterscheidungen, die theoretisch leicht zu treffen sind, machen in der Praxis Probleme. Das hat Ursachen:

Was ist gut? heißt immer: Was ist gut wozu? Das sogenannte Gute kann schlecht sein, wenn es einem Teil dient, der Ganzheit vorgibt, ohne das Ganze zu sein. Das Ganze ist nie das, was beugt. Was beugt, ist stets nur Teil, der sich über anderes zu erheben versucht. Das Heilige versucht sich über nichts zu erheben. Es ist über alles erhaben. Das Heilige kann alles aufrecht stehen lassen, weil ihm nichts etwas abhaben kann.

Während das Wesen des Guten in seiner Fähigkeit liegt, gemeinsam mit anderem Höhe­res aufzubauen, wird das Ungute im Gegensatz dazu durch Aspekte bestimmt, die in den Begriffen böse und schlecht zum Ausdruck kommen.

2.1. Das Böse
Da das Ganze das Böse umfassen muss, das Böse aber nicht von Dauer sein kann, muss das Ganze den Zeitfluss enthalten, in dem das Böse entsteht und vergeht.

Authentizität

Gut sein zu wollen kann Ausdruck des Bösen sein, wenn es dem eigenen Vorteil dient und sich nur zum Schein ins Ganze fügt. Nur ein Sosein, das keiner Absicht unterliegt, die es selbst erhöht, kann vollgültig gut sein. Was sich verstellt, nimmt den Schaden des Ganzen fährlässig in Kauf, weil es eine Stelle in Anspruch nimmt, die es nicht ausfüllt.


Das Böse hat Angst um sich selbst. Es macht sich groß, weil es sich bedroht fühlt. Es fühlt sich erst recht bedroht, weil es ahnt, dass Bosheit keinen Bestand hat.

Böse zu sein heißt sich aufzublähen. Böse zu sein bedeutet, dem Eigeninteresse mehr Raum zuzumessen, als ihm zukommt, sodass der Vorteil anderer oder das Ganze durch Anmaßung Schaden nimmt. Dabei kann das Böse in zwei Ausprägungen vorkommen:

  1. als fahrlässig Böses, das fremden Schaden billigend in Kauf nimmt oder ihn gar nicht bedenkt.

  2. als vorsätzlich Böses, das fremden Schaden absichtlich herbeiführt, weil es sich davon Vorteile verspricht.

Während das vorsätzlich Böse beim Täter meist spürbare psycho­pathologische Strukturen voraussetzt, gehört Fahrlässigkeit so zum Repertoire des normalen Verhaltens, dass sie einen Großteil aller Beziehungsprobleme und gesellschaftlichen Verwerfungen ausmacht. Ist mir doch egal ist weit häufiger als Das wird er bereuen.

Da man dem eigenen Interesse nur dann schuldhaft mehr Raum zumessen kann, als ihm zusteht, wenn man in der Lage ist, zu sehen, was das Maß übersteigt, setzt das Böse die Fähigkeit voraus, sich selbst zu erkennen. Jenseits dieser Fähigkeit kommt es nicht vor. So kann das Gute zwar gut sein, ohne verstehen zu können, dass es so ist, böse kann aber nur sein, was sich den Unterschied zwischen Gut und Böse bewusst machen kann.

Das Böse wird gut, sobald es seine Anmaßung erkennt. Das Gute bleibt gut, selbst wenn es von seinem Gutsein nichts weiß.

Offensichtlich oder verdeckt

Böses kommt in zwei Erscheinungsformen vor: offensichtlich oder verdeckt.

Das subtil Böse wirkt überall dort, wo der eine das Verhalten eines anderen zu seinem Vorteil zu manipulieren versucht. Die Werkzeuge der Manipulation sind Aussagen, Bemerkungen, Informationen, Mimik und Gesten, deren Zielsetzung es ist, die Selbstbestimmung des Gegenübers zu untergraben und so den Ein­flussbereich des eigenen Egos ins Hoheitsgebiet anderer auszudehnen. Solche Absichten können bewusst oder unbewusst ausgeführt werden. Oft sind sie als neurotische Muster im Repertoire des alltäglichen Verhaltens verankert.

