Erleuchtung · Erwachen


  1. Begriffsbestimmung
  2. Religiöse Grundprinzipien
  3. Konfessionalität und Konflikt
  4. Ausgangslage und Zielpunkt
  5. Mittel und Wege
  6. Assoziierte Erfahrungsfelder
  7. Hindernisse
  8. Psychologische Wirkungen
Der Erleuchtete sieht nicht nur Licht. Er ist leuchtendes Beispiel dafür, wie man leben könnte.

Als Jetzt entwirft Gott die Welt, die er als wir erlebt.

Wer das Kleine nicht mehr groß macht, macht das Große nicht mehr klein.

1. Begriffsbestimmung

Als Erleuchtung wird die Schlüsselerfahrung der mystischen Religiosität bezeichnet. Synonym kann vom Erwachen gesprochen werden.

Die Vorsilbe Er-, mit der beide Begriffe anheben, kündigt einen Übergang an. Erleuchten heißt sehend machen. Erwachen heißt wach werden. Wach zu sein ist Voraussetzung des Sehens. Leuchten geht wie Licht auf die indoeuropäische Wurzel leuk- = leuchten, strahlen, funkeln zurück. Den Erleuchteten füllt der Funke eines transzendenten Lichts. Es ist derselbe Funke, der in jedem Bewusstsein zu finden ist, der das normale Bewusstsein jedoch nicht ausfüllt, weil er von anderem überdeckt wird.

Wach gehört zum Verb wachen. Wie es im Substantiv Wache anklingt, heißt wachen auf etwas aufpassen. Wachen seinerseits ist eine Abwandlung des germanischen Verbs wekan = munter sein, dem leicht hörbar unser heutiges wecken entspringt. Ein Wecker ist ein Muntermacher; obwohl ihn keineswegs jeder so positiv betrachten mag.

Wekan ging aus dem indoeuropäischen ueḡ- = frisch sein, stark sein hervor. Zum selben Stamm gehören altindisch vāja-ḥ = Kraft, Schnelligkeit und lateinisch vegere = munter sein, dem das Fremdwort Vegetation entspringt. Die Vegetation keimt munter aus dem Boden, sobald die Sonne scheint. Auch das deutsche Adverb wacker ist mit den Genannten verwandt. Etwas wacker anzugehen heißt, nicht lange mit der Ausfüh­rung eines Vorhabens abzuwarten und viel Kraft bei der Umsetzung aufzuwenden.

Unio mystica

Die europäische Mystik spricht von einer Unio mystica. Ausgehend von der dualistischen Vorstellung eines Gegensatzes zwischen Mensch und Gott deutet sie die Erfahrung als eine Überbrückung der dualistischen Polarität und damit als Vereinigung des Abgetrennten mit dem Absoluten. Bezieht man die tiefere Bedeutung des Wortes Mystik in das Verständnis der Unio mystica mit ein, ist von einer schweigenden und gegebenenfalls verschwiegenen Vereinigung zu sprechen.

In der Tat ist die entsprechende Vereinigung nichts, was durch einen verba­len Akt, sei er bloß gedacht oder als Gebetsformel ausgesprochen, zu vollziehen wäre. Dem Wesen des Ereignisses entspricht es ebenso wenig, dass man seine Erfahrung an die große Glocke hängt. Geht jemand umher und ruft: Schaut nur! Ich bin erleuchtet und sehe etwas, was ihr nicht seht, käme der Verdacht auf, dass er etwas für Erleuchtung hält, was keine ist. Es gibt religiöse Umfelder, die der mystischen Erfahrung derart ablehnend gegenüberstehen, dass sogar Verschwiegenheit geboten sein kann. Das Individuum, das nach Freiheit strebt, ist irdischer Macht ein Dorn im Auge.

In außereuropäischen Sprachen wird das Erleuchtungserlebnis als Satori (japa­nisch: さとり = Verstehen), Bohdi (Sanskrit: बोधि = Erwachen) bzw. Samadhi (Sanskrit: समाधि = Versenkung, Sammlung) bezeichnet. Der Erleuchtete versteht etwas, was er bislang nicht verstanden hat. Statt an die Oberfläche des sinnlich Erkennbaren gefesselt zu sein, versenkt er den Blick in eine Tiefe, in der die Gegensätze des Erkennbaren zur ursprünglichen Einheit versammelt sind.

Wortwahl
In der vorliegenden Abhandlung wird vom Begriff Gott Gebrauch gemacht. Das sollte nicht unkommentiert geschehen. Gott ist im abendländischen Sprachge­brauch eng mit der Vorstellung einer personalen Instanz verknüpft. Die griechischen, römischen und germanischen Götter waren anthropomorphe Figuren. Der abrahamitische Gott ist es ebenfalls. Gemäß Altem Testament schuf Gott den Menschen nach seinem Abbild. Jesus spricht explizit von seinem Vater.

1 Moses 1, 27:*
So schuf Gott den Menschen nach seinem Abbild, nach Gottes Bild schuf er ihn...

Lukas 23, 34:*
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Der Begriff Gott hat den Vorteil, eine vertraute Vorstellung aufzurufen. Als religiöse Metapher ist er gut verwendbar, da er das Gottesbild der dominanten Religions­auffassung zum Ausdruck bringt, mit dem jeder sofort etwas anfangen kann. Der Begriff weckt spontan Interesse und motiviert zum Engagement, indem er ankün­digt, dass von etwas Wichtigem die Rede ist.

Blickt man jedoch über die Vorstellungswelt der dualistischen Theologie hinaus, werden die Grenzen des Begriffes deutlich. Gemäß mystischer Theologie kann das Absolute eben nicht als separate personale Einheit aufgefasst werden, weil der dualistische Gottesbegriff Gott zum Objekt menschlicher Hinwendung und Anbetung reduziert. Das tatsächliche Wesen Gottes wird besser durch den Begriff Gottheit benannt, der von Meister Eckhart geprägt wurde. Gottheit umfasst mehr als eine Person, zu der man betet.

Betrachtet man das Thema aus dem Blickwinkel der Psychologie, ist der Begriff absolutes Selbst eine gute Wahl, weil er das Gemeinte benennt ohne ihm voreilig bestimmte Eigenschaften zuzuweisen. Allerdings fehlt dem absoluten Selbst die poetische Würze, die Gott inneliegt. Absolutes Selbst: Das klingt abstrakt und akademisch. Und doch: Wie heißt es an der hellsten Stelle der Bibel?

2 Moses 3, 14:*
Gott entgegnete dem Moses: "Ich bin, der ich bin!"

2. Religiöse Grundprinzipien

Religiosität befasst sich mit dem Transzendenten. Sie befasst sich mit dem, was jenseits der sinnlichen Wahrnehmung liegt. Das ist allen Varianten religiösen Ausdrucks gemeinsam. Innerhalb des Spektrums religiöser Ausdrucksformen gibt es jedoch eine Wasserscheide:

Obwohl beide Ansätze kategorisch zu unterscheiden sind, spricht im Grundsatz nichts dagegen, sie in religiösen Fragen parallel zu verwenden. Beide können zu einer gesunden seelischen Entwicklung beitragen. Die Gefahr gegenläufiger Effekte ist bei der dualistischen Auffassung jedoch größer, während nur der monistische Ansatz die Chance bietet, den Menschen vollständig aus seiner Egozentrik zu befreien. Vollgültige Religion ist keine Unterwerfung des Egos, sondern Befreiung aus der Egozentrik.

2.1. Anbetung

Zu leben ist gefährlich. Das ist eine Erfahrung, die selbst Mäusen im Gewebe sitzt und die nicht nur deren Bauplan, sondern auch ihr Verhalten mitbestimmt. Während sich Mäuse über die Wirklichkeit wohl kaum Gedanken machen, versucht der Mensch, die Welt zu verstehen, um sich vor den Gefahren des Daseins gezielt zu schützen. Dabei untersucht er nicht nur die Unterschiede zwischen genießbaren und ungenießbaren Pilzen. Er stellt grundsätzliche Überlegungen an.

Ich und Nicht-Ich
Ich bin das, was ich kontrollieren kann. Ich bin der, der unter dem leidet, was er nicht kontrollieren kann. Ich bin, wozu ich frei bin. Das Nicht-Ich ist, wozu ich unfrei bin.

Schon früh wurde dem Menschen klar, dass er bei der Abwehr von Gefahren zwar viel aus eigener Kraft bewirken kann, dass er der Wirklichkeit zugleich aber bei weitem mehr ausgeliefert bleibt, als dass er sie beherrschen könnte. Das gilt auf zweierlei Art. Der Mensch kann sich weder als Einzelner dem Ausgeliefertsein aus eigener Kraft entziehen noch durch die gebündelte Anstrengung aller.

Der Erkenntnis, dass es Faktoren gibt, die unüberwindbar über das Schicksal des Menschen bestimmen, folgte die Idee jenseitiger Kräfte, deren Werk das Schicksal ist und deren Entscheidungen man, analog zu den Entscheidungen eines irdischen Machthabers, durch wohlgefälliges Verhalten beeinflussen kann. Die Idee eines Gottes oder einer Götterwelt, denen man Bitten zuträgt und deren Wohlmeinen man sich durch Unterwerfungsgesten, Grußbotschaften und Opfergaben versichert, war geboren.

2.1.1. Psychologische Vorteile

Hätte die Anbetung von persönlichen Göttern keine positiven Effekte, würde sie in der Menschenwelt kaum so viel Anklang finden. Der Gläubige, der seinen Gott anruft, geht logischerweise davon aus, dass gegebenenfalls positive Wirkungen von dem Gott ausge­hen, dessen Entscheidungen er durch die Anbetung beeinflusst. Er glaubt, erhört zu werden; oder die Wahrscheinlichkeit dazu durch die Anbetung zumindest zu erhöhen. Sonst wäre er nicht gläubig.

Aber auch ungeachtet dessen, ob Gott die unzähligen, oftmals miteinander unvereinbaren Anliegen seiner Anbeter tatsächlich zur Kenntnis nimmt oder nicht, haben Gebete und glaubenskonforme Rituale positive psychologische Effekte.

2.1.2. Physiologische Vorteile

Eine besondere Rolle spielt der Glaube an die Macht der Anbetung im Krankheitsfall. Hier geht der psychologische Effekt nahtlos in physiologische Wirkungen über, die über Siechtum und Heilung entscheiden können. Die psychosomatische Kopplung von Körper und Seele führt dazu, dass die Entängstigung, die durch die Anbetung Gottes erzielt wird, auf körperlicher Ebene eine verminderte Ausschüttung sogenannter Stresshor­mone bewirkt. Dazu gehören Katecholamine und Glukokortikoide. Da Stresshormone auf Dauer zu schweren gesundheitlichen Störungen führen können, kann die Senkung ihrer Plasmaspiegel umgekehrt auch schwere Krankheitssymptome zur Abheilung bringen.

In der Medizin kennt man analoge Effekte als Plazebowirkung. Der schiere Glaube, dass die Einnahme eines Medikamentes heilsam ist, reicht oft aus, um Heilung zu erreichen. Dabei sollte der Begriff Plazebo nicht abwertend verwendet werden. Zuversicht als Wirkkraft ist ein hohes Gut, das zu belächeln die Eitelkeit jener verrät, die allzu stolz auf ihre Taten sind.

2.2. Präsenzgewissheit

Singularität

Die Sprache ist vielsagend. Sie kennt den Begriff das Selbst. Einen Plural davon kennt sie nicht.

Die religiöse Präsenzgewissheit beruht auf einer anderen Wirklichkeits­deutung als die Gottesanbetung. Der Gottesanbeter sieht Gott als eine Person, die der eigenen gegenübersteht. Damit wendet er sich an eine Instanz, die von ihm selbst entrückt im Jenseits thront und von dort aus die Geschicke lenkt. Dieses Bild ist dualistisch. Es sieht zwei Instanzen: Gott und den Anbeter. Jede Instanz hat ein eigenes Selbst, ohne dass es zwischen beiden eine substanzielle Verbindung gäbe. Beide Instanzen sind somit füreinander Objekt.

Das Streben nach der Präsenzgewissheit ist monistisch. Es setzt keine substanzielle Trennung von Schöpfer und Geschöpf voraus. Vielmehr sieht sie das Göttliche als Subjektivität, der man nicht begegnen kann, als sei sie ein Gegenüber, sondern von der man bloß ausgehen kann, sofern man ihre Präsenz in und als sich selbst annimmt.

3. Konfessionalität und Konflikt

Gott primär als Subjektivität zu deuten, setzt intellektuelles Abstraktionsvermögen voraus. Das Subjekt ist eben kein Objekt und damit nichts, was man an bestimmten Eigenschaften sinnlich erkennen könnte. Daher ist es kaum verwunderlich, dass der Mensch dazu neigt, sich Götterbilder anzufertigen, also konkrete Objekte, an die man sich wenden kann.

Religion kann als individueller Bezug zwischen dem Einzelnen und Gott betrachtet werden oder als soziale Angelegenheit. Wird Religion als soziale Angelegenheit betrieben, überlagern ihre Muster den individuellen Bezug. Soziale und im nächsten Schritt politische Interessen erheben Anspruch darauf, über den ursprünglich individuellen Bezug zu bestimmen. Das kann zu einem Konflikt zwischen der dualistischen und der monistischen Religionsauffassung führen.

Ungleiche Brüder
  • Religion: Ich mache erste Schritte und entscheide unterwegs, wie es jeweils für mich weitergeht.

  • Konfession: Ich bekenne mich zu einer religiösen Partei. Ich schwöre nur den vorgeschriebenen Weg zu gehen und jeden zu bekämpfen, der etwas anderes tut.

Wohlgemerkt: Es kann zu einem Konflikt führen. Es muss aber nicht. Das zeigt der religiöse Pluralismus Indiens. In Indien gedeihen dualistische Anbetungskulte verschiedenster Art neben monistischen Auffassungen, ohne dass es zwischen all diesen Formen zu grundsätzlichen Feindseligkeiten käme. Im abrahamitischen Kulturkreis ist das anders. Das liegt an der Offenbarungsbehauptung und der daraus resultierenden Konfessionalität.

Advaita
Exemplarisch für den indischen Monismus ist die Philosophie des Advaita (Sanskrit अद्वैत). Das geübte Ohr hört aus dem Begriff unschwer die Sanskritentsprechung (dvi - द्वि) des Zahlwortes zwei heraus. Dem Dvi ist ein A vorangestellt, also derselbe Präfix, der auch im Griechischen eine Verneinung bedeutet (z. B. a-sthenisch = kraftlos). Advaita heißt Nicht-Zweiheit.

Die Kernaussage des Advaita greift die altindische Sichtweise auf, dass das Ich des Einzelnen Ausdruck der kosmischen Einheit ist und dieser, entgegen äußerem Anschein, nicht gegenübersteht, sondern unauflösbar in sie eingebettet ist.

3.1. Frühe Weichenstellung

Die abrahamitische Tradition geht von der Offenbarungsbehauptung aus. Gemäß ihrer Wirklichkeitsdeutung ist Gott eine entrückte Person, die auserwählte menschliche Personen dazu beauftragt, an ihrer statt Politik zu machen. Da es dem Interesse jeglicher Machthaber entspricht, sich Konkurrenten vom Hals zu halten, ist es folgerichtig, einen Gott auszurufen, dem nichts wichtiger ist, als sich selbst gegen Konkurrenz zu verwahren. Das erste Gebot steht nicht zufällig an erster Stelle.

2 Moses 20, 3:*
Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!

Der Glaube an einen solchen Gott entspricht einer klaren Botschaft: den Herrschafts­anspruch seiner Vertreter niemals infrage zu stellen. Kein anderer Gott = kein anderer Ritus = keine andere Herrschaft.

Die westliche Welt wendet große Mittel auf, um Schäden einzudämmen, die durch die religiöse Tradition verursacht wird, deren Varianten sie zugleich als ihre höchsten Errungenschaften preist.

Versteht man Religion als Politik im göttlichen Auftrag, ist der Konflikt zwischen dualistischer und monistischer Wirklichkeitsdeutung vorprogrammiert. Das primäre Kernmotiv aller Politik ist die Kontrolle von Konkurrenten. Je nach Radikalität des Vorgehens wird Konkurrenz entweder eingedämmt oder brachial beseitigt. Da die Wertschätzung potenzieller Konkurrenten ihre Beseitigung behindert, liegt es ebenfalls im Interesse politischer Religion, Vorstellungen aus der Welt zu schaffen, die dem Menschen an sich einen unumstößlichen Wert beimessen. Genau das tut aber die monistische Religionsauffassung. Sie geht von der Präsenz Gottes im Einzelnen aus.

So wie es kein Zufall ist, dass das erste Gebot an erster Stelle steht, ist es auch kein Zufall, dass der Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies ganz am Anfang der Bibel zu finden ist; denn dieser Mythos erklärt die monistische Auffassung zum Teufels­werk. Zwei Textstellen des Alten Testaments sind von entscheidender Bedeutung:

1 Moses 3, 5 - 6:*
Vielmehr weiß Gott, daß euch, sobald ihr davon eßt, die Augen aufgehen und ihr... Gutes und Böses erkennt... Da sah die Frau, daß der Baum gut sei... um weise zu werden.

1 Moses 3, 22:*
Dann sprach er:" Ja, der Mensch ist jetzt wie einer von uns geworden, da er Gutes und Böses erkennt. Nun geht es darum, daß er nicht noch seine Hand ausstrecke, sich am Baum des Lebens vergreife, davon esse und ewig lebe."

Erkenntnis ist der entscheidende Schritt zur Erleuchtung. Ihr Ausdruck ist Weisheit, ihr wesentlicher Inhalt die Gewissheit, dass das Selbst nicht mit der Person zusammen­fällt, sondern substanziell ins Absolute übergeht. Die Verteufelung der Erkenntnis zugunsten blinden Glaubens ist eine grundsätzliche Ablehnung mystischer Religiosität.

Da das Absolute über der Zeit steht, ist auch das Selbst des Einzelnen der Zeit zuletzt enthoben. Da die monistische Spiritualität das bewusst zu machen versucht, wirkt sie dem Machtanspruch dualistischer Kulte entgegen; deren Kernidee Spaltung und Hierarchie, aber nicht Einheit ist.

3.2. Gehorsam und Selbstbewusstheit

Wir haben gesehen: Die dualistische Anbetung personifi­zierter Götter und die monistische Suche nach Erleuch­tung schließen sich im Grundsatz nicht aus. Das erste kann das zweite vorbereiten. Erst wenn der dualistische Kult von politischen Zielen vereinnahmt wird, geraten beide Ansätze miteinander in Konflikt.

Überflüssige Vergleiche

Für den einen ist Gott eine Macht, vor der er niederkniet, für den anderen ist er die Gegenwart, die er in sich trägt. Ehren Sie Gott, indem Sie als seine Gegenwart aufrecht gehen. Knien Sie vor niemandem nieder; auch nicht vor ihm. Wer vor Gott kniet, meint, dass Gottes Größe im Vergleich zur eigenen groß ist. Damit erkennt er nicht Gottes Größe an, sondern verkleinert, was davon in ihm liegt. Gottes Größe ist keine Größe, die im Vergleich zu etwas Kleinem groß ist, sondern eine, die über jeden Vergleich hinausgeht. Auf Gottes Größe kann man nicht durch einen Meter Unterschied verweisen, den man ihm zusätzlich zugesteht. Man verweist darauf, indem man das, was man ist, nicht kleiner macht, um groß zu werden.

Die Offenbarungsbehauptung postuliert, dass Gott einzel­nen Personen eine besondere Rolle zuweist, nämlich die, seine Wünsche gegenüber allen übrigen gegebenenfalls gewaltsam durchzusetzen. Solche besonderen Personen nennt die Tradition Propheten ( = Vorsprecher). Ihre Erben nennen sich Priester. Priester geht auf Griechisch presbyteros [πρεσβυτερος] = Ältester zurück. Zweifellos ist mit dem Ältesten kein kalendarisches Alter gemeint. Sonst könnten Anwärter erst mit 80 zum Priester ernannt werden. Der Älteste steht für verehrungswürdig, so wie es im veralteten Hochwürden und im englischen Reverend (to revere = verehren) ausgedrückt wird. Dualistische Religion verstärkt die Egozentrik ihrer Repräsentanten, indem sie deren Personen besondere Bedeutungen zuschreibt. Egozentrik ist der Glaube an ein autonomes Selbst, das Gott gegenübersteht.

Die monistische Auffassung postuliert etwas anderes. Sie geht davon aus, dass das Göttliche in jeder Person von je her präsent ist... und es daher keine besonderen Personen gibt, die kategorisch über anderen stehen. Teilhabe am Göttlichen ist nichts Besonderes, sondern etwas Alltägliches. Mehr noch: Da die dualistische Auffassung der Offenbarungstheologie zwischen Gott und Mensch spaltet, ist die definitorische Nähe ihrer Propheten zu Gott geringer, als es die entsprechende Nähe eines jeden Laien gemäß monistischer Auffassung ist. Während der sogenannte Prophet ein kategorisch anderer als Gott ist, fasst die Mystik jedes Wesen als dessen unmittelbaren Ausdruck auf. Für die Mystik erschafft Gott die Welt nicht neben sich, als ob es neben ihm etwas anderes gäbe. Er entwirft die Welt aus und in sich, sodass seiner Einheit niemals etwas anderes entgegensteht.

Die Grundlage des Bezugs zwischen Mensch und Gott bleibt im Dualismus folglich der Gehorsam, der, solange sich Gott nicht persönlich blicken lässt und deren Ansprüche bestätigt, den Repräsentanten des Glaubens gegenüber abzuleisten ist.

Sura 4, 17-18:**
... wer Gott gehorcht und seinem Gesandten... wer sich aber auflehnt gegen Gott und seinen Gesandten...

Gemäß monistischer Auffassung entsteht der Bezug zwischen Mensch und Gott durch Selbstbewusstheit. Auf gesellschaftlicher Ebene haben die Unterschiede weitreichende Folgen. Der Kult um Hierarchie und Gehorsam festigt entsprechende Muster auf politischer Ebene. Er fördert asymmetrische Sozialstrukturen. Dort wo er explizit von politischen Kräften vereinnahmt wird, führt er zu Expansionismus, Diktatur und Militanz. Eine Gesellschaft im religiösen Sinne selbstbewusster Individuen ist gegen solche Entwicklungen weitgehend gefeit.

4. Ausgangslage und Zielpunkt

Ich hafte an der Welt, solange ich mich für einen Teil von ihr halte. Ich löse mich von ihr, wenn ich jeden Teil als Bild von mir sehe.

Der Mann im Spiegel redet mir ein, dass ich er bin, weil er ich sein will. Ich sage ihm, dass er ich ist, wenn er es sein kann.

Zu unterscheiden sind zwei Funktionsmuster des Bewusstseins. Der Erleuchtete geht vom einen ins andere Funktionsmuster über.

Jedes Element der Welt steht mit jedem anderen in Verbindung und wird durch diese Verbindung getragen. Ein eigenständiges Objekt gibt es nicht.

Keine Person ist sie selbst. Jeder Körper besteht aus Dingen, die kein Körper sind. Das Selbst eines jeden Bedingten ist das Unbedingte. Wer das nicht nur denkt, sondern in jedem Gegenstand sieht, sieht über die Grenze hinaus.

Sie sind das, was Sie sind und das, was Sie nicht sind. Ich sage Sie, weil ich Sie meine. Würde ich Du sagen, spräche ich von irgendwem.

Das absolute Selbst tritt als Polarität in Erscheinung; ohne tatsächlich gespalten zu sein. Die primäre Polarität besteht aus Subjekt und Objekt. Im normalen Funktions­muster identifiziert sich das Ich mit dem relativen Selbst. Zu dessen Bausteinen gehören der Körper als physikalisches Objekt sowie die Ausdrucksformen des persönlichen Bewusstseins (Gedanken, Impulse, Meinungen, Gefühle, etc.) als virtuelle Objekte. Das Ich betrachtet das Gefüge dieser Elemente als eigene Person und setzt sich damit gleich.

Im erleuchteten Funktionsmuster geht das Selbstverständnis des Ichs über das relative Selbst hinaus. Es erweitert sich ins absolute Selbst. Durch die Erleuchtung wird die Unbegrenztheit des absoluten Selbst erfahren, die im subjektiven Pol der Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Zugleich wird die Gleichsetzung des Ichs mit dem relativen Selbst zugunsten der Identität mit dem absoluten aufgegeben. Das relative Selbst wird als Ausdrucksform des absoluten aufgefasst, der gegenüber anderen Ausdrucksformen keine besondere Geltung mehr zu verschaffen ist. Der Erleuchtete hat kein Geltungsbedürfnis mehr, das den Frieden seiner Seele stören könnte.

5. Mittel und Wege

Die Möglichkeit einer grundlegenden Transformation des Bewusstseins ist seit Jahr­tausenden bekannt. Ebenso lange gibt es Menschen, die Mittel und Wege suchen, wie man die Transformation gezielt erreichen kann. Zum Spektrum der Erfahrungsformen, die dabei zum Zuge kommen, gehören zwei Prinzipien.

  1. Spontane Erleuchtungserlebnisse
  2. Zielgerichtete Arbeit am Bewusstsein
5.1. Spontane Erleuchtungserlebnisse

Spontane Erleuchtungserlebnisse treten unerwartet auf. Sie werden in der Regel als plötzliches Umschwenken des Wirklichkeitserlebens von der üblichen Form in eine völlig neue beschrieben. Dabei wird meist betont, dass die Beschreibung der neuen Erfahrung nur andeutungsweise auf deren tatsächliche Qualität verweisen kann. Zur Spontanei­tät solcher Erfahrungen gehört zudem, dass sie willentlich weder beliebig wiederholbar sind, noch dass man anderen eine verlässliche Wegbeschreibung liefern kann, die eine empirische Überprüfung möglich macht.

Die ungenügende Beschreibbarkeit solcher Erfahrungen bringt es mit sich, dass auch nicht zu entscheiden ist, wie groß die Übereinstimmung des jeweiligen Erlebens hinter den individuellen Beschreibungen ist. Trotzdem scheint etwas Einheitliches abzulaufen.

Gemeinsamer Nenner
Als gemeinsame Nenner mystischer Erleuchtungserfahrungen können zwei Kriterien genannt werden.

Die Psychodynamik der Erleuchtungserfahrung lässt sich verstehen, wenn man die normale Funktionsweise des Bewusstseins als einen Zwischenzustand zwischen Derealisation und Hyperrealisation betrachtet. Im normalen Modus erlebt das Ich die Welt als ein ihm gegenüberstehendes Nicht-Ich, das ihm somit eigentlich fremd und nur oberflächlich vertraut ist. Das normale Ich ist an die unvollständige Vertrautheit aber so gewöhnt, dass es sie nicht als bestimmte Qualität wahrnimmt. Bei der Derealisation wird weitere Vertrautheit eingebüßt. Der Betroffene erkennt, dass er die Welt bislang noch als relativ vertraut wahrnahm, nun aber nicht mehr. Das macht ihm Angst.

Bei der Hyperrealisation tritt das Gegenteil auf. Der Erleuchtete erkennt eine viel größere Vertrautheit mit der Wirklichkeit als bisher wahrgenommen. Ist die Erfahrung vollständig, wird zwischen Ich und Nicht-Ich keine Grenze mehr empfunden. Da das Nicht-Ich nun nicht mehr als etwas Fremdes erscheint, dem das Ich konflikthaft ausgeliefert ist, verschwindet das unterschwellige Gefühl der Bedrohung, das dem normalen Realitätsempfinden eingewoben ist.

Das Erlebnis völliger Vertraut- und Verbundenheit nimmt dem Ich jede Angst. Es wird als Frieden empfunden, als Stille jenseits eines jeden Kampfgetümmels, in das das Ich als bloße Person verwickelt ist. Das Ich erkennt sich selbst als Einheit von Person und Welt. Da der Konflikt zwischen Ich und Nicht-Ich überschritten wird, wird Liebe als bestimmende Farbe der Wirklichkeit selbstverständlich. Was keine Angst um sich selbst hat, ist Liebe. Liebe ist ein Weiß, das alle übrigen Farben zu sich vereint; selbst schwarz.

5.2. Zielgerichtete Arbeit am Bewusstsein

Teure Technik

Bloß weil Sie Ihr Geschirr von Hand spülen werden Sie noch nicht erleuchtet. Aber immerhin, es ist möglich. Wenn Sie jedoch eine Spülmaschine benutzen, sinkt Ihre Chance gegen Null.

Wären Erleuchtungserfahrungen willentlich durchzuführen, lebten wir in einer anderen Welt. Wahrscheinlich hätte es nie einen Krieg gegeben. Wahrscheinlich gäbe es auch keine ökologischen Probleme, da der Mensch die Welt, in der er eingebettet ist, als einen Ausdruck des eigenen Wesens tunlichst achten würde. Es ist aber nicht so. Ursache ist die Egozentrizität des normalen Realitätserlebens, die unverdrossen darüber wacht, dass die konzeptuelle Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich bei der Konstruktion des Welt- und Selbstbilds bestehen bleibt.

Seine Egozentrizität ist dem Ich nicht übelzunehmen. Das Ego ist ein Hüter des persönlichen Bestands. Das Schicksal eines Ichs, das seinen Hüter bedenkenlos in die Wüste schickt, ist in einer Welt, die vor Gefahren für die Person nur so wimmelt, ziemlich offen. Kaum jemand tauscht deshalb die Dienste des Egos gegen die Freiheit ein, die ein Verzicht auf den Beschützer mit sich bringt. Lieber als Mündel des Beschützers leben, als ohne Schutz nicht zu wissen, was danach kommt.

Andererseits klingen die Verheißungen derer, die von entsprechenden Erfahrungen berichten, so verlockend, dass überall auf der Welt religiöse Traditionen entstanden sind, die Mittel und Wege suchen, das ersehnte Ziel der Entängstigung durch vorbereitende Übungen zu erreichen. Da den ostasiatischen Ländern die Unterdrückung der Mystik durch konfessionelle Glaubensformen ursprünglich erspart blieb, verwundert es nicht, dass die dortigen Traditionen den europäischen an Breite, Tiefe und Einfluss überlegen sind. Eine Skizze der kaum auslotbaren Geisteswissenschaft, die mit der spirituellen Suche verbunden ist, kann unter fünf Überschriften versucht werden:

  1. Spirituelle Meditation
  2. Wissen
  3. Handeln
  4. Hingabe
  5. Scheitern des Verstandes (Kōan)

Hinduistische Entsprechungen

Die hinduistische Tradition, vor deren Hintergrund auch die buddhistische entstanden ist, hat drei Wege zur mystischen Erfahrung beschrieben.

Jnana Yoga
Der Weg des Wissens

Karma Yoga
Der Weg des Handelns

Bhakti Yoga
Der Weg der Hingabe

Advaita macht klar, dass es sich hierbei nicht um getrennte Wege handelt, sondern um drei Ströme, die ineinanderfließen.

5.2.1. Spirituelle Meditation

Nicht jede Meditation ist spirituell ausgerichtet. Meditative Techniken gibt es auch als Methoden zur Effektivitätssteigerung innerweltlicher Betriebsamkeit. Dann dienen sie zur Beruhigung des Geistes in einem hektischen Alltag, eines Geistes, der sie keineswegs dazu einsetzt, um die Person zu überschreiten, sondern um die Person zu festigen. Sie dienen keinem über die egozentrische Grundausrichtung der Psyche hinausreichenden Ziel. Zu nennen sind hier z.B. das Autogene Training, aber auch die Achtsamkeitsmeditation zur Steigerung der Konzentrationsfähigkeit und zur psychosomatischen Entspannung.

Das Ziel der spirituellen Meditation liegt höher. Sie versucht, die Perspektive auf die Wirklichkeit grundsätzlich zu ändern, indem sie den Suchenden aus der Identifikation mit seiner Person herauslöst.

Die Identifikation mit der Person manifestiert sich durch die egozentrische Beschäftigung des Ichs mit deren Belangen. Wie hartnäckig diese egozentrische Bindung ist, kann jeder schnell entdecken, wenn er auf meditativem Wege versucht, sie zu lösen. Als erster Ansatz, der zum Ziel führen soll, dient meist der Versuch, sich auf ein einziges Meditationsobjekt zu konzentrieren. Das klassische Meditationsobjekt ist dabei der Atem. Es kann aber auch irgendeine Körperstelle sein, eine bestimmte Körperhaltung, die einzuhalten ist, ein geistiges Vorstellungsbild oder ein Objekt der Außenwelt: zum Beispiel eine Kerzenflamme oder eine Ikone.

Fast jeder stellt dabei ein erstaunliches Unvermögen fest, seine Aufmerksamkeit auf Dauer beim Zielobjekt zu halten. Statt dass der Fokus der Aufmerksamkeit wie gewünscht beim Pendeln der Atmung verbleibt, taucht, kaum hat man es ein paar Atemzüge geschafft, der erste Gedanke auf, der offensichtlich so wichtig erscheint, dass er prompt dazu verführt, seinem Thema gedanklich zu folgen und die Atmung aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zu entlassen.

Oh! Ich habe vergessen, das Handy vom Ladegerät abzustöpseln. Was, wenn der Akku, während ich hier sitze, durch Überladung beschädigt wird?

Symbol und Wirklichkeit

Gedanken entstehen beim Versuch des Sub­jekts, die Wirklichkeit durch Konzepte und Bilder zu verstehen. Die gedanklichen Vorstellungen sind aber nicht mehr die Wirklichkeit selbst, sondern deren symbolisierter Ersatz. Statt nach der Wirklichkeit Ausschau zu halten, läuft das Subjekt Gefahr, immer neue Bilder davon zu entwerfen, die als Vorstellungen den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Das zu tun ist des­halb so verführerisch, weil Bilder im Gegensatz zur Wirklichkeit leicht handhabbar sind. Beim Entwurf der Bilder erlebt sich das Subjekt unbe­wusst als Macher einer virtuellen Wirklichkeit, die sein Unterworfensein unter die tatsächliche überdeckt. Das denkende Ich glaubt, mächtig zu sein.

Lässt man die Psyche gewähren, folgen dem ersten Gedanken spontan weitere:

2. Gedanke
Käme ich nicht besser zur Ruhe, wenn ich das Ladekabel erst abkoppele und die Meditation dann neu beginne?

3. Gedanke
Bei der Meditation soll aber doch geübt werden, sich nicht ablenken zu lassen. Besser, ich bleibe sitzen und halte die Sorge aus.

4. Gedanke
Bin ich vielleicht deshalb so ablenkbar, weil ich nicht gerade sitze?

5. Gedanke
Mist! Jetzt bin ich schon wieder am Denken statt achtsam zu sein. Ich sollte den Gedanken loslassen und mich auf den Atem konzentrieren. Ob ich das jemals hinbekomme?

Wirkhebel 1
Zu denken ist eine typische Aktivität des egozentrischen Ichs. Die Denkinhalte kreisen um die eng umschriebenen Themen der Person. Gedanken, begleitende Gefühle und Impulse sind Erscheinungsformen des relativen Selbst. Der Vorsatz, sich ausschließlich mit dem Meditationsobjekt zu befassen, dient dem Ziel, die permanente Beschäftigung mit den Erscheinungsformen des relativen Selbst zu verhindern. Zum typischen Charakter des relativen Selbst gehört seine ständige Betriebsamkeit.

De facto sind die Inhalte des relativen Selbst virtuelle Objekte. Sie sind als relatives Selbst zu bezeichnen, weil wir dazu neigen, uns damit zu identifizieren. Je mehr wir uns von der Kettenreaktion des Denkens, Urteilens, Planens und Fühlens vereinnahmen lassen, desto fester wird die Identifikation. Wir übersehen, dass wir nicht das relative Selbst sind, sondern der Beobachter, der ihm so viel Bedeutung beimisst, dass er sich unentwegt damit befasst und sich mit seinen Absichten identifiziert.

Ziel der spirituellen Meditation ist es, diese Identifikation zu lösen. Also wendet man sich von aufkommenden Gedanken immer wieder ab und konzentriert sich auf ein ausgewähltes Objekt. Dadurch soll erreicht werden, dass schließlich keine Gedanken mehr aufkommen, also keine virtuellen Objekte, mit denen sich das beobachtende Subjekt irrtümlicherweise identifiziert. Als Folge soll der Geist zur Ruhe kommen, damit er, unabgelenkt durch die Betriebsamkeit der Person, sein reines Wesen erkennt.

Selbst wenn man das Grundprinzip der Fokussierung des Meditationsobjektes verstan­den hat und bereit ist, es konsequent umzusetzen, ist der Weg zum Erfolg meist steinig und lang. Die meisten geben rasch auf.

Ein zweiter Ansatz im Umgang mit der Aufdringlichkeit des relativen Selbst und seiner mentalen Produkte, kann darin liegen, sich nicht von den Inhalten abzuwenden, son­dern sie ihrerseits zu identifizieren und erkennbaren Merkmalen der Person zuzuordnen:

Aha! Jetzt befasse ich mich mit meinem Handy. Wie eifrig ich doch damit beschäftigt bin, mich vor jedem Schaden zu beschützen.

Jetzt befasse ich mich mit der Ablenkbarkeit im Allgemeinen. Offensichtlich will ich alles, was ich tue, optimieren.

Wirkhebel 2
Sobald etwas betrachtet wird, wird es zum Objekt der Betrachtung. Diese Objek­tivierung des Betrachtbaren löst das betrachtende Subjekt aus der Identifikation mit dem betrachteten Objekt heraus. Wird der Vorgang konsequent fortgesetzt, kann der Betrachter seine Identität mit der reinen Subjektivität mehr und mehr verwirklichen.

Statt sich Denkprozessen zu überlassen oder sich vom Gedanken abzuwenden, wird zum Gedanken Abstand geschaffen, indem man ihn zum Objekt der Betrachtung macht.

Über Jahrtausende hinweg ist die Meditation ein wesentliches - wenn nicht sogar das wesentliche - Werkzeug der Spiritualität geblieben. Als eine Spielart der Meditation kann die Kontemplation aufgefasst werden. Bei der Kontemplation wird ein bestimmtes Thema, das mit der religiösen Befreiung zu tun hat, bewusst in den Fokus der Aufmerk­samkeit gestellt. Dadurch versucht man nicht, die Wirklichkeit durch Abwendung und Distanzierung von Denkinhalten zu erkennen, sondern sich ihr durch ein durchgreif­endes Durchdenken des Sachverhalts zu nähern, das schließlich zum Verstehen führt. Zu den typischen Themen der Kontemplation gehören...

Wohlgemerkt: Die beschriebenen Formen der spirituellen Meditation und Kontempla­tion sind keineswegs die einzigen. Es gibt zahlreiche weitere Varianten, die hier nicht erwähnt sind. Die Erwähnten sind jedoch geeignet, um die Grundprinzipien des meditativen Bemühens um mystische Erfahrungen zu beleuchten.

Der Weise weiß, dass Wissen Entwurf ist.
5.2.2. Verstehen

Die Kontemplation, also die intensive Beschäftigung mit religiösen Themen, ist ein verbreitetes Werkzeug zur zielgerichteten Arbeit am Bewusstsein, die tatsächlich hyperreale Erfahrungen vorbereiten soll. Kontemplatives Verständnis kann auch durch die Lektüre spiritueller Texte befeuert werden, durch die andere Sucher von den Erfahrungen ihrer Suche berichten oder Denkmodelle anbieten, die als Wegbeschreibung dienen.

Da die Kontemplation sich ausdrücklich auch intellektueller Mittel bedient, liegt ihr die Gefahr inne, letztendlich die egozentrische Bindung des Ichs an das relative Selbst zu festigen, statt sie definitiv zu lösen. In der Tat: Intellektuelle Mittel erzeugen Wissen. Wissen ist eine Ressource der Person, die sich damit besser zu positionieren versucht. Wissen kann zwar auch spirituellem Verständnis dienen, es kann aber auch mit wahrer Einsicht verwechselt werden. Der Wissende weiß dann zwar eine Menge, aber er versteht trotzdem nicht viel. Sein Wissen bleibt an der Oberfläche kognitiver oder metaphysischer Theorien, ohne so tief ins eigene Wesen vorzudringen, dass eine echte Transformation stattfindet.

Die reale Gefahr, beim Erwerb bloßen Wissens die eigentliche Erfahrung, auf die es abzielen soll, aus den Augen zu verlieren, hat nicht wenige Sucher dazu gebracht, den Wert des intellektuellen Durchdringens spiritueller Themen ganz zu verneinen. Da der Versuch kontemplativer Durchdringung leicht in intellektuelle Spekulationen ausarten kann, die unter Mitwirkung blumiger Begriffe wortreiche Vorstellungsbilder hervor­bringen, ist die Skepsis nicht unbegründet. So beharrt so mancher Vertreter der Zen-Tradition darauf, dass lesen, denken, argumentieren und überlegen nichts nützt und nur blankes Meditieren in korrekter Körperhaltung zählt. Trotzdem schreiben auch solche Leute Bücher, in denen mehr steht als der Satz: Sitz und betrachte! Deshalb sei hier vorgeschlagen: Wenn man die Praxis vor lauter Theorie nicht vergisst, ist die intellektuelle Beschäftigung mit dem Thema nicht schädlich.

5.2.3. Selbstloses Handeln

Wir greifen den Gedanken auf: Das normale Bewusstsein, nämlich das eines Ichs im egozentrischen Modus, ist überwertig damit beschäftigt, zum Vorteil der Person zu handeln. Es tut das, weil es der Person, mit der es sich gleichsetzt, so viel Bedeutung beimisst, dass die ständige Fokussierung ihrer Interessen folgerichtig erscheint. Was liegt also näher als die Bindung des Ichs an sein egozentrisches Treiben durch einen Frontalangriff zu brechen. Statt eigennützig zu handeln, kann man willentlich das Gegenläufige tun, also selbstlos handeln. Durch eine entsprechende Brute-Force-Attacke auf das egozentrische Muster müsste die Befreiung aus der Enge der Person in die Weite ihrer selbst zu erzwingen sein. Möglicherweise ist sie das. Aber keineswegs so zuverlässig, als dass programmatisch praktizierter Altruismus systematisch in einen Zustand wahrer Befreiung führen würde.

Zwickmühle

Wer aus sich einen besseren Menschen machen will, verfolgt ein persönliches Interesse: nämlich besser zu werden. Wer der Qualität seiner Person Bedeutung zumisst, hat sich bereits mit ihr identifiziert. Dadurch wird die Desidentifikation vom relativen Selbst behindert. Statt gezielt selbstlos zu handeln, genügt es zu beobachten, ob man es tut oder nicht.

Der Grund dafür ist leicht einzusehen. Selbstlosigkeit wird kaum je bereits dadurch verwirklicht, dass man für andere verzichtbereit Gutes tut. Für andere Gutes zu tun, ist, ungeachtet eines religiösen Vorsatzes, zum einen ein soziales Geschäft, zum anderen ein psychologischer Schachzug, der das Selbstwertgefühl ins Plus bringt, das Gewissen beruhigt und dadurch Schuldängste mindert.

Verdeckt verfolgt der Altruist hinter der Oberfläche seines Handelns eigennützige Ziele; und sei es nur das, mit Hilfe seiner Selbstlosig­keit sein kleines Selbst gegen das große einzutauschen.

Tatsächlich ist es oft aber noch verzwickter: Selbstloses Handeln bringt soziale Anerkennung ein. Man macht sich beliebt, vermeidet unangenehme Konflikte und pflegt mit vertretbarem Aufwand ein Selbstbild, auf das man stolz sein kann. Mit dem Stolz auf Qualitäten der eigenen Person wird jede ernsthafte Bereitschaft vereitelt, sie hinter sich zu lassen. Ein Tunichtgut, der nichts Besonderes auf sich hält, hat womöglich größere Chancen, ein spontanes Erleuchtungserlebnis zu erfahren, als jemand, der sich durch Tugend zum Vorbild anderer zu machen versucht.

Trotzdem: Solange man der Fallstricke programmatischer Tugend eingedenk ist, ist die Bereitschaft, uneigennützig zu handeln, eine nützliche Übung, um die Bindung an sein Ego behutsam zu lockern. Uneigennützig im vollgültigen Sinn kann aber nur handeln, wem jeder Gewinn daraus gleichgültig ist.

5.2.4. Hingabe

Während das selbstlose Handeln, nennen wir es gemeinsam mit den Hindus einmal Karma-Yoga, aktiv den Vorteil anderer ins Auge fasst, ist die bloße Hingabe, also Bhakti-Yoga, blanker Verzicht auf egozentrische Eigennützigkeit. Zu den Werkzeugen der Hingabe gehören Lobpreisungen Gottes, die Wiederholung von Gottesnamen, Gebetslitaneien und Mantras oder die kreisenden Tänze der Derwische. All das hat den Zweck, das Bewusstsein derart mit geistigen Akten der Hingabe ans Absolute zu füllen, dass für egozentrische Inhalte kein Platz mehr ist.

Drei Seiten der Medaille

Wissen
Jnana
Handeln
Karma
Akzeptanz
Bhakti
Ich versuche, Vorstellungen zu entwickeln, die so transparent sind, dass die Wirklichkeit hin­durch erkennbar wird. Ich versuche Gutes, also Passendes zu tun, das meiner Einbindung ins Ganze entspricht. Ich nehme jede Erfahrung ohne Widerstand an.

Auch die Praxis der Hingabe zielt darauf ab, die Identifikation des Ich mit dem Ego zu lösen. Nicht selten kommt es im Rahmen der Hingabe zu seelischen Erfahrungen, die als Gottesnähe oder gar -präsenz empfunden werden.

Hingabe und Konfessionalität

Konfessionalität als politisches Ordnungsprinzip der Gesellschaft hat im Grundsatz spaltende Wirkung. Sie festigt dualistische Denkmuster. Ihre hierarchische Struktur entmutigt oder bekämpft monistische Erfahrungen mystischer Einheit.

Nicht jeder, der sich einer Konfession verschreibt, hat aber politische Ziele. Im guten Glauben, dass eine bestimmte Konfession dazu den einzig richtigen Weg vorgibt, sind Millionen in Klöster eingetreten, um dort eine Verbindung zum Absoluten zu suchen. Oder aber sie geben sich ihrem Glauben hin, indem sie ihn zur alles bestimmenden Macht ihres Alltags ernennen. Beide Formen sind bereits Akte der Hingabe und können damit auch den Weg zu mystischen Erfahrungen bahnen.

Ins Kloster zu gehen, ist ein Akt der Entsagung von den weltlichen Dingen, mit denen sich die normale Person unentwegt befasst. Ein Leben nach Regeln, die keineswegs zu hinterfragen sind, ist ein Verzicht auf eigenes Meinen. Indem der Vorsatz des blinden Glaubens den persönlichen Verstand entmündigt, kann er Entwicklungen Vorschub leisten, die schließlich in die mystische Erfahrung überleiten. Der logische Widersinn, der konfessionelle Glaubensformen durchsetzt, ermutigt dazu, vom Verstand keine Zustimmung mehr zu erwarten, sondern sich den Routinen der Glaubenspraxis hinzugeben.

1 Korinther 1, 21:*
... gefiel es Gott, durch die Torheit der Heilsbotschaft die zu retten, die glauben...

Konfessionalität ohne politische Absicht kann als Weg des Bhakti-Yogas beschritten werden, wenn es zuletzt gelingt, die dualistische Setzung, die sie eigentlich vorschreibt, zu überschreiten. Meister Eckart war das gelungen.

Die praktische Umsetzung der Hingabe im Alltagsleben besteht darin, alle Erfahrungen, die das Leben anbietet, ohne Widerstand zu akzeptieren. Im christlichen Kulturkreis entspricht das dem Dein Wille geschehe... des Vaterunsers.

5.2.5. Scheiternlassen des Verstandes

Eigentlich ist die mystische Erfahrung ein Akt des Verstehens. Etwas wird verstanden, indem man den Standpunkt der Betrachtung von hier nach da verschiebt. Das ist das Grundprinzip des Verstehens an sich.

Wenn die mystische Erkenntnis jedoch ein Akt des Verstehens ist, wie kann es dann sein, dass ihr der Verstand im Wege stehen kann; so wie es immer wieder von spirituellen Traditionen betont wird? Um das zu verstehen, muss man den Verstand genauer betrachten. Dabei macht es Sinn, zwei Varianten des Verstehens aufzuzeigen:

  1. dualistisches Verstehen
  2. monistisches bzw. mystisches Verstehen

Der Verstand verschiebt den Standpunkt der Betrachtung. Dadurch geht er auf Abstand zum Betrachteten und befreit den Verstehenden aus dem Zugriff des Verstandenen.

Der dualistische Verstand rückt von der Welt ab und betrachtet deren duale Gegensätze:

Indem er die Gegensätzlichkeit der Welt erkennt, verfestigt er zweierlei Vorstellungen.

  1. Er glaubt an den substanziellen Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich.
  2. Er sieht die übrigen Gegensätze als unabhängig voneinander existierende Entitäten, so als sei die Welt aus sich Widersprechendem zusammengesetzt und nicht in sich Ergänzendes aufgefächert.

Indem der dualistische Verstand die Gegensätze erkennt ohne sie als zusammenhängende, sich wechselseitig bedingende und aufeinander einwirkende Polaritäten zu sehen, legt er sich auf die Vorstellung fest, als Person separat in der Welt zu existieren und dazu beauftragt zu sein, diese Existenz mit allen Mitteln gegen jede Infragestellung durch das Nicht-Ich zu verteidigen. Indem der dualistische Verstand die Wirklichkeit in Gegensatzpaare aufteilt, von denen jeweils ein Pol gilt, aber nicht beide zugleich, er­schafft er sich eine Landkarte der Wirklichkeit, die ihm grobes Manövrieren ermöglicht.

Da das grobe Navigationssystem nur einen Fahrstil ermöglicht, der allenthalben Bordsteinkanten übersieht und an Bäumen vorbeischrammt, hat das dualistische Weltbild eine Menge Leid im Gefolge. Es ist das Leid, von dem Buddha sagt, dass man es beseitigen kann.

Der monistische oder mystische Verstand rückt nicht von der Welt ab und in die Person hinein, sondern aus der Person hinaus. Ihm wird es möglich, nicht nur die Gegensätzlichkeit der Pole zu erkennen, sondern auch ihren gemeinsamen Nenner. Für den monistischen Verstand ist Ich Ich, aber auch Du, was dem dualistischen als Unsinn erscheint.

Wenn in der Überschrift von einem Scheiternlassen des Verstandes die Rede ist, ist damit das dualistische Verstehen gemeint. Deshalb ist der Verstand an sich auch kein Fallstrick der Erleuchtung und es gibt keinen Grund ihn zwecks religiöser Erfüllung abzuschalten. Nützlich ist es allerdings einzusehen, dass der dualistische Verstand an den wesentlichen Fragen der Selbstfindung scheitert.

Der Zen-Buddhismus bedient sich zur Demonstration der Unzulänglichkeit des dualistischen Verstandes sogenannter Kōans. Dabei handelt es sich um paradoxe Fragen, die mit der üblichen Logik des Entweder-oders nicht zu beantworten sind. Indem der Übende seinen Verstand beim Versuch, die Nuss zu knacken, zermürbt, soll der Verstand aus dem dualistischen Modus des Erkennens in den mystischen freigesetzt werden. Ein bekanntes Beispiel ist die Frage: Wie hört sich das Klatschen einer Hand an?

Wer die Wirklichkeit zu verstehen versucht, ist auf künstlich konstruierte Fragen, an denen der dualistische Verstand an seine Grenzen stößt, nicht angewiesen. Es finden sich genügend ganz reale:

Das sind ganz konkrete Fragen der Kosmologie, die der Himmel uns als natürliche Kōans zur Verfügung stellt.

5.3. Alternative Sichtweisen

Das normale, also das egozentrische Ich sagt: Ich esse den Apfel. Es geht davon aus, dass es als die Person, die den Apfel isst, die zentrale Instanz in seinem Leben ist, die dieses Leben koordiniert, steuert und in eine Mitte zentriert. Diese Sichtweise hat so viel für sich, dass man sich kaum je klarmacht, dass es eine Alternative dazu gibt, deren Stichhaltigkeit ebenso wenig zu widerlegen ist.

Ansichtssache
Um von Herrensohr nach