Anicca · Vergänglichkeit


  1. Begriffe
  2. Trügerische Hoffnung
  3. Ernüchternde Erfahrungen
  4. Chance
  5. Abwehrmuster
Dem Vorübergehenden kann man sich öffnen oder man kann sich daran aufhalten. Öffnet man sich, erfährt man es und geht weiter. Hält man sich auf, hält man sich fest und wird doch fortgerissen.

Die Akzeptanz der Vergänglichkeit setzt Energien frei, die bis dahin in ihre Abwehr investiert wurden.

Erfahrungen zu durchleben, führt schneller zum Ziel, als sie aufzuhalten.

Leben ist Vergänglichkeit. Der Tod ist sein Abschluss und ihr Ende. Jenseits davon liegt nicht das Gleiche, sondern dasselbe.

1. Begriffe

Anicca (Pali - अनिच्चा) bzw. Anitya (Sanskrit - अनित्य) gehört gemäß der buddhistischen Ontologie zu den drei Wesensmerkmalen der Wirklichkeit.

Drei Merkmale
Drei grundlegende Merkmale der Wirklichkeit - zumindest jener, die dem Menschen begegnet und in die er eingebettet ist - sind...
  1. Anicca = Vergänglichkeit
  2. Dukkha = Leidbehaftung
  3. Anatta = Uneigenständigkeit

Ebenso wie im Begriff Anatta findet man in Anicca die Vorsilbe An-. Sie drückt eine Verneinung aus. Nicca bzw. nitya heißt fortgesetzt, immerwährend. Anicca heißt nicht fortgesetzt, also vergänglich.

2. Trügerische Hoffnung

Da alle Objekte der Wirklichkeit vergänglich sind, ist jeder, der sein Glück in der Bindung zu Objekten sucht, dazu verurteilt, den Verlust seines Glücks zu erleben; oder es nie zu erreichen. Das gilt insbesondere für die Bindung an das persönliche Ich, also die Identifikation mit der eigenen Person; aber auch für die Bindung an alles, was als begehrenswert empfunden wird, was als Objekt besessen oder als Erfahrung erlebt werden kann. Die Bindung an Objekte und spezifische Erfahrungsmuster führt in einen Kreislauf von Erfahrungen, die unweigerlich mit Verlust und Leid durchsetzt sind.

Vergängliches ist nicht nur austauschbar, sondern austauschpflichtig. Vergängliches hat nur vorübergehende Bedeutung.

Die ostasiatische Philosophie spricht vom Samsara (Sanskrit - संसार, verwandt mit samsarati [संसरति] = fließen mit). Sie meint damit das Gewebe objektiv erkennbarer Sachverhalte, das wir als Welt bezeichnen. Das Gewebe dieser Sachverhalte ist einem unaufhaltsamen Wandel unterworfen, sodass darin kein Ziel gefunden werden kann, das endgültig gilt. Wer seine Hoffnung in Objekte der Welt verankert, wird vom Strom der Ereignisse fortgerissen. Auf der Suche nach Erlösung vom Leid und nach dauerhaftem Glück verbleibt er auf einer Wanderschaft, bei der er niemals ankommt. Er irrt in der Welt der Erscheinungen umher, ohne jemals zu sich selbst zu finden.

3. Ernüchternde Erfahrungen

Eng verbunden mit der Vergänglichkeit ist die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit. Je mehr der Mensch über den unmittelbaren Horizont seiner persönlichen Interessen hinausblickt, desto größer ist die Gefahr (und die Chance), dass er all sein Tun, seine Erfolge und schließlich seine gesamte Existenz als bedeutungslos empfindet.

Ähnlich und doch anders
Die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit ähnelt im Grundsatz der der Minderwertigkeit. Sie geht aber darüber hinaus. Das Minderwertigkeitsgefühl entspringt einem sozialen Vergleich. Der Einzelne vergleicht sich mit anderen. Kommt er dabei zum Ergebnis, das andere erfolgreicher, schöner, klüger oder besser sind als er, dann glaubt er, dass sein Wert unter dem Wert der anderen liegt. Immerhin: Ein Mensch mit Minderwertigkeitsgefühl stellt die Bedeutung seiner Person nicht grundsätzlich in Frage. Er meint bloß, dass sie geringer ist, als sie sein sollte. Er identifiziert sich selbst immer noch mit seiner Person und weist ihr damit eine Bedeutung zu, die sie im Hinblick auf ihre Vergänglichkeit nicht haben kann.