Verdeckt expansiv kann die Absicht sein, andere einzuschüchtern, zu ent­mutigen, moralischen Druck auszuüben, ihnen Schuldgefühle zu vermitteln, sie zu beeindrucken, sie zu Taten gegen Dritte anzustiften oder ihnen Sichtweisen einzupflanzen, die der eigenen ähnlich sind.

Nur wer sich auch des Bösen enthält, das in der Banalität des alltäglichen Austauschs verborgen liegt, setzt sich und andere frei. Das Böse ist stets Gefangenschaft auf engem Raum. Wer sich aufbläht, erhöht den Druck in seinem Inneren. Wer gefangen nimmt, wird von sich selbst gefangen sein.

Verdeckt expansiv, und damit im Grundsatz böse, können aber auch Manöver sein, die auf den ersten Blick kaum je als böse gelten: sich bei anderen beliebt zu machen. Wer sich bei anderen beliebt macht, damit sie zu seinem Vorteil handeln, verfolgt unter dem Deckmantel der Liebe eine böse Strategie. Sie heißt Bestechung.

2.2. Das Schlechte

Das Individuum wird als Person aus dem Konflikt mit den Widrigkeiten der Welt heraus­geboren. Es bezieht seine Position im Gegensatz zu dem, was es als schlecht oder böse erlebt. Ohne die Widrigkeit der Welt bliebe es Embryo im Mutterschoß.

Wenn er sich selbst, also den wahren Pol seiner Individualität, entdeckt hat, braucht der Einzelne keine Widrigkeit mehr, durch deren Ausgrenzung er seine Identität zu finden glaubt. Dann kann er sich über die Widrigkeit der Welt erheben, weil er versteht, dass sein Kern von je her über der Widrigkeit steht.


Wechselwirkungen

Das Böse wird besonders böse, wenn das Gute sich besonders gut gefällt. Nirgendwo kann sich Eitelkeit besser verstecken als hinter einem Gutsein, das das Gutsein betreibt, um sich selbst zu gefallen. Eitel Gutes kann Bitterböses nach sich ziehen.

Das Schlechte ist ein Werkzeug des Bösen. Das Schlechte glättet seine Kanten und schleicht sich ein. Schlecht zu sein bedeutet, nicht wirklich zu passen, sondern zum eigenen Vorteil so zu tun, als ob man es täte.

Wohlgemerkt

Es gibt einen Unterschied zwischen anschleichen und einschleichen. Die Schlange schleicht sich an. Das ist Ausdruck ihres Wesens. Sie schleicht sich nicht ein, weil ihr Anschleichen nicht ihr wahres Wesen ummäntelt. Daher ist das Anschleichen der Schlange weder böse noch schlecht. Sich einzuschleichen ist ein geplanter Akt des Schlechten, bei dem es sich mit Berechnung unkenntlich macht. Wenn die Schlange sich anschleicht, täuscht sie die Beute nicht. Sie überrascht sie bloß. Das tatsächlich Schlechte täuscht über sein Wesen hinweg.

Auch das Schlechte setzt Bewusstheit voraus. Im Gegensatz zum offensichtlich Bösen, das den anmaßenden Charakter seiner Auf­blähung nicht verbirgt, gehört zum Schlechten Berechnung. Das Böse ist erkennbar rücksichtslos, das Schlechte tut so, als sei es das nicht. Das Böse bricht durch die Tür und raubt. Das Schlechte kriecht durch die Ritzen und stiehlt.

Weil zum Schlechten Täuschung gehört, weiß das Schlechte von seiner Schlechtigkeit. Es kann sein Wissen darüber erst in einem zweiten Schritt übergehen; zum Beispiel durch rationalisierende Urteile, die seinen Betrug scheinbar rechtfertigen. Das Schlechte nimmt gerne die Rolle des Opfers ein, um von dort aus ein Täter zu werden, dem man nichts vorwerfen kann.

Mein trojanisches Pferd
Da das Schlechte sich einschleicht, wirkt es von innen. Das wird schnell über­sehen, sodass man das Schlechte hauptsächlich außen zu orten versucht und es dort bekämpft. Damit man nicht jedem Vertreter, der freundlich tut, auf den Leim geht, mag Wachsamkeit nach außen sinnvoll sein. Genauso wichtig ist Skepsis nach innen (Griechisch skeptesthai [σκεπτεσθαι] = schauen, betrachten).

Was innen liegt, wird mit dem Etikett mein beklebt und was ihm als seines erscheint, wird vom Ego beschützt. So kommt es, dass zu den mächtigsten Übeltätern, die das Glück verhindern, oft nicht die Schlechtigkeit gehört, die aus anderen heraus wirkt, sondern das Schlechte, das innen umherschleicht. Dort liegt es als irrige Vorstellung vor, als Glaube, der Sie angeblich zu etwas Besserem macht, als Meinung, die Sie für unverzichtbar halten, als ewig gleiches Muster, Vergangenheit und Gegenwart zu deuten, als gewohntes Gefühl, das Sie steuert. Das Schlechte kann ein Introjekt sein, das man längst geschluckt hat oder eine eigene Absicht, die man zum Guten verklärt.

Wenn Sie frei sein wollen, werfen Sie alles hinaus, was Sie innen in Knechtschaft hält. Eine Idee, die Ihnen nicht wirklich guttut, ist wahrscheinlich eine Idee, die nicht gut ist. Unterscheiden Sie zwischen inneren Mustern, die Ihr Ego stärken und solchen, die heilsam sind. Schlechte Muster schleichen sich in Ihr Selbstbild ein, gute lösen es im Ganzen auf.

3. Das Verhältnis von Gut und Böse zueinander

Gruppendynamik

Der Mensch lebt in Gemeinschaften. Die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe setzt meist eine Anpassung an deren Regeln voraus. Anpassung heißt: Der Einzelne hat in den Augen seiner Gruppe gut zu sein. Innerhalb der Gruppe sollte er auf Bosheit verzichten; also darauf, sich zum Schaden der Gemein­schaft breit zu machen. Durch den Beitritt zu einer Gruppe, die gut zu sein fordert, ist das Potenzial des Bösen aber nicht aus der Welt geschafft. In der Regel wird der Anspruch, sich aufzublähen, an die Gruppe abgetreten. Das führt dazu, dass Gruppen, die Zugehörigkeit überwertig vertreten, nach außen hin expansiv und verdrängend sind. Das Böse, das sich im Inneren auf keinen Fall zeigen darf, rechtfertigt nach außen hin jedes Mittel.

Dass sich das Böse im Inneren auf keinen Fall zeigen darf, heißt nicht, dass es nicht auch dort seine Wirkung hat. Die Wirkung zeigt sich als Anpassungs­druck, den die Gruppe auf den Einzelnen ausübt. In der Gruppe der ausdrück­lich Guten gibt es ein gemeinsames Böses, das den Einzelnen zum Vorteil der Gruppe bedrängt.

4. Zur Rolle des Bösen

Das Heilige kommt ohne Rebellion gegen fragloses Gutsein nicht aus.

Gehorsam kann das Böse nicht be­zwingen, weil Gehorsam ein Werk­zeug des Schlechten ist. Wer gehorcht, schleicht in die Burg einer Übermacht. Den Himmel kann er damit nicht täuschen. Nur wer mit sich selbst übereinstimmt, kann so zustimmen, dass sein Gutsein stimmig ist.

Nur ein Eigensinn, der keiner Einschränkung unterworfen ist, kann tatsächliches Gutsein verkörpern.

Das zeitlos Gute ist dem Heiligen nicht unterstellt. Es geht in ihm auf.

Böses kann Bindungen lösen, in denen das Gute unterworfen ist. Weil zum Heiligen ein Gutes gehört, das als Gutes vom Heiligen nicht zum Gutsein gezwungen wird, sondern in freier Entscheidung das Gutsein wählt, kann Böses, das Gutes aus der Unterwerfung befreit, dessen Mittel sein. Das Böse selbst kann aber nur zu etwas wahrhaft Gutem werden, wenn es seine Bosheit ebenfalls aus freien Stücken aufgibt. Die Freiheit des Guten geht ins Heilige über. Die Freiheit des Bösen ist Gefangenschaft. Es kann sich aus eigener Kraft aus sich erlösen.

Das Heilige kann nicht nur aus Gutem bestehen, das nur gut ist, weil es dem Befehl des Heiligen, gut zu sein, folgt. Ein Gutes, dessen Gutsein bloß dem Befehl dazu folgt, ist ein Schlechtes, das sein Sosein zum eigenen Vorteil wählt; statt das Heilige tatsächlich vorzuziehen.

Damit Freiheit zum Wesen des Ganzen gehört, muss es ein Gutes gestatten, das zum Gutsein nicht mehr verpflichtet ist. Ein solches Gutes ist eines, das böse sein kann, das weder zum Gutsein verführt, noch bestochen oder er­presst wird. Es ist ein Gutes, das weder durch Äußeres noch eigenes Gut­sein als Gutes festliegt. Das endgültige Gutsein ist kein bestimmtes Sosein, sondern die Möglichkeit, aus der heraus es wählen kann. Gutes gedeiht in Erkenntnis, Böses bedarf der Verblendung.

5. Passgenauigkeiten

Die Frage, wann der Mensch in den Augen seiner selbst und anderer als gut gilt, spielt eine große Rolle. Um Antworten zu finden, macht es Sinn, sich das grundsätzliche Wesen des Gutseins erneut vor Augen zu führen. Gut zu sein heißt, zu etwas zu passen.

Bei der Bewertung des Gutseins zählt in sozialen Gemeinschaften letztendlich, was der Einzelne tut. Gefragt wird: Passt sein Verhalten? Wird aber gefragt, ob ein Verhalten passt, ergibt sich die nächste Frage zwingend: Wozu soll es passen? Darauf kann es zwei grundsätzliche Antworten geben.

Zwei Arten des Gutseins

Existenziell Sozial
Ich passe zu mir selbst. Ich passe zu den anderen.

Das existenzielle Gutsein kann seinerseits in zwei Aspekte unterteilt werden:

  1. Das Verhalten passt zum individuellen Wesen dessen, der es ausführt. Dann ist der Handelnde authentisch. Dieses Gutsein beruht auf der Passgenauigkeit zwischen persönlichem Verhalten und reflektierter Überzeugung. In diesem Sinne ein guter Mensch zu sein, kann zu individuell unterschiedlichen Sicht- und Verhaltensweisen führen.

  2. Das Verhalten passt zu einer Übereinkunft, die von den bestimmenden Kräften der Bezugsgruppe als Leitschnur moralischen Verhaltens angesehen wird. Dieses Gutsein beruht auf der Passgenauigkeit zwischen persönlichem und sozial erwünschtem Verhalten. Ein derart definiertes Gutsein führt zu einer Vereinheitlichung von Sicht- und Verhaltensweisen.

Ob die Treue zu sich selbst oder die Anpassung an soziale Normen bei der Bewertung des Gutseins überwiegt, ist kaum verbindlich festzulegen. Es muss von Fall zu Fall entschieden werden, weil die Welt, zu der der Einzelne gehört, zugleich er selbst ist.

Vergleiche
Was ist ein gutes Krokodil? Etwa eins, das dem Fleischverzehr abschwört und stattdessen Gnus aus den Fluten des Mara rettet? Was ist ein guter Hirsch? Etwa einer, der bei der Brunft aus Mitleid schwächere Brüder zum Zuge kommen lässt? So ein Verhalten widerspräche dem Wesen von Hirsch und Krokodil. Es wäre erstaunlich, aber nicht wirklich gut; zumindest nicht für den Bestand ihrer Art.
Im Gegensatz zum Exemplar, das nichts davon weiß, dass es exemplarisch ist, ist sich das Individuum seiner Individualität bewusst. Exemplar geht auf lateinisch ex-imere = herausnehmen zurück. Ein Exemplar ist ein beispielhaftes Muster, das aus einer Menge gleichartiger Dinge herausgegriffen ist. Das Individuum verweist wesenhaft auf die Einzigartigkeit des Selbst, das Exemplar ist nur Beispiel eines Musters, das das tut. Das Individuelle ist Gott, dem Symbol der ungeteilten Einzigartigkeit, daher näher, als das Kollektive. Es ist daher nicht so, dass Gott nur dort ist, wo zwei in seinem Namen zusammen sind. Er ist auch dort, wo einer zu sich selbst steht.

Auch das Verhalten des Menschen kann nur gut sein, wenn es zu seinem Wesen passt. Worin liegt aber die charakteris­tische Wesensart des Menschen? Doch darin, dass der Einzelne beim Menschen kein Exemplar, sondern Individuum ist. Deshalb kann der Mensch nur gut sein, wenn er die Passgenauigkeit zwischen Verhalten und persönlicher Überzeugung über die zwischen persönlichem und sozial erwünsch­tem Verhalten stellt. Der Mensch dient seiner Art, wenn er das Individuum gegen die Übermacht der Mehrheit schützt.

6. Religiöse Lehren

Nirgendwo sonst wird zwischen Gut und Böse so kategorisch unterschieden wie im Reich der Religion. Das ist logisch. Wenn es um die endgültige Zugehörigkeit zum Heiligen geht, steht die Frage, was in den Augen des Heiligen als gut gelten kann, unverrückbar im Raum.

6.1. Egozentrik
Der Egoist kann die Enge, an der er leidet, im Guten überwinden, indem er über sich hinausgeht. Er neigt aber dazu, sich gegen die Enge zu wehren, indem er sich aufbläht.

Das Ego ist nichts, was als Einheit existiert. Es ist die Neigung des Ich, sich mit naheliegenden Objekten zu identifizieren. Sobald das Ich meint Dieser Körper bin ich, ist das Ego entstanden. Da es sich aus Gründen der Sicherheit zu erweitern ver­sucht, meint es als nächstes: Das ist meine Kaffeetasse.

Die einseitige Einschätzung egoistischer Motive als böse ist ein tief ver­wurzelter Brauch des Abendlands. Obwohl das Ego zu Recht als Grundlage des Bösen gilt, ist eine pauschale Gleichsetzung nicht angebracht.

Der qualitative Unterschied zwischen egoistisch und nicht-egoistisch ist primär keiner von gut und böse, sondern einer von eng und weit. Der egoistische Mensch hat einen engen Horizont: den seiner Person.

Dass der abendländische Glaube egoistische Motive systematisch als böse verurteilt, ist auch Ergebnis seines politischen Ansatzes; der seinerseits böse ist, insofern er den asymmetrischen Vorteil einer Gruppe auf Kosten anderer fordert. Der alttestamentarische Glaube diente einer Politik, deren Anspruch den Einzelnen, also den Mandanten des Egos, vollständig der Gruppe, also dem politischen Vorsatz unterstellte. Daher galt der Einzelne als böse, sobald sich sein Bemühen aufs eigene Wohl bezog; statt auf das der Gemeinschaft.

Tatsächlich böse ist das Ego nicht an sich, bloß weil es für das Wohl der Person sorgt, sondern erst, wenn es sich aufbläht, es der Person also über deren Bedeutung hinaus Vorteile verschafft; was es allerdings gerne tut... und zwar solange sich das Ich mit der Person verwechselt. Bleibt das Ego defensiv, schützt es die Person also gegen die Übergriffe anderer, ist es im Grundsatz gut. Man muss sich nicht vom Löwen fressen lassen um ein guter Mensch zu sein.

6.2. Das abrahamitische Erbe
Gäbe es Gotteshäuser, in denen man nicht Lehrsätze predigt, sondern Erkenntnis fördert, fände der Geist eine Heimat.

Wenn das Böse den Platz einnimmt, der ihm zukommt, ist es gut. Wenn das Gute sich mehr anmaßt, als ihm zusteht, wird es böse.

Das Gute kann das Böse nicht wirk­lich beseitigen, weil das, was besei­tigt, selbst etwas Böses ist. Gutes kann Gutes beschützen, weil das Böse im Guten das Gute verteidigen kann.

Religion ist Wiederanbindung. Der Weg der Wiederanbindung heißt: Ich erkenne mich selbst. Durch Selbst­erkenntnis verbindet der Geist die Welt, die er sieht, mit sich selbst.

Mit dem Mythos vom Baum der Erkenntnis spricht die Bibel einen grund­sätzlichen Zusammenhang an: den zwischen dem Bösen und der Bewusst­heit des Ich. Richtig ist: Nur was sich erkennt, kann gegebenenfalls als boshaft bezeichnet werden.

Irrtum ist der Versuch, das Problem durch Rückschritt zu lösen, denn die Erkenntnis bringt nicht das Böse, also die verdrängende Tat hervor. Sie macht sie bloß kenntlich. Das Böse wird nicht überwunden, indem das Ich die Gabe zur eigenständigen Erkenntnis zurückweist und sich stattdessen etwas nicht Erkennbarem, nämlich bloß Geglaubtem, unterwirft.

Die Zurückweisung der Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, hebt die Gefährlichkeit des Bösen nicht auf. Im Gegenteil:

Die Gefährlichkeit des Potenzials zum Bösen wird nicht überwunden, indem man es projektiv verteufelt und von sich weist. Sie wird überwunden, indem das Ich die Erkenntnis seiner selbst vorantreibt und in der Folge versteht, von welchem Platz aus das Ego dem Ganzen dienen kann. Wer das Potenzial zum Bösen nicht als ihm eigen annimmt, sondern es abzuspalten versucht, verliert die Kontrolle darüber. Zur Freiheit gehört die Freiheit zum Bösen. Wer das Potenzial zum Bösen abzuschaffen versucht statt es einzu­binden, muss die Freiheit abschaffen. Menschen- und Weltverbesserern aller Couleur fehlt die Weisheit, der Versuchung zu widerstehen.

Bindungen
Religion kann als Rückbindung oder Wiederanbindung verstanden werden. Gemäß der etymologischen Auslegung Lactantius' geht der Begriff auf lateinisch re-ligare = zurückbinden, wiedereinbinden zurück.
Exemplarisches Beispiel eines spaltenden Glaubens ist die biblische Lehre. Beim Versuch, das Böse auszutilgen, das sie selbst als böse bestimmt, greift sie zu Mitteln, die Ausdruck des Bösen sind.

5 Moses 17, 5:*
... dann führe diesen Mann oder diese Frau, die solchen Frevel getan, zu deinen Toren und lasse sie zu Tode steinigen!... Die Zeugen sollen zuerst ihre Hand gegen ihn erheben, um ihn zu töten, danach aber das ganze Volk. So sollst du das Böse aus deiner Mitte austilgen!

Auch die Lehre Zarathustras ist spaltend. Ihr gemäß ist die Weltgeschichte Ausdruck des Kampfes zwischen dem guten Geist Ahura Mazda (persisch: اهورا مزدا = weiser Herr) und dem bösen Ahriman (اهريمن). Da das Wesen des Guten in der Bindung liegt, droht jedoch das, was sich die Abspaltung des Bösen zum Ziel setzt, selbst böse zu sein. Wer sich des Bösen in sich nicht annimmt, sondern sich davon abzuspalten versucht, entbindet es aus der Führung des Guten. Glaube, der ausschließt, ist vorläu­fig. Er bleibt beim Urteil stehen. Glaube, der versteht, geht über das spaltende Urteil hinaus.

Indem das Ich seiner selbst bewusst wurde, hat es die fraglose Bindung ans Ganze aufgelöst. Religion ist der Impuls, die Bindung wiederherzustellen. Er kann sich rückwärts oder vorwärts wenden.

Spaltende Religion bindet zurück, indem sie die gewon­nene Freiheit verweigert. Sie versucht, die gefürchtete Freiheit - die auch eine Freiheit zum Bösen ist - durch Gehorsam und Unterwerfung auszutilgen.

Integrative Religion schreitet voran. Sie stellt Bindung wieder her, indem sie Frei­heit als Wesen des Ganzen entdeckt und die Freisetzung des Ich in eine Ordnung führt, die es nach der Befragung tatsächlich bejaht. Spaltender Glaube versucht, das Böse zu beseitigen. Heilender Glaube versucht, es zu verstehen. Mehr noch: Heilender Glaube versucht, sich aus dem Bösen herauszuverstehen; sich also durch ein Verständnis des Bösen aus dessen Herrschaft zu lösen.

6.3. Spaltung und Heilung

Religiöse Lehren befassen sich mit dem Platz des Einzelnen im Ganzen. Dabei geht es um die Zugehörigkeit des Selbstbestimmten. Bei der Bestimmung der Zugehörigkeit des Selbstbestimmten spielt der Gegensatz von Gut und Böse, also von passend und unpassend eine große Rolle.

Selbstbestimmtes kommt nie ans Ziel, wenn es den Weg dorthin nicht selbst bestimmt.

Merkmal spaltender Lehren ist es, dass sie Ungläubige vom Heil ausschließen.

Konfessionelle Religion heißt Ich glaube dies oder das. Mystische Religion heißt Ich erkenne dass und was ich bin. Glaube verfehlt die Wahrheit schnell. Erkenntnis entdeckt sie langsam.

Was die Übernahme trennender Bilder zur Religion erklärt, ist ein Verstoß gegen das Religiöse an sich.

Der Gegensatz von Gut und Böse kann verstanden oder moralisch definiert werden. Das Verstehen des Gegensatzes befasst sich mit der Erkenntnis dessen, was wahr ist. Die Benennung einer Moral entwirft Vorstellungsbilder. Moral sagt nicht, was wahr ist, sondern was sein soll.

Während es nur eine Wahrheit geben kann, gibt es viele Vorstellungs­bilder, die vorgeben, was als wahr zu gelten hat. Vorstellungsbilder beruh­en auf Meinungen und Sichtweisen Einzelner. Sie unterscheiden sich voneinander.

Religion betreibt Bindung ans Ganze. Sie verheilt Getrenntes. Deshalb kann auch nur ein Glaube, der niemanden ausschließt, ein vollgültig religiöser Glaube sein. Alles andere ist Politik oder Aberglaube, also Irrtum, der vom wahren Glauben abgefallen ist. Für wahre Religion ist das Ganze von höchster Bedeutung. Da sie die Anbindung freigesetzter Teile ans Ganze versucht, ist wahrer Religion Ausgrenzung wesensfremd. Jede Form von Ausgrenzung wirkt wahrer Religion zuwider.

Es gibt verschiedene religiöse Lehren. Nur eine trifft zu. Die zutreffende erfüllt zwei Bedingungen:

  1. Sie findet jenseits von Bildern das Wirkliche, da das Ganze nur wirklich sein kann.

  2. Sie schließt keinen Teil aus, weil sie sonst dem Ganzen widerspräche.

Um Selbstbestimmtes ans Ganze zu binden, muss eine religiöse Lehre das fördern, was es dem Teil ermöglicht, den Weg zum Ganzen selbst zu bestimmen. Das Mittel dazu ist Selbsterkenntnis. Nur was sich selbst erkennt, kann erkennen, welchen Weg es zum Ganzen gehen kann.

Die reine religiöse Lehre formuliert ihren Glauben so, dass seine Aussagen niemanden vom Ganzen ausschließen. Sie bestätigt das als eigentlich religiösen Akt, was das Menschsein bereits vor Übernahme trennender Vorstellungsbilder ausmacht: den Akt des Erkennens, dass und was er ist. Jede Lehre, die darüber hinausgeht, ist unrein.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.