Politik


  1. Hierarchie und Selbstwert
  2. Grundformen politischer Ordnung
  3. Demokratie
  4. Wirtschaft

Zwei Konzepte

  • Wenige regieren. Fast alle sind Regierte.
  • Jeder kann inhaltlich mitbestimmen, wenn er Interesse daran hat.

Da das Selbst des Einzelnen mit dem Selbst eines jeden anderen zusammenfällt, bedeutet Wertschätzung seiner selbst immer auch Wertschätzung des anderen. Der andere wird als ebenbürtig anerkannt. Wechselseitige Wertschätzung findet ihren politischen Aus­druck in der direkten Demokratie.

1. Hierarchie und Selbstwert

Das Wohlbefinden des Einzelnen wird wesentlich von sozialen Be­dingungen mitbestimmt. Soziale Bedingungen sind mit politischen Strukturen verzahnt. Beide Faktoren beeinflussen das Selbstbild und die Einstellung gegenüber dem Umfeld. Sie entscheiden darüber mit, inwieweit man sich und andere bejaht.

Ebenbürtigkeit

Die uneingeschränkte Wertschätzung des Individuums ist der entscheidende Ausdruck seelischer Gesundheit. Das gilt für die Wertschätzung der eigenen Person ebenso wie für die eines jeden anderen. Wertschätzung ist nicht selbstver­ständlich, uneingeschränkte Wertschätzung eher Ausnahme als Regel. Die Fähigkeit, wertschätzend mit sich und anderen umzugehen, wird wesentlich von Erfahrungen gebahnt, die man selbst im sozialen Umfeld macht. Ein grundlegender Faktor ist die Anerkennung der Ebenbürtigkeit.

Wird die Ebenbürtigkeit des Einzelnen vom sozialen Umfeld nicht anerkannt, heißt das nicht, dass ihm uneingeschränkte Wertschätzung unmöglich ist. Der Weg dorthin ist jedoch erschwert.

Hierarchische Gesellschaftsstrukturen widersprechen im Grundsatz dem Prinzip der Ebenbürtigkeit. Sie fördern deshalb psychologische Entwicklungen, die die Aufrechterhaltung pathogener Verhaltensmuster begünstigen. Nur dort, wo Hierarchien auf sachlicher Notwendigkeit und fachlicher Kompetenz beruhen, sind sie angebracht. Die Hierarchien gesellschaftlicher Strukturen sollten daher flach gehalten werden.

Je mehr ein politisches System über den Kopf des Einzelnen hinweg entscheidet, desto mehr ignoriert es dessen Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Er greift in psychologische Gesetze ein, deren Beachtung für die seelische Gesundheit notwendig ist.

Jedes politische System, das den Wert der Individualität missachtet, indem es die Ebenbürtigkeit aller einer festgesetzten Rangordnung unterstellt, fördert seelische Erkrankungen. Entscheidend dafür, ob eine politische Ordnung die seelische Gesundheit fördert oder schädigt, ist ihr Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Bejaht die Ordnung das Recht, ist sie förderlich. Ignoriert sie es, schadet sie.

Ein großer Teil des menschlichen Lebens und seiner Selbstbestimmung findet in sozialen Gemeinschaften statt. Den übergeordneten Rahmen aller übrigen sozialen Strukturen bildet der Staat. Deshalb gehört das Mitbestimmungsrecht bei der Regelung staatlicher Belange zum Selbstbestimmungs­recht des Individuums.

Politische Entmündigung und Selbstwert

Kaum ein Zweifel möglich
Wenn nur einer von 130000 abstimmen darf, ist es für Lobbyisten leicht, im Auftrag partieller Interessen Einfluss zu nehmen. Hätte jeder ein Mitspracherecht, wäre der Aufwand ungleich größer; und könnte nur öffentlich vonstattengehen. Wer partiellen Interessen an der Mehrheit vorbei Einfluss verschaffen will, wird gegen die direkte Demokratie Einwände erheben.

Sowohl in der direkten Demokratie als auch in der repräsentativen hat die Stimme des Einzelnen keine große Bedeutung. Es gibt aber einen Unterschied. In der direkten Demokratie geht die Stimme des Einzelnen in der Vielzahl Gleichwertiger auf, in der repräsentativen prallt sie an einem Rangunterschied ab. Der Bundestag hat 631 Sitze. Mitbestimmen darf also einer von 130000. Alle anderen gehören zu einer Mehrheit, die reden kann, aber vier Jahre im Grunde nichts mehr zu sagen hat; es sei denn, sie haben eine Lobby. Eine Lobby ist eine Instanz, die an der Mehrheit vorbei auf die bestimmende Minderheit Einfluss nimmt, und damit zur eigentlich bestimmenden Minderheit wird. Bestimmen im Grunde aber Minderheiten, ist das Prinzip der demokratischen Ordnung infrage gestellt.

Regelungsbedarf und Komplexität

Politik geht auf Griechisch polis [πολις] = Stadt zurück. Obwohl es politisches Handeln bereits im Dorf, im Kraal und sogar auf dem Affenfelsen gab, scheint die Verknüpfung der Politik mit der städtischen Struktur darauf hinzuweisen, dass der Regelungsbedarf öffentlicher Angelegenheiten umso bewusster wird, je komplexer soziale Strukturen werden. Während sich primäre Beziehungen zwischen einzelnen Menschen auch spontan gestalten, bedarf das Bezieh­ungsgefüge größerer Einheiten der bewussten Reflexion, des Dialogs und der Entscheidung.

Regelungsbedarf ist dabei wohlgemerkt nicht mit Reglementierung gleichzu­setzen. Die Reglementierung ist ein hierarchisches Herrschaftsprinzip, das den Dialog zwischen Regierung und Regierten übergeht und die Regierten von den Entscheidungen ausschließt. Reglementierung wird durch strukturelle Gewalt erzwungen. Regelungen werden umso eher gewaltfrei anerkannt, je mehr Personen mitentscheiden konnten.

2. Grundformen politischer Ordnung

Rückständigkeit hat zwei Gesich­ter: die Herrschaft Ein­zelner über viele und die Herrschaft der Vielen über den Einzelnen.

Die Geschichte hat eine Vielzahl politischer Systeme hervor­gebracht. Dabei sind zwei gegensätzliche Prinzipien auszumachen. Die überwiegende Zahl der Systeme sind als Mischformen zu erkennen, die dem einen oder dem anderen Prinzip jeweils näherstehen. Die gegensätzlichen Herrschaftsprinzipien unterscheiden sich darin, wie viele Personen befugt sind, politische Entscheidungen zu treffen.

Herrschaftsprinzipien

hierarchisch / autoritär demokratisch / gleichberechtigt
Einer entscheidet Alle entscheiden
Absolute Monarchie
Führerdiktatur
Direkte Demokratie

Alle politischen Systeme können zwischen den genannten Polen eingeordnet werden. Die Entscheidungsbefugnis im Sinne des "letzten Wortes", liegt in autoritär-hierarchischen Systemen entweder in der Hand einer Person oder in der einer Gruppe, die sich zwecks Machterhalt gegen den Rest der Gemeinschaft verbündet.

Die repräsentative Demokratie, die vereinfachend als Demokratie bezeichnet wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als Zwischenform. Sie ist keineswegs so autoritär wie ein diktatorisches System. Trotzdem hat auch in einer repräsentativen Demokratie nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerung das Recht, bei politischen Fragen tatsächlich mitzuentscheiden.

Das Kernmotiv der Demokratie ist das Mitbestimmungs­recht des Einzelnen. Je mehr Mitbestimmungs­recht ein System dem Einzelnen vorenthält, desto weni­ger wird es dem Begriff Demokratie gerecht.

Dass der Mehrheit zugestanden wird, zu entscheiden, wer an ihrer Stelle entscheidet, kann nur mit Abstrich als demokratisch im vollgültigen Wortsinn bezeichnet werden. Geht Demokratie nicht über die Wahl von Repräsentanten hinaus, hat man nach der Stimmabgabe nur noch eine Stimme, die wirkungslos verhallt.

3. Demokratie

Demokratie ist ein politisches Prinzip, das zwischen den Interessen der Mitglieder einer Gemeinschaft so ver­mittelt, dass die Ebenbürtigkeit der Individuen dabei respektiert wird. Demokratie heißt Volksherrschaft; von griechisch: demos (δημος) = Volk und kratein (κρατειν) = herrschen. Grundprinzip jeder Volksherrschaft ist die rechtliche Gleichheit aller Individuen, aus denen sich das Volk zusammensetzt.

Wohlgemerkt: Der Begriff Volksherrschaft wurde und wird von Kräften missbraucht, die keineswegs meinen, wofür er steht. Gegner der Freiheit aller Art haben ihn benutzt, um ihr Unrecht zu bemänteln. Weder eine selbsternannte Avantgarde noch dröhnende Retter des Vaterlands wollen tatsächlich, dass das Volk etwas zu sagen hat. Dass man das Richtige verbiegen kann, heißt aber nicht, dass es unverbogen nicht richtig wäre.

In einer echten Demokratie ist das Volk der Souverän des Staates. Als Souverän stimmt es über politische Sach­fragen ab. Da jeder Bürger das gleiche Stimmrecht hat, wird die Ebenbürtigkeit der Individuen beachtet. Eine Abwertung durch asymmetrische politische Strukturen kommt nicht zustande.

In der Demokratie sind Politiker und Parteien dem Volk unterstellt. Aufgabe demokratischer Politiker ist es, alter­native Gesetzentwürfe zu verfassen, die sie dem Volk zur Entscheidung vorlegen.

In der Demokratie beschäftigen sich Politiker nicht nur mit dem, was sie selbst für wichtig halten. Vielmehr gibt es Wahlverfahren, durch die das Volk der Politik Aufträge verbindlich zuweisen kann.

Vielen fiele es leichter, Zumutungen hinzunehmen, wenn die Zumutungen von allen und nicht nur von der Interessensvertretung einer rivalisierenden Gruppe beschlossen würden. Wir muten uns etwas zu, wirkt anderes als Wir muten euch etwas zu.

Demokratische Wahlen und ihre Bedeutung

Worüber abgestimmt wird Bedeutung
Gesetzesvorlagen der Politiker Das Volk entscheidet in Sachfragen, was es für richtig hält.
Probleme, die zur Klärung zu bearbeiten sind Das Volk als Souverän seiner selbst ist politisch aktiv. Es wird nicht regiert. Es regiert sich selbst.
Inhaber politischer Ämter Über die Besetzung wichtiger politischer Ämter entscheiden nicht die Parteien, sondern das Volk.
Parteien Auch in der direkten Demokratie werden Parteien gewählt. Ihr Einfluss ist aber geringer als in der repräsentativen.

Zweierlei Wahlen der direkten Demokratie

  1. Das Volk wählt, was zu regeln ist.
  2. Das Volk wählt, wie es geregelt wird.
3.1. Politiker, Ämter und Parteien
Direkte Demokratie ist freier Markt. Jeder packt in den Korb, was er kaufen will. In der repräsentativen Demokratie packen Groß­händler Fresspakete. Gurken bekommt nur, wer auch Mettwurst nimmt. Wer Mettwurst nicht mag, muss auf Gurken verzichten.

Auch in der direkten Demokratie spielen Par­teien eine Rolle. Als Vertreter gesellschaft­licher Flügel betonen sie in den Parlamenten potenziell mehrheits­fähige Positionen. Da in der direkten Demokratie aber nicht wechselnde Parteien herrschen, sondern immer nur das eine Volk, treten parteipolitische Prozesse in den Hintergrund.

Die Besetzung politischer Ämter hängt in der direkten Demokratie nicht von der Mitgliedschaft in Parteien ab. Sie wird durch fachliche Qualifikation und Verdienste bestimmt. Wenn das Volk ihm vertraut, kann ein Minister unabhängig vom Wahlerfolg seiner Partei dauerhaft im Amt bleiben.

Abwählbarkeit
In der repräsentativen Demokratie ist die Abwählbarkeit der Repräsentanten aus politischen Ämtern das unverzichtbare Element der freiheitlichen Ordnung über­haupt. Die Abwählbarkeit ist ein Segen, sie birgt jedoch Gefahr. Für repräsentative Politiker gibt es nur befristete Arbeitsverträge. Um eine Verlängerung zu bekom­men, müssen sie sich sowohl bei den Wählern als auch in den eigenen Reihen beliebt machen. Das führt dazu, dass Politiker oft nicht sagen, was sie wirklich denken, sondern tun, was ihre Position sichert.

In der direkten Demokratie werden wesentliche Entscheidungen gemeinsam getrof­fen. Da niemand, der dabei mitentschei­det, abwählbar ist, kann jeder gefahrlos zu dem stehen, was er denkt. Wenn wir nicht daran glauben, dass das die Chance zu mehr politischer Redlichkeit birgt, liegt unser Menschenbild grundsätzlich im Argen. Wären statt Personen Gesetze abwählbar, würden sich Personen weniger verbiegen.

3.2. Politische Struktur und seelische Gesundheit
Je ohnmächtiger man sich fühlt und je mehr man daher glaubt, die Welt beeinflussen zu müssen, desto radikaler werden die Positionen, die man formuliert. Radikalität wird als Kraft empfunden, die zur Beeinflussung der Welt aufgewendet wird. Nur selten ist es aber eine Kraft, deren Einfluss Gutes tut. Ein Staat, der Radikalität verhindern will, ist gut beraten, seinen Bürgern überflüssige Bevormundung zu ersparen.

Je mehr der Staat versucht, das Verhalten des Einzelnen bis in Details zu bestimmen, desto gewalttätiger wird die Gesellschaft als Ganzes. Ein sozialer Frieden, der das Verhältnis zwischen Menschen tatsächlich durchdringt, ist ohne persönliche Freiheit nicht möglich.

Die seelische Gesundheit des Menschen hängt im Wesentlichen davon ab, ob es ihm gelingt, die widersprüchlichen Pole des psychologischen Grundkonflikts miteinander zu versöhnen. Direkte Demokratie ist das einzige politische System, das weder dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit noch dem nach Selbstbestimmung grundsätzliche Hürden entgegensetzt.

Entmündigung und Selbstbestimmungsrecht

In der repräsentativen Demokratie ist der Wähler auf die Fresspakete weniger Großhändler angewiesen. Dank der Fünf-Prozent-Hürde, bekommt er für seine Stimme im Tante-Emma-Laden nichts. Das fördert das Geschäft der Groß­händler, führt aber dazu, dass der Wähler nur die Möglichkeit hat, zu wählen, was seinen Interessen im gleichen Zuge zum Teil widerspricht. Wählt er eine Partei, ist er gezwungen, sich auch für Ziele einzusetzen, die er für falsch hält. So schließt die repräsentative Demokratie Menschen entweder ganz von politischen Entscheidungen aus oder nötigt sie, dem eigenen Urteil zuwiderzuhandeln.

Sich durch Wahlverzicht selbst auszuschließen, verstößt gegen das Be­dürfnis nach Zugehörigkeit. Gegen den eigenen Verstand zuzustimmen, mutet dem Selbstbestimmungsrecht Kompromisse zu, die nicht guttun.

In der direkten Demokratie kann man ja sagen, wenn man ja meint und nein, wenn man dagegen ist. In der repräsentativen gibt es meist nur jein und naja. Niemand steht vollständig hinter dem, wozu eine Partei sich zusammenrauft.

Unklare Positionen fördern Irrationalität. Indem die repräsentative Demokratie die Wähler dazu zwingt, an der Urne Entscheidungen zu treffen, hinter denen sie nur zähneknirschend stehen, riskiert sie eine Unzufriedenheit, die frustrierte Wähler im schlimmsten Fall in die Hände Radikaler treibt.

3.3. Repräsentative Demokratie

Die repräsentative Demokratie, die uns heute regiert, ist ein Etappenziel. Sie ist aber nicht demokratisch genug. Anstatt dass die Wähler durch Abstimmungen Sachfragen entscheiden, wird ihnen bloß zugestanden, zu entscheiden, welche Partei für vier Jahre über sie bestimmen wird. Das Recht des Volkes wird an Lobbyisten abgetreten.

In der repräsentativen Demokratie sind verschiedene Ebenen des Lobbyismus miteinander verzahnt. Nicht nur dass sich die Parteipolitiker mit Lobbyisten verschiedener Interessengruppen absprechen; sie selbst sind Lobbyisten ihrer Wähler. Allerdings vertreten sie deren Interessen nur mit gebrochener Treue, da sie einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf das eigene Fortkommen verwenden. Die Wahrung gemeinschaftlicher Interessen wird durch die persönlichen Interessen ihrer Bewahrer gefährdet.

Ganzheit und Partei
Der Begriff Partei geht auf das lateinische pars = Teil zurück. Parteien repräsentieren Teile des Volkes, nicht aber das Volk als Ganzes. Die Herrschaft einer Partei ist niemals eine Herrschaft des Volkes. Das Volk ist eine plurale Ganzheit. Auch bei seinen Entscheidungen werden Sichtweisen überstimmt. Trotzdem trifft das Volk in der direkten Demokratie wichtige Entschei­dungen als Ganzes.

Jedes System, das das Mitspracherecht des Volkes und damit der Individuen, aus denen es besteht, durch die Herrschaft einiger über alle anderen untergräbt, schürt soziale Spannungen.

Der Begriff repräsentative Demokratie verschleiert, was tatsäch­lich geschieht. Er unterstellt, dass ein Herrscher sich in Sachen Herr­schaft vertreten lassen kann. Das ist widersinnig. Niemand herrscht, wenn er die Herrschaft an andere abtritt. Herr im Haus ist, wer bestimmt, nicht wer andere über sich bestimmen lässt.

In der repräsentativen Demokratie gibt der Einzelne bei den Wahlen tatsächlich seine Stimme ab. Mit der Stimmabgabe stimmt er seiner politischen Entmündigung zu. Herrschaft übt das Volk nach der Wahl nicht mehr aus. Vielmehr wird es von oben herab regiert. Die repräsentative Demokratie erfüllt wesentliche Kriterien des Begriffs Demokratie nur zum Teil.

Res publica

Die Republik ist das Feld öffentlicher Angelegen­heiten. Indem die repräsentative Demokratie Politi­ker dazu zwingt, persönliche und öffentliche Interessen miteinander zu verzahnen, behindert sie das republikanische Prinzip. Für Karrieren werden Entschei­dungen getroffen, die dem Gemeinwohl nicht selten abträglich sind. Viele Menschen werden dadurch der Idee einer solidarischen Gemeinschaft entfremdet. Eine öffentliche Ordnung, die parteiliche Interessen betont, schwört den Zeitgeist auf egozen­trisches Konkurrenz­denken ein. Mehr als er es sowieso schon ist, wird jeder zur Partei der eigenen Person. Nur die direkte Demokratie stellt das öffentliche Interesse in den Vordergrund.

Während direkte Demokratie jeden Einzelnen vollgültig zur Teilnahme an der Gemeinschaft einlädt und damit die Tür zur Zugehörigkeit ebenso offenhält wie die zur Selbstbestimmung, entmündigt die Parteien­herrschaft den Wähler in sämtlichen Fragen zur Sache. Damit bedingt sie ein gesellschaftliches Klima latenter Entwertung und chronischer Unzufriedenheit. Viele haben das Gefühl, dass sie von denen da oben nicht ernst genommen werden. Sie müssen zwar nicht zu Kreuze kriechen, sie werden aber als bloße Kreuzchenmacher angesehen.

Nachteile der repräsentativen Demokratie

Bedenklich

3.3.1. Konformität und Kompromiss

Innerhalb ihrer Partei stehen Politiker unter hohem Druck. Stets müssen sie ihre Sichtweisen der Parteilinie anpassen. Wer authentisch ist und unverstellt zu dem steht, was er tatsächlich denkt, wird Außenseiter.

Im Kontakt mit dem politischen Gegner findet man das Gegenteil. Hier wird Kompromiss­unfähigkeit zur Regel. Zu beobachten ist das Phänomen bei Diskussionsrunden im Fernsehen. Echte Kommunikation (lateinisch communicare = gemeinschaftlich tun, mitteilen) findet dort kaum statt. Statt zu versuchen, die Sichtweise des Gegners zu verstehen und einen Mittelweg zu finden, betreibt man Diskussion. Der Begriff entspringt dem lateinischen Verb discutere = zerschlagen, zerlegen. Discutere geht seinerseits auf quatere = schütteln, stoßen, beschädigen zurück.

Bei der Diskussion wird nicht zugehört, sondern auf ein passendes Stichwort gewartet, um die eigene Sichtweise als einzig richtig darzustellen und die des Gegners vom Tisch zu fegen. In der Diskussion wird nichts Gemeinsames getan. Der Diskutant nimmt nichts Neues auf. Andere Sichtweisen werden nicht abgewogen und ausprobiert. Sie werden als irrelevant abgetan. Der Gegner wird zurückgeschlagen.

Zwischen dem innerparteilichen Druck zur Konformität und der mangelnden Kompro­missfähigkeit nach außen besteht eine kausale Wechselwirkung. Sie ist politisch und psychologisch begründet.

Wahrheit ist unparteiisch.
3.3.2. Wahrheit und Partei

Politische Parteilichkeit ist eine Sozialisierung der Egozentrizität. Maßstab des Egos ist Vorteil, nicht Wahrheit. Für Wahrheit interessiert sich das Ego zwar durchaus, aber nicht um der Wahrheit, sondern um des Nutzens willen, den es aus ihrer Kenntnis ziehen könnte. Daher ist das Ego stets bereit, Wahrheiten, die seinem Vorteil nichts nützen, zu ignorieren, zu verleugnen oder zu verfälschen.

Der zur politischen Partei sozialisierte Egoismus einer Gruppe behandelt Wahrheit in gleicher Weise. In der Folge sind Selbstbetrug, Lüge und Vertuschung umso mehr Bestandteile eines politischen Systems, je mehr es Parteien zu den dominierenden Kräften der Gesellschaft macht. Am meisten vertuscht wird im Einparteiensystem. Im Mehrparteiensystem können sich die Gegner immerhin widersprechen.

3.4. Volksentscheid und demokratische Legitimität

Strenggenommen hat Deutschland keine demokratisch legitimierte Regierung. Das geltende Grundgesetz ist ein großer Entwurf. Seine Qualität stellt alles in den Schatten, was bis dahin da war.

Das Grundgesetz wurde aber nicht vom Volk, also demokratisch beschlossen, sondern vom Parlamentarischen Rat. Dieser bestand aus Mitgliedern 1949 bereits bestimmender Parteien. Das vom Rat erlassene Grundgesetz schließt Volksentscheide weitgehend aus. Vorgesehen ist ein Volksentscheid eigentlich nur für den Fall einer Neuaufteilung der Bundesländer. Stattdessen legt es jene Machtstrukturen fest, aus denen heraus es entstand. Es ist darauf zugeschnitten, die Strukturen des Parteiensystems festzuschreiben.

Volksentscheide oder Bürgerbegehren sind in den Landesverfassungen vorgesehen. Ihre politische Wirksamkeit ist jedoch entscheidend beschnitten. Zum einen gibt es für die Initiatoren eines Volksentscheids erhebliche organisatorische, bürokratische und finanzielle Hürden. Zum anderen sind Volksentscheide über wirklich wichtige Themen gar nicht zulässig. So darf ein Volksentscheid nicht das Grundgesetz selbst verändern; und damit genau jene Ordnung, die den Parteien das alleinige Beschlussrecht über alle wichtigen Fragen des Staates zuweist.

Das Unvermögen des Parteiensystems, Antworten auf drängende Fragen zu finden, beunruhigt viele. Viele reagieren darauf mit Angst, Wut oder Resignation. Dem Problem kann durch die Erweiterung von Mitspracherechten der Wähler begegnet werden. Nicht mehr Bürokratie ist das Mittel der Wahl, sondern mehr Demokratie.

Wie unbedeutend die Sichtweisen des Volkes für die derzeitige Grundordnung sind, zeigt die Auswirkung der Wahlbeteiligung auf die Besetzung der Parlamente. Ob das Volk wählt oder nicht, hat keine Bedeutung. Für ein gültiges Wahlergebnis reicht es aus, wenn sich die Abgeordneten selber wählen. Auch wenn niemand sonst den Kandidaten das Vertrauen ausspricht, kann das Volk sie nicht daran hindern, alle verfügbaren Sitze in den Parlamenten mit sich selbst zu besetzen.

3.4.1. Selbst- und Fremdbestimmung

Demokratische Grundregel

Es gibt eine demokratische Grundregel. Sie drückt das Wesen der Demokratie aus:

Der Zugang zur Neubestimmung aller übrigen Rechtsordnungen ist dem Volk offen zu halten.

Das Grundgesetz ist so konzipiert, dass es für zukünftige Generationen nur schwer zu verändern ist. Dadurch liegt die Gegenwart im Korsett vergangener Sichtweisen. Die heute Lebenden werden durch Verstorbene fremdbestimmt.

Die Befürworter der repräsentativen Demokratie begründen ihren Widerstand gegen die direkte Demokratie mit der Sorge, ein sich selbst bestimmendes Volk wähle Diktatur, Krieg und Barbarei. Sie behaupten, das Volk werde Demagogen folgen, gäbe man ihm das Recht, politische Entscheidungen inhaltlich selbst zu treffen. Nur die repräsentative Demokratie könne uns davor bewahren, dass das Volk in seiner Blindheit das Böse an die Macht versetzt. Repräsentative Demokraten verweisen auf das Dritte Reich und übersehen dabei Entscheidendes:

Demagogie geht auf Griechisch demos (δημος) = Volk und agein (αγειν) = führen zurück. Der Begriff bezeichnet das Bestreben, das Volk davon abzuhalten, politisch für sich selbst zu stehen und sich stattdessen Führern anzuvertrauen. Erfolgreiche Demagogen sitzen heute im Parteivorstand und warnen das Volk vor sich selbst. Haltet den Dieb! ruft der Dieb und zeigt in die Menge der Bestohlenen.

Dabei weiß jeder, der die Geschichte kennt, dass sich kaum ein Land je so wenig politisch verirrt hat, wie die einzige direkte Demokratie, die es seit Jahrhunderten gibt: die Schweiz.

Die Blindheit scheint also eher bei den Verfechtern der repräsentativen Demokratie zu liegen. Das System, in dem Hitlers Aufstieg stattfand, wurde nach seinem Untergang im Grundsatz wiedereingesetzt. Dabei wurde die Chance verpasst, einen entscheidenden Schritt weiterzugehen und die Entscheidung über sein politisches Schicksal vollgültig in die Hände des Volkes zu legen.

3.4.2. Bürgerliche Grundrechte
So grundlegend Bürger- und Menschen­rechte auch sind, sie sind nicht zwingend demokratisch. Auch eine Diktatur könnte diese Rechte gewähren, wenn sie auf dem staatlichen Gewaltmonopol beharrt und es keine juristischen Mittel gibt, den Diktator friedlich zu stürzen. Wie man weiß, ist der Respekt vor den Menschenrechten aber umso größer, je demokratischer es zugeht.

Auch in einer direkten Demokratie kann man die Grundrechte durch hohe Hürden vor übereilten Entscheidungen schützen.

Ein gesellschaftliches Klima, das die seelische Gesundheit der Bürger fördert, ist ohne Garantie der individuellen Grundrechte nicht denkbar. Zu diesen Rechten zählen:

Obwohl diese Rechte per Volksentscheid abgeschafft werden könn­ten, gibt es nur wenig Grund zur Sorge, dass dies in einer direkten Demokratie wahrscheinlicher als in einer repräsentativen ist. In einer repräsentativen Demokratie braucht das Volk nur rechts- oder linksradikal zu wählen. Schon sind die Grundrechte in Gefahr.

Wohlgemerkt

Radikale Sichtweisen sind Frühindikatoren gesellschaftlicher Spannungen. Es ist klug, sie ernst zu nehmen. Auch wenn sie perspektivisch verzerrt sein mögen und in ihrer Verzerrung gefährlich, macht es Sinn herauszuhören, welches Problem die Radikalität benennt. Nur dumme Menschen meinen, dass der politische Gegner völlig im Unrecht ist. Die klugen nehmen Radikalismen rechtzeitig den Wind aus den Segeln; indem sie anerkennen, was hinter der Verzerrung berechtigtes Anliegen ist.

4. Wirtschaft

Neben dem politischen System spielen wirtschaftliche Faktoren eine große Rolle bei der Frage, wie der Einzelne seine Position in der Gesellschaft erlebt. Da die gesellschaft­liche Position bei den meisten Menschen nachhaltigen Einfluss auf das psychische Befinden hat, ist Wirtschaftspolitik ein Thema, dass auch die Psychiatrie angeht. Immer mehr Patienten leiden unter psychischen Störungen, die als Folgen einer Entwicklung zu erkennen sind, die Menschen wirtschaftlichen Kräften aussetzt, denen sie nichts entgegenzusetzen haben. Viele bleiben schiere Opfer dieser Kräfte. Sie finden keine kreative Antwort. Dabei sind zwei polare Muster zu erkennen, die sich wechselseitig verstärken:

  1. Die einen werden gesellschaftlich marginalisiert. Sie verbleiben oder rutschen ins Prekariat.
  2. Anderen werden in der Arbeitswelt Belastungen zugemutet, die sie zunehmend auszehren.

Drei Faktoren sind für diese Entwicklung ausschlaggebend:

  1. Durch die technologische Entwicklung wird die Arbeitswelt komplizierter. Der Anspruch, den man erfüllen muss, um KFZ-Mechaniker zu werden, ist heute ungleich höher als vor 30 Jahren. Aus Mechanikern wurden Mechatroniker.
  2. Die globalisierte Wirtschaft nutzt Lohn- und Preisgefälle konsequent. Komplette Branchen werden dorthin verlagert, wo minimaler Lohn zu zahlen ist. Verkauft werden die Waren, wo der höchste Preis bezahlt werden kann. Die Gewinner der Globalisierung machen gute Geschäfte. Wer nicht mithalten kann, geht pleite.

  3. Verwaltungsvorschriften werden zunehmend dirigistischer. Zum technologisch bedingten Druck in der Arbeitswelt kommt ein bürokratischer Aufwand, der Abläufe optimieren soll, der an sachlichen Notwendigkeiten jedoch vorbeigeht. Ursache sind Politiker, die von der Lebenswelt der Regierten kaum etwas wissen.
4.1. Ausgrenzung

Prekariat ist ein moderner Begriff. Er geht auf das lateinische precari = bitten, betteln zurück. Er benennt eine gesellschaftliche Schicht, deren soziale Position als prekär, also als misslich, heikel und schwierig angesehen wird. Das Prekariat ist jener Teil der Gesellschaft, deren ökonomische Absicherung dauerhaft infrage steht.

Die Soziologie (Robert Castel 1995) ordnet dieser Schicht nicht nur reine Empfänger von Sozialleistungen zu, sondern auch Menschen, die ihr Mindesteinkommen nur gerade mal so, unter laufender Ausnutzung kurzzeitiger Gelegenheiten, aus eigener Kraft erwirtschaften. Viele prekär Beschäftigte schwanken zwischen Job und Stütze hin- und her. Oder sie sind trotz Job auf zusätzliche Unterstützung angewiesen.

Sinnverlust

Aus­gren­zung Verein­nah­mung
Bore-out Burn-out
Welchen Sinn macht das Leben, wenn es keine Aufgabe mehr gibt, die man erfüllen kann? Welchen Sinn macht das Leben, wenn es nur Abfolge von Aufgaben ist, die man erfüllen muss?

Zum Prekariat gehören vor allem Menschen, die aus sozialen, intellektuellen, psychologischen oder gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sind, beim Wettlauf um bürgerliche Existenzen mitzuhalten. Eine wesentliche Ursache für das stete Anwachsen des Prekariats ist der Export geeig­neter Arbeitsplätze in Billiglohnländer.

4.2. Vereinnahmung und Missbrauch

Am anderen Pol der Gesellschaft stehen die komplex Leistungsfähigen. Sie erwirt­schaften den überwiegenden Teil des Sozialprodukts. Während das vor dem Siegeszug der Wirtschaftsglobalisierung zu bewerkstelligen war, ohne dass die Work-Life-Balance aus den Fugen geriet, wird das Dabeisein seitdem energetisch immer kostspieliger.

Der Begriff Work-Life-Balance ist vielsagend. Eigentlich gehört Arbeit zum Leben dazu. Der Begriff formuliert beides jedoch als Gegensatz. Er tut das, weil Arbeit immer mehr zu einer Zumutung wird, vor der man den Rest des Lebens schützen muss.

Ein weiterer Anglizismus verdeutlicht das Problem: Human Resources. Ressourcen (lateinisch resurgere = hervorquellen) sind Grundstoffe, die beim Wirtschaftsprozess zu höherwertigen Gütern verarbeitet werden. Der Gebrauch des Begriffs belegt, dass der Mensch im Zeitalter der Just-in-time-Produktion als Grundstoff betrachtet wird, der durch den Prozess ebenso aufzubrauchen ist wie Öl, Holz- oder Siliziumvorkommen.

Während das Prekariat Ausgrenzung erlebt, weil es für die Wirtschaft nicht mehr verwendbar ist, erlebt die Schicht der Leistungsfähigen eine zunehmend bedrückende Vereinnahmung durch die Maximierungsdynamik der Wirtschaft. Sie werden für zwei Zwecke missbraucht:

Direkte Demokratie gibt dem Einzelnen den politischen Einfluss zurück, den er durch die Globalisierung verliert.
  1. wachsende Gewinne für die grenzüberschreitende Wirtschaft zu erarbeiten.
  2. den Lebensunterhalt für das Prekariat zu erwirtschaften und die Kosten zu tragen, die dessen soziale Entwurzelung nach sich zieht.

Der Prozess der Globalisierung ist unumkehrbar. Er bietet große Chancen für die Menschheit. Den Chancen stehen jedoch Gefahren gegenüber. Die Globalisierung führt zu Machtstrukturen und technologischen Möglichkeiten, die die Bedeutung des Einzelnen noch weiter in den Hintergrund zu drängen drohen, als sie es von jeher schon war. Direkte Demokratie ist eine Möglichkeit, einseitige Entwicklungen auszugleichen.