Die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit entspringt nicht dem Vergleich mit anderen Personen. Sie entspricht vollständiger Erkenntnis der Vergänglichkeit. Wer die Vergänglichkeit aller Erscheinungen und damit aller Sachverhalte, die der Zeit unterworfen sind, nicht nur intellektuell erkennt, sondern von der Erkenntnis in seinem Selbstverständnis existenziell getroffen und bestimmt wird, durchläuft die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit.

Die Frage nach der Bedeutung der Person wird dabei nicht nur relativ beantwortet. Sie wird im Grundsatz verneint. Wer seine Person für bedeutungslos hält, geht nicht davon aus, dass sie weniger Wert ist als andere. Er erfährt ihre Existenz als bloße Erscheinung. Beim Minderwertigkeitsgefühl bleibt die Illusion einer potenziellen Großartigkeit des Egos erhalten. Die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit hebt sie auf.

Die vollständige Erfahrung der Bedeutungslosigkeit der Person entspricht der Einsicht in Anatta. Anatta heißt: Es gibt kein Ich, das als eigenständige Instanz die Person begründet. Das Ich als Gegensatz zum Nicht-Ich ist Komponente einer Polarität, in der das Ganze als Gespaltenes in Erscheinung tritt; ohne in seiner Essenz tatsächlich gespalten zu sein. Eine Welle, die es nicht mehr gibt, ist eine Möglichkeit des Ozeans, in Erscheinung zu treten.

4. Chance

Oben wird die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit sowohl als Gefahr als auch als Chance bezeichnet. Sie ist Gefahr, weil sie den Erfahrenden in eine so tiefe Depression stürzen kann, dass er meint, er sei nichts. Man spricht vom nihilistischen Wahn (lateinisch nihil = nichts). Beim nihilistischen Wahn bleibt die Identifikation des Ich mit der Person erhalten. Der wahnhaft Depressive macht sich zum Opfer eines Vergleichs. Er vergleicht seine Person mit dem, was sie vermeintlich sein sollte, und wertet sie ab.

Wer seine Vergänglichkeit erkennt, kann sich an etwas Größerem beteiligen.

Sie ist Chance, wenn sie die einseitige Identifikation mit der Person überwindet, wenn sie dem Erfahrenden also die Bedeutungslosigkeit seiner persönlichen Interessen vor dem Hintergrund des absoluten Seins vor Augen führt und er den Mut hat, die Bindung an sein Ego aufzugeben; um das absolute Sein als neues Selbstbild anzunehmen. Dann erkennt er, dass sein Dabeisein (lateinisch Interesse) die Grenzen der Person überschreitet und an etwas Größerem beteiligt ist.

Beteiligung

Sich an etwas zu beteiligen heißt, sich dem Feld als Teil hinzuzufügen, in das man eintritt. Dabei ist das Feld stets größer als der Teil, der man als Partikel darin ist.

Teil eines bestimmten Feldes zu sein heißt, den besonderen Kräften ausgesetzt zu sein, die innerhalb des Feldes wirken. Und es heißt, das Kraftfeld durch die eigene Gegenwart zu ändern. Da die Kräfte, denen man sich durch den Beitritt aussetzt, nicht vollständig ausgeglichen werden können, wird jede Mitgliedschaft durch einen Verlust an Selbstbestimmung begleitet. Wer mitmacht, schränkt sich ein, indem er sich in etwas Größeres einfügt, und er erweitert sich, indem er sich ein Feld eröffnet, in dem er sich entfalten kann. Wer Mitglied eines Feldes ist, kann über das mitbestimmen, was im Feld geschieht.

Die Einsicht in ihre Vergänglichkeit erhöht die Bedeutung, die der Person im Fluss des Vergänglichen zukommt.

5. Abwehrmuster

Leben ist eine Dynamik, die darauf abzielt, sich entgegen widriger Umstände selbst zu erhalten. Es ist ein selbstbewahrender Prozess. Da Leben zugleich auf materielle Strukturen zugreift, die dem Gesetz der Entropie, also der unaufhaltsamen Vergänglichkeit unterworfen sind, leistet es der Vergänglichkeit Widerstand. Dieser Widerstand ist bereits Grundmerkmal vorbewussten Lebens...

Der Widerstand gegen die Vergänglichkeit wendet mit dem Fortschritt der Arten immer aufwändigere Strategien an, sodass die Phylogenese als Entwicklungsgeschichte wirksamer Abwehrmuster gegen die Vergänglichkeit verstanden werden kann.

Sublimation

Nach Wolfgang Amadeus' Tod war er in der Erinnerung der Nachwelt immer noch lebendig. So sagt man; obwohl Erinnerung als Lebendigkeit bereits metaphorisch gemeint ist. Und Hand aufs Herz: Nachdem der Letzte gestorben war, der Wolfgang Amadeus persönlich kannte, war er auch in niemandes Gedächtnis mehr präsent.

Wolfgang Amadeus hinterließ jedoch ein Werk, dass so schnell nicht in Vergessenheit gerät. Etwas von ihm ist bislang der Vergänglichkeit entronnen und begründet den Ruhm seines Erschaffers.

Ruhm und rufen sind sprachlich verwandt. Berühmt ist, wessen Name allerorten oder noch lange Zeit genannt und ausgerufen wird.

Die Bewältigung archaischer Triebe und Ängste durch Kreativität bezeichnet die Psychologie als Sublimation. Freud ging davon aus, dass die Sublimation eine wesentliche Triebfeder ist, die kulturelle Prozesse befeuert. Er hatte Recht. Im Hintergrund des menschlichen Schaffensdrangs ist auch das Motiv zu erkennen, der totalen Vergänglichkeit zu entgehen, indem man etwas hinterlässt, das die Nachwelt mit dem Namen des Verstorbenen verknüpft.

5.1. Psychopathologie

Opfer der Vergänglichkeit zu werden, ist als allzeit drohendes Unheil jedem Leben stets präsent. Es überrascht daher nicht, dass die Angst davor ein zentrales Motiv des seelischen Erlebens ist und ein großer Teil dieses Erlebens ausdrücklich oder verdeckt mit der Abwehr oder Verleugnung der Vergänglichkeit beschäftigt ist.

Einerseits verhindert die Abwehr der Vergänglichkeit das Leid des sofortigen Untergangs, andererseits ist sie selbst Quelle ständigen Leids; dort nämlich, wo sie überwertig wird, unverhältnismäßig viele Ressourcen verbraucht und heilsame Entwicklungen blockiert. Das Leben vieler Menschen wird durch Verhaltensmuster überschattet, die einen überschießenden Widerstand gegen die Vergänglichkeit zum Ausdruck bringen. Das meiste, was in der Psychopathologie Rang und Namen hat, kommt dabei vor.

Der kleine Bruder des Todes

Schlaflos zu sein heißt, alarmiert zu sein. Es heißt, nicht zu vertrauen und loszulassen. Wer schläft, vertraut darauf, dass um ihn herum nichts vorgeht, was er zu bekämpfen hätte. All'arme! heißt italienisch zu den Waffen. Ist das Bewusstsein alarmiert, wird es zu einer Waffe, die der Welt des Wandels zu widerstehen versucht.

Wach sein heißt, die Welt zu überwachen. Wer wach ist, statt zu schlafen, hält nach Gefahren Ausschau, die er im Auge behalten will. Zwei stehen im Vordergrund. Beide haben mit der Vergänglichkeit zu tun:

  1. einen Verlust zu erleiden.
  2. einen Gewinn zu verpassen.

Tiefschlaf ist ein zeitloser Zustand. Zeitlich gesehen folgt das, was beim Erwachen und Einschlafen geschieht im selben Moment. Widerstrebt man dem, was morgen zu erwarten ist, kann es sein, dass man nachts wachliegt, um sich durch Zeit zum Unerwünschten auf Distanz zu bringen. Tief zu schlafen heißt, Vergänglichkeit hinzunehmen. Im Schlaf vergeht die Zeit wie im Flug. Manchmal fürchtet man genau das.

5.2. Spiritualität

Wir haben gesehen: Anicca hat mit dem Zugriff des Lebens auf materielle Strukturen zu tun. Insoweit das Leben körperlich ist, ist es der Vergänglichkeit unterworfen. Neben überschießenden Abwehrmustern zur Verhinderung oder Verleugnung der Vergänglichkeit, die sich zu manifesten psychischen Erkrankungen ausformen, hat der Mensch die Religion entdeckt. Leitmotiv der Religion ist die Überwindung der Vergänglichkeit.

Unterschiedliche Strategien

Verleugnen Verhindern Überwinden
Der Süchtige legt den Schwerpunkt auf die Verleugnung der Vergänglichkeit. Er verdrängt die Angst davor mit psychoaktiven Substanzen oder durch Verhaltenssüchte aus dem Bewusstsein. Dabei verdrängt er auch, dass seine Strategie die Vergänglichkeit oft sogar noch fördert. Bei Angst- und Zwangsstörungen steht die Verhinderung zeitnaher Vergänglichkeit im Vordergrund. Was Angst- und Zwangspatienten tun, schafft die Vergänglichkeit zwar nicht aus der Welt, kann ihre Effekte aber hinausschieben. Der spirituelle Mensch will die Vergänglichkeit nicht hinausschieben. Zuweilen nimmt er ihren vorzeitigen Eintritt sogar in Kauf. Sein Ziel ist es, die Vergänglichkeit grundsätzlich zu überwinden oder die Angst davor zu verlieren. Dabei lernt er, sie bewusst zu akzeptieren und ihre gute Seite für sich zu nutzen.

Je nach weltanschaulichem Grundkonzept schlagen Religionen drei verschiedene Strategien vor, wie die Vergänglichkeit zu überwinden ist.

Die buddhistische Tradition stellt die Vergänglichkeit neben der Leidbehaftung (Dukkha) und der Ich-Losigkeit (Anatta) in den Vordergrund der Betrachtung. Sie erklärt pathologisches Leid als Folge einer irrtümlichen Identifikation des Individuums mit vergänglichen Erscheinungen.

Zur Behebung des Leids empfiehlt sie, die Identifikation mit egozentrischen Vorstellungen über das eigene Wesen zu lösen. Die wesentliche Methode, die sie dazu anwendet, entspricht der der mystischen Religion: die kontemplative oder meditative Einsicht in die tiefere Struktur der Wirklichkeit.

Erfolge die Einsicht, erkenne das Individuum, dass sein Wesenskern nicht an egozentrische Strukturen gebunden, sondern in der sogenannten Buddhanatur verankert ist.

Buddha heißt der Erwachte. Gemäß buddhistischer Ontologie ist die Buddhanatur als reine Bewusstheit der Vergänglichkeit materiell basierter Erscheinungen entbunden. Habe das Individuum den zeitlosen Seinsgrund der Wirklichkeit entdeckt, bekomme es Zugang zum Zustand des sogenannten Nibbana bzw. Nirwana, in dem alle egozentrischen Begierden erloschen sind, die es bis dahin den Formen psychopathologisch beschreibbarer Leidenserfahrungen ausgeliefert hatten.

Abwehrstrategien gegen die Angst vor Leben und Tod

Psychopathologisch Spirituell
Identifikation mit der Person bleibt erhalten. Identifikation mit der Person wird aufgegeben.
Ich und Nicht-Ich sind zwei. Ich und Nicht-Ich sind eins.

Die Welt ist die duale Ebene der Wirklichkeit. Sie ist nachgeordnet, weil die Zwei nach der Eins kommt. Die Zwei kommt aber nur auf der dualen Ebene nach der Eins. Auf der non-dualen ist sie in der Eins enthalten.

5.3. Technik und Werkzeug

Um die Angst vor der Vergänglichkeit zu überwinden, gilt es, sich die Vergänglichkeit auftauchender Erscheinungen beharrlich vor Augen zu führen. Das kann während der Meditation geschehen, aber auch außerhalb davon.

Indem man sich klar macht, dass es sich bei Gedanken und Gefühlen nur um vorübergehende Erscheinungen handelt, lernt man, ihnen unbefangen zu begegnen; ohne ihnen eine dramatische Bedeutung beizumessen durch die man sich selbst unter Druck setzt. Sobald man Gedanken und Gefühle unbefangen wahrnimmt, erkennt man die Zusammenhänge, die zwischen ihnen bestehen und man erkennt, welcher Platz ihnen im Kontext der eigenen Biographie zukommt.

Das führt zu einem innerseelischen Klärungsprozess und zu einer Steigerung des Selbstbewusstseins. Zu erkennen, dass man selbst keines dieser objektivierbaren Ereignisse ist, befreit von der Sorge, gemeinsam mit den Ereignissen der Vergänglichkeit aller Objekte unterworfen zu sein. Dem entspricht zuletzt die Einsicht in Anatta: Was tatsächlich ist, existiert nicht als objektivierbares Etwas, dessen Untergang zu befürchten wäre.

Im Alltag ist der unbefangene Umgang mit der Vergänglichkeit des Objektiven ein nützliches Werkzeug um unangenehme Erfahrungen leichter zu überstehen. Taucht ein unangehmenes Gefühl auf, von dem man überwältigt und niedergedrückt zu werden droht, gewinnt man die Oberhand, wenn man das Gefühl als vorübergehende Erscheinung erkennt, das der Vergänglichkeit unterworfen ist. Was tatsächlich ist und Bedeutung hat, bleibt sowieso bestehen.