Fremdbestimmung


  1. Begriffsbestimmung
  2. Steuerungsinstanz und seelische Gesundheit
  3. Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit
  4. Vorsichtsmaßnahmen
Seitdem man glaubt, die Freiheit sei gewonnen, wird sie durch Ansprüche wieder abgebaut.

Das Subjekt erkennt sich selbst. Dem, was sich erkennt, fällt das Recht zu, über sich zu bestimmen. Was sich erkennt, ist Souverän (lateinisch superanus = über allem stehend) der Wirklichkeit.

1. Begriffsbestimmung

Fremdbestimmung ist das Gegenteil der Selbstbestimmung. Während der selbstbestimmte Mensch mit dem übereinstimmt, was ihn selbst aus­macht, stimmt der fremdbestimmte Mensch mit etwas überein, was sein Wesen verfehlt. Das kann unmittelbare Bevormundung durch andere sein oder ein Selbstbild, das das eigene Wesen verkennt. Da Selbstbilder stark von den Einwirkungen durch andere mitbestimmt werden, ist auch die verfehlte Selbstbestimmung durch falsche Selbstbilder eine Spielart der Fremdbestimmung.

So wie Selbstbestimmung als Autonomie (griechisch autos [αυτος] = selbst) bezeichnet wird, wird Fremdbestimmung auch Heteronomie (griechisch heteros [ετερος] = der Andere und nomos [νομος] = Gesetz) genannt. Der fremdbestimmte Mensch ist unter etwas anderes gesetzt. Er untersteht dem, was ihm selbst nicht entspricht.

Oft wird Selbstbestimmung mit der Willkür verwechselt, mit der eine Person nach eigenem Gutdünken handeln kann. Das ist zu kurz gedacht. Tatsächlich ist eine Person, die sich selbst nicht erkennt, auch dann fremdbestimmt, wenn sie machen kann, was sie will. Sie wird durch Vorstellungen bestimmt, die ihre Essenz (lateinisch esse = sein) übergehen. Sie ist eine Marionette von Irrtum und Selbstbetrug.

Echte Selbstbestimmung kann nur erreicht werden, wenn der Mensch sein Wesen erkennt. Erst wenn er entdeckt, was er in Wahrheit ist, setzt ihn die Wahrheit aus der Fremdbestimmung frei.

2. Steuerungsinstanz und seelische Gesundheit

Wesen und Ausdruck

Wesentlich ist der Mensch Subjekt. Im Ausdruck ist er Objekt. Was Objekt an ihm ist, drückt sein Wesen aus. Der Ausdruck des Wesens ist nicht das Wesen selbst. Das Wesen des Subjekts ist Möglichkeit. Es ist Geist, der erkennen und Kraft, die bewirken kann. Was von der Kraft verwirklicht wird, tritt erkennbar zu Tage. Es wird als Objekt erkannt.

Die Essenz des Menschen ist nicht gegen­ständlich. Zwar ist sein Körper ein Objekt, an dem Kräfte ansetzen, je mehr man aber nach dem Selbst des Körpers fragt, desto mehr tritt Objektives zurück. Man entdeckt den Wesenskern des Individuums: seine Subjektivität.

Der Begriff Kern kann dabei in die Irre führen: wenn man ihn als ein kompaktes Etwas auffasst, dessen Substanz grundsätzlich von der gleichen Art ist, wie die der weichen Hülle, der er inneliegt; bloß härter und verdichtet. Tatsächlich ist der Wesenskern aber nicht verdichtet, sondern transparent. Was erscheint, erscheint durch ihn. Was erscheint, erscheint von ihm. Während am Objekt Kräfte ansetzen, gehen vom Subjekt Kräfte aus. Das Subjekt ist das Ununterworfene im Kraftfeld. Insofern es zuletzt ununterwerfbar ist, trifft der Begriff Kern aber zu. Der Kern bleibt, wenn alle Schale von ihm fällt.

Objekte sind fremdbestimmt. Der Eimer...

Seelische Gesundheit
Kann jemand, der nicht mit sich übereinstimmt, seelisch gesund sein? Wohl kaum. Also kann sich seelische Gesundheit nur in Selbstbestimmung verwirklichen. Wer nicht über sich selbst bestimmen kann, kann nicht mit sich selbst übereinstimmen. Er ist folglich seelisch krank.

Es gibt Dinge, die man tut, weil man sie in Verkennung dessen, was man ist, tun will. Was man will, hängt davon ab, wofür man sich hält... und damit von dem, was man von sich weiß.

Mehr noch: Der Eimer ist nicht nur fremdbestimmt. Er erfüllt sein Wesen, indem er einem fremden Willen dient und dessen Gesetzen unterworfen ist.

All das gilt für das Subjekt nicht. Das Wesen des Subjekts erfüllt sich in Selbstbestimmung. Subjekt ist, was erkennt und aus Kenntnis heraus bestimmen kann. Dabei sind zwei Bedeutungsvarianten zu berücksichtigen:

  1. Sich selbst zu bestimmen heißt, sich selbst zu erken­nen; analog zur Bestimmung des Cholesterinspiegels im Blut.
  2. Über sich selbst zu bestimmen heißt, zu entscheiden, was man tut.

Beide Bedeutungsvarianten der Selbstbestimmung gehen wechselseitig ineinander über.

2.1. Fremdbestimmung und Abhängigkeit

Fremdbestimmung und Abhängigkeit sind zwei Pole eines Kontinuums. Das Kontinuum deckt Zustände ab, bei denen die Steuerung des Individuums von außen erfolgt. Dennoch sind die Pole voneinander zu unterscheiden.

Zwischen Fremdbestimmung und Abhängigkeit gibt es Wechselwirkungen. Beide Kom­ponenten verstärken einander. Der Abhängige wird gegen fremdbestimmende Kräfte kaum Widerstand leisten. Er lässt mit sich machen und übernimmt Vorstellungen, die ihm von außen vorgegeben werden. Fremdbestimmung ihrerseits hält Menschen in Abhängigkeit, um sich ihrer zu bedienen.

2.2. Ebenen der Identifikation
Soziale Konflikte
Die Wahrscheinlichkeit, dass individuelle Impulse soziale Konflikte verursachen, ist umso größer, je mehr die Impulse oberflächlichen Identifikations­ebenen entspringen.
Selbstbestimmung, die aus dem absoluten Selbst heraus erfolgt, kann zwar in soziale Konflikte verwickelt werden, sie ist aber nie deren Ursache. Sie wird nur dann in Konflikte verwickelt, wenn sie durch Fremdbestimmung bedroht wird, die vom Selbstbestimmungs­anspruch eines anderen ausgeht, der mit seinem relativen Selbst identifiziert ist.

Gewiss: Jeder Impuls, dem der Einzelne spontan folgen will, steht in Bezug zu ihm selbst; und jedes Hindernis, auf das er dabei trifft, zwingt ihm ein Maß an Fremd­bestimmtheit auf. Entweder wird er gezwungen, sein Ziel aufzugeben oder er muss das Hindernis überwinden. Hintergrund dessen ist zweierlei:

  1. Das Ich kann sich mit verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit identifizieren.
  2. Je nachdem, womit sich das Ich identifiziert, fallen die Impulse, die von ihm ausgehen, unterschiedlich aus.

Je nachdem, welcher Art selbstbestimmte Impulse sind, ver­stoßen sie gegen das Selbstbestimmungsrecht anderer. Oder sie tun es nicht. Das hat mit der Struktur des Individuums zu tun. Das Ich kann sich mit verschiedenen Elementen seines relativen Selbst gleichsetzen. Oder es anerkennt das absolute Selbst als sein wahres Wesen.

Der eine bestimmt seine Person. Er kann aus Erkenntnis heraus über sie bestimmen. Der andere bestimmt aus seiner Person heraus, ohne deren Motive zu verstehen. Da ihm der Verstand fehlt, um von seiner Person Abstand zu nehmen, wird er durch deren Irrtümer fremdbestimmt; und meint umso mehr, Herr der Lage zu sein.

2.3. Psychologischer Grundkonflikt

Der psychologische Grundkonflikt besteht im Ringen zweier Bedürfnisse um Vorherr­schaft:

  1. dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit
  2. dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung

Kräfte, die sich dem Individuum fremdbestimmend aufzwängen, wirken tief in den Konflikt hinein:

  1. Sie laufen dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung unmittelbar zuwider.
  2. Sie untergraben den Weg zu echter Zugehörigkeit, weil man dem, dem man unterworfen ist, nicht angehört, sondern ihm gegenübersteht.

Die Lösung des Grundkonfliktes heißt Zugehörigkeit in Selbstbestimmung. Wo Fremd­bestimmung unabwendbar ist, ist eine solche Lösung erschwert.

3. Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit

Früher waren sich Kaiser und Kirche einig, dass der Mensch, von Papst und Kaiser einmal abgesehen, als Befehlsempfänger zu betrachten ist. Die sogenannten Subjekte der Obrigkeit wurden ohne zu verstehen, was das Subjekt überhaupt ist, als Objekte behandelt. Die Gesellschaft war unverblümt hierarchisch. Fremdbestimmung wurde allerorten offen praktiziert. Im Kinderzimmer befahl der Vater, in der Schule der Lehrer, in der Lehre der Meister, auf der Straße der Polizist, beim Militär der Oberst, in der Amtsstube der Staatsdiener, am Arbeitsplatz der Vorgesetzte, beim Beten der Priester.

Das Leiden an der Kultur ist keineswegs ein Leiden an Kultiviertheit. Es ist ein Leiden an kulturellen Vorgaben, die irrigerweise mit Kultiviertheit verwechselt werden. Vieles, was als Kultur bezeichnet wird, ist eine tradierte Verkennung dessen, was dem Menschen entspricht.

Früher platzte die Fremdbestimmung ohne zu klopfen ins Zimmer. Heute sickert sie durch Fugen ins Haus. Früher hieß sie Befehl und war ebenso schamlos wie unverschämt. Heute heißt sie Verwal­tungs­vorschrift oder Regelungsbedarf. Sie schaut arglos drein.

Da der Einzelne den Strukturen der Entmündigung von der Wiege an ausgesetzt war, entstand eine Normalität, die so weit von seelischer Gesundheit entfernt war, dass es nur wenige gab, die den Unter­schied zwischen Gesundheit und Normalität erkannten. Seelische Gesundheit wurde mit der Bereitschaft angepasster Untertanen verwechselt, reibungslos zu funktionieren.

Heute gilt die autoritäre Gesellschaft als Phänomen überwundener Epochen. Trotzdem nimmt die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen seit Jahrzehnten ab. Ursache ist ein schleichender Wertewandel: Der Geist der Freiheit wird durch den des Anspruchs ersetzt. Lieber als Risiken standzuhalten wollen die meisten maximale Sicherheit. Vom Baum könnte ein Ast auf die Straße fallen? Dann machen wir den Baum lieber weg.

3.1. Anspruch und Abhängigkeit

Ein Anspruch ist die Befugnis, das Selbstbestimmungsrecht eines ande­ren einzuschränken. Im Anspruch wird der Andere angesprochen, um eine Forderung an ihn heranzu­tragen. Ein Anspruch sagt: Du hast das und das zu tun. Du hast so und so zu sein. Ansprüche beruhen auf existenziellen oder psychologischen Abhängigkeiten.

Anspruch an sich selbst
Wer sich dem Selbstbild unterwirft, wird durch sein Selbstbild fremdbestimmt.

Ansprüche werden nicht nur an andere gerichtet, sodass deren Selbst­bestimmung Schaden nimmt. Mit Ansprüchen bedrängt man auch sich selbst, wodurch sich der Einzelne aus eigenem Antrieb entmündigt.

Echte Selbstbestimmung wird vereitelt, sobald man einem Bild von sich selbst ent­sprechen will.

3.2. Mechanismen der Entmündigung

Esel und Möhre

Die Wachstumsgesellschaft funktioniert wie ein Esel, der immer weiterläuft, weil ihn die Möhre lockt, die ihm sein Reiter vor die Nase hält. Da der Esel stehen bleibt, wenn er die Möhre bekommt, ist das Wachstum am höchsten, wenn die Menschen nie wirklich zufrieden sind. Das ist nicht nur dem Reiter anzulasten, der den Esel zum Narren hält, sondern auch der Narretei des Esels, der der Möhre folgt.

Unsere Kultur kann sich das Glück ihrer Bürger nicht leisten. Im Bemühen um mehr Besitz, Erlebnis und Möglichkeit untergräbt sie deren Selbstwertgefühl... und langfristig den eigenen Bestand. Tatsächlich etwas wert ist ihr nicht der Mensch, sondern die Tatsache, dass er viel konsumiert.

Ansprüche, die aus existenziellen Abhängigkeiten entstehen, sind nicht zu vermeiden, ohne dass die Menschheit ausstirbt. Dieselbe Menschheit könnte aber glücklicher sein, gelänge es ihr, psycho­logische Abhängigkeiten zu überwinden. Es sieht nicht so aus, als sei das ihr vorrangiges Ziel.

Stattdessen hat sich ein Zeitgeist durchgesetzt, der Anspruchsdenken als Treibstoff seiner Entwicklung begünstigt. Politik und Wirt­schaft gehen dabei Hand in Hand. Dazu kommt, dass Selbstbestim­mung das seelische Wohlbefinden zwar fördert, dass sie zugleich aber Mühe macht. In der Folge neigt der Mensch dazu, das Glück nicht in dem zu suchen, was er ist, sondern in dem, was er haben könnte. Deshalb erhebt er lieber Ansprüche, als sich selbst als einen Wert zu pflegen.

3.2.1. Das politische System

Wir leben in einem Gesellschaftssystem, das als repräsentative Demokratie (griechisch: demos [δημος]= Volk und kratia [κρατια] = Herrschaft) bezeichnet wird. Tatsächlich ist die Herrschaft des Volkes in diesem System sehr begrenzt. Sein Mitbestimmungsrecht besteht darin, beim Urnengang dem Ent­zug echter Mitbestimmungsrechte zuzustimmen. Tatsächlich entscheidet ein winziger Kreis von Parteifunktionären in Abstimmung mit Vertretern großer Verbände, der Wirtschaft und den Regierungschefs anderer Staaten.

Die repräsentative Demokratie wird auch als indirekte bzw. mittelbare Demokratie bezeichnet. Passender wäre der Begriff eingeschränkte Demokratie. Durch die Einschränkung der Demokratie verhindern Interessensgruppen, dass das Volk tatsächlich über sich entscheidet. Dass der Einzelne in einem Staat, der das Selbstbestimmungs­recht des Volkes nicht ernst nimmt, im Interesse gesellschaftlicher Ziele zunehmender Fremdbestimmung preisgegeben wird, mag kaum verwundern.

Beim Urnengang in der repräsentativen Demo­kratie wird das politische Mitbestimmungsrecht des Wählers beerdigt. Immerhin wird es, nachdem wichtige Entscheidungen ohne sein Zutun getroffen sind, nach vier Jahren wieder ausgegraben. So viel Glück hat der Leib des Wählers nicht, wenn er in der Urne verstaut im Grabe liegt.

Apropos Urnengang und Wirtschaftswachstum: Es ist unverstehbar, warum die EU noch nicht verordnet hat, dass Tote alle vier Jahre umzubetten sind. Veranschlagt man die Wertschöpfung einer Umbettung mit 3000 Euro und die Zahl potenzieller Urnengänger mit 10 Millionen jährlich, könnte das Sozialprodukt um 30 Milliarden gesteigert werden. Mit dem Geld könnte man so viel verbessern!

Die Optimierungsdynamik der Wachstums­gesellschaft entfremdet den Einzelnen zunehmend von seiner existenziellen Position. Statt dort, wo er steht, zu entscheiden, was er für richtig hält und als dazu Befugter anerkannt zu sein, wird der Einzelne zum Exekutivorgan eines sich optimierenden Systems. Selbst die Höhe, wohin er den Feuerlöscher aufzu­hängen hat, wird ihm in Zentimetern vorgeschrieben.

Um welche Ziele es sich dabei handelt, ergibt sich aus dem Parteiensystem. Im Parteiensystem müssen Parteien dafür sorgen, dass sie Wähler finden. Zu diesem Zweck setzen sie die Ansprüche potenzieller Wählergruppen in Gesetze um. Mal wird der Anspruch dieser Gruppe gestärkt, dann der Anspruch jener; immer in der Hoffnung, dass genügend Wähler an der Urne dankbar sind. Die repräsentative Demokratie schürt Ansprüche, um den Machterhalt ihrer Vertreter zu sichern.

Da jeder Anspruch aber eine Fremdbestimmung derer zur Folge hat, an die sich der Anspruch richtet, führt die repräsentative Demokratie zu einem schleichenden Entzug von Selbstbestimmungsrechten. Als Ausgleich für entzogene Rechte werden neue Ansprüche verkündet. Die Lawine rollt...

... und rollt und rollt...

Das Resultat der Anspruchsinflation ist eine Arbeitswelt, in der der Einzelne seiner Spielräume beraubt wird und gemäß fremdbestimmter Regeln reibungs­los zu funktionieren hat. Immer mehr Menschen brennen dabei aus. Die Gesellschaft wird prozessoptimiert, der Einzelne zum Rad im Getriebe.

Aus dem Leben eines rückläufig Selbstständigen

Nicht dass Regeln nur Nachteile bringen. Fundamentaler Schaden droht jedoch, wenn beim Regulierungsseifer ein Nachteil übersehen wird: die Entmündigung des Einzelnen durch die Normierung alltäglicher Vollzugsroutinen und die Widerstände, die man damit auf den Plan ruft.

3.2.2. Die Globalisierung

Die Globalisierung begünstigt internationale und transkontinen­tale Strukturen. Je übergreifender Strukturen aber werden, desto mächtiger werden sie auch dem Einzelnen gegenüber. Ist der Einzelne auf Landesebene eine Ameise, schrumpft er international zum Bärtierchen. Über das Netzwerk globaler Wirkkräfte wird das Leben des Bärtierchens beeinflusst. Umgekehrt hat das Rudern des Tierchens auf die globale Strömung keinen nennenswerten Effekt. Nur wenn das Netzwerk der Globalisierung die Mitbestimmung aller ausdrücklich fördert und den Einfluss mächtiger Instanzen und Verbände in verträgliche Bahnen lenkt, bleibt der Ameise ein Schicksal als Bärtierchen erspart. Big Data könnte dazu führen, dass der Einzelne zum Small Nothing wird.

3.2.3. Das Grundrauschen der Neurotizität

Es kostet nicht viel, Missstände der Gesellschaft für alles verantwortlich zu machen, was den Menschen in Unfreiheit hält. Oder etwa doch? Zeigt man zu viel mit dem Finger auf äußere Kräfte, die über den Menschen bestimmen, verliert man etwas Wesentliches aus dem Blick: Mehr als unter dem Zugriff anderer hat man meist unter dem zu leiden, dem man sich selbst aussetzt. Man zwingt sich zu Dingen, die dem eigenen Wesen fremd sind.

Verbal wird fast jeder das Recht auf Selbstbestimmung für gut befinden. In der Praxis wenden wir es oftmals gar nicht an. Zwei Gründe sind dafür zu nennen:

  1. Selbstbestimmung heißt Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis fällt nicht zu. Man muss sich darum bemühen, und nicht immer ist das, was man erkennt, erfreulich.

  2. Selbstbestimmung heißt Risiko. Man könnte Entscheidungen treffen, die man später bereut, oder man gerät mit dem Umfeld in Konflikt.

Beides, der Hang zur Bequemlichkeit und die Scheu vor dem Risiko, verleiten uns dazu, uns fremdbestimmen zu lassen: von anderen und vor allem vom Falschen, das sich in unseren Köpfen eingenistet hat. Bei den meisten bleiben die Symptome, die daraus entstehen, unterhalb der Schwelle, die als krankhaft angesehen wird. Sie führen zu einem Grundrauschen neurotischer Unzufriedenheit, die man, weil sie normal ist, nicht als pathologisch erkennt. Bei anderen führt die Bereitschaft, sich von unpassenden Vorstellungen bestimmen zu lassen, zu manifesten Störungen der Persönlichkeit. Sie werden zu Marionetten grundsätzlicher Irrtümer über die Struktur der Wirklichkeit.

Jede Persönlichkeits­störung ist eine Bevormundung des Selbst durch den Vorsatz einer verblendeten Person.

Lästige Pflichten

Wer kennt sie nicht? Langweilige Aufgaben, die zu erledigen sind. Wann sind Aufgaben langweilig? Wenn sie bei dem, der sie zu erfüllen hat, auf kein Interesse stoßen. Wofür sich jemand nicht interessiert, ist eigentlich nicht seine Sache. Durch die Pflicht, ihm zu entsprechen, wird er fremd­bestimmt.

Da Fremdbestimmung dem Wesen des Menschen widerspricht, entwickelt der Fremdbestimmte Widerstand. Die Erfüllung des äußeren Anspruchs macht ihm doppelte Mühe. Er muss den Widerstand in sich brechen und in der Sache das Notwendige tun.

Um den Widerstand zu vermindern, nützt es zuweilen, die Möglichkeiten der Selbstbestimmung besser auszunutzen. Wenn Sie für die nächste Prüfung Lernstoff aufnehmen müssen, dessen Sinn Ihnen unverstehbar erscheint oder sich vor der Steuererklärung Ihre Nackenhaare sträuben, wenden Sie ein tibetisches Sprichwort an: Es gibt keinen Weg, der nicht aus Schritten besteht. Legen Sie von vornherein fest, wie lange Sie sich an einem Stück dem äußeren Anspruch beugen. Teilen Sie das Fremdbestimmende in selbstbestimmte Abschnitte auf.

4. Vorsichtsmaßnahmen

Fremdbestimmtheit ist eine wesentliche Quelle seelischen Leids. Sie läuft einem der bei­den psychischen Grundbedürfnisse diametral zuwider. Um seelisch zu gesunden, lohnt es, Fremdbestimmung zu erkennen und ihr abzuhelfen. Fremdbestimmung kommt durch zwei Mechanismen zustande:

  1. Druck von außen: Bevormundung, Drohung, Erpressung, Manipulation, Verführung
  2. Druck von innen: unreflektierte Verhaltensregeln, die ins Selbstbild übernommen wurden und vermeintlich auszuführen sind; sogenannte Introjekte
4.1. Bevormundung

Drohung, Erpressung, Manipulation: Genau betrachtet sind das verschiedene Mittel und Varianten der Bevormundung. Bevormundend ist ein asymmetrisches Beziehungsverhält­nis zwischen Personen, wobei die regressive Person von der dominanten fremd­bestimmt wird. Bei der erotischen Verführung ist Fremdbestimmung zwar ein Element, zumeist wird dabei jedoch ein Einverständnis anzunehmen sein, das, falls keine missbräuchliche Absicht dahinter steckt, das dazugehörige Maß an Übergriff als Spiel rechtfertigt. Be­vormundung kann offensiv oder verdeckt vonstattengehen.

4.1.1. Offensiv
Kombinationen
In der Theorie lassen sich offensive und manipula­tive Bevormundungen leicht in zwei Kategorien unterteilen. In der Praxis werden beide Muster oft kombiniert:
  • Wenn Du die Dinge anders siehst als ich, halte ich dich für einen schlechten Menschen. Wenn du aber denkst wie ich, sind wir beste Freunde.

Hier sind Drohung, Erpressung und Manipulation vermischt.

Offensive Bevormundung benutzt Drohung und Erpressung. Oder sie überrumpelt unter Ausnutzung psychologischer und sozialer Machtgefälle.

Wichtige Mittel gegen offensive Bevormundung sind Mut und Selbstvertrauen. Selbstvertrauen heißt: Ich setze darauf, den Schaden zu verkraften, wenn der andere seine Drohung wahrmacht.

4.1.2. Verdeckt

Während offensive Bevormundungen leicht zu erkennen sind, ist es bei verdeckten anders. Verdeckte Bevormundungen verbergen ihre Absicht oder ummänteln sich mit vermeintlichem Wohlmeinen. Wer manipulativ bevormundet, tut oft so, als sei es zum Besten seines Opfers. Sie sind ein Glückpilz! Wir können Ihnen ein sensationelles Angebot machen.

Oft ist es besser, selbst zu bestimmen und aus Fehlern zu lernen als Fehler grundsätzlich vermeiden zu wollen.

Eine andere Variante manipulativer Bevormundung benutzt abwertende Botschaften, sobald die Zielscheibe des Bevormundungsversuchs sich anders verhält oder andere Meinungen vertritt als der, der ihn zu bevormunden versucht. Empörung, die angesichts abweichender Meinungsäußerungen anderer demonstriert wird, zeigt den Vorsatz des Empörten an. Der Empörte hebt sich empor um von oben herab über andere zu bestimmen.

Abwehrmaßnahmen gegen Bevormundung

Offensive Bevormundung Lassen Sie sich nicht einschüchtern. Weisen Sie es ausdrücklich zurück, von oben herunter behandelt zu werden. Sorgen Sie dafür, dass andere so wenig wie möglich Macht über Sie haben. Gehen Sie zu Leuten auf Distanz, die über Sie bestimmen wollen. Vertrauen Sie mehr auf sich selbst. Riskieren Sie eigene Entscheidungen und beobachten Sie deren Folgen.
Verdeckte Bevormundung Achten Sie darauf, ob Informationen von außen Handlungsimpulse erzeugen. Setzen Sie solche Impulse nur mit Verzögerung um; oder gar nicht. Bleiben Sie nüchtern, wenn jemand es ausdrücklich gut mit Ihnen meint. Lassen Sie sich nicht von abwertenden Botschaften beeindrucken.

4.2. Introjekte

Fremdbestimmung durch äußere Kräfte kann durch Abgrenzung verhindert werden. Anders ist es mit Introjekten. Als Introjekt (lateinisch intro = hinein und iacere = werfen) bezeichnet die Psychoanalyse eine verhaltenssteuernde Bewertung, die, ohne an die besonderen Bedürfnisse des Individuums angepasst zu sein, in dessen Selbstbild übernommen wurde.

Eine Übung für zwischendurch

Um der Fremdbestimmung abzuhelfen, lohnt es sich, zweimal täglich zu fragen:

Sie müssen nicht alles verweigern, was nicht nahtlos Ihrem Wesen entspricht. Es ist aber heilsam zu sehen, wie oft Sie sich untreu sind.

Introjekte werden als Erziehungsbotschaften vermittelt. Sie spie­geln kultur- oder familienspezifische Weltbilder wider, die dem Kind zu einem erfolgreichen Leben verhelfen sollen. Die Regeln, die sie enthalten, werden konkret verbalisiert oder fraglos vorge­lebt. Meist sind solche Botschaften gut gemeint und werden ungeprüft über­nommen; oder man zieht aus eigenen Erfahrungen Rückschlüsse, an deren Allgemeingültigkeit man unreflektiert glaubt. Dann hat man ein eigenes Denkmuster erzeugt, das man gegebenenfalls als Introjekt an seine Kinder weiterreicht.

In der Pubertät (lateinisch pubertas = Geschlechtsreife) werden Introjekte oft pauschal entsorgt. Vieles, was er bislang fraglos für richtig hielt, wirft der Pubertierende über Bord. Dann geht er eigene Wege. Im Grundsatz nicht schlecht. Die Natur hat mit der Pubertät einen Reinigungsprozess entwickelt, der die Übertragung unsinniger Denkmuster in die Zukunft beschränkt. Da die Kühnheit des Pubertierenden aber außer Stande ist, für den Rest des Lebens Weisheit zu sichern, macht es auch später Sinn, Grundüberzeugungen kritisch zu hinterfragen.

Fremdbestimmung ist ein Problem zwischen innen und außen; aber nicht nur zwischen der Person und der Außenwelt, sondern auch eins zwischen der Person und sich selbst. Fremdbestimmung durch Introjekte wird nicht durch Abgrenzung nach außen verhindert, sondern durch die Emanzipation der Person aus der Vormundschaft ihrer Vorstellungen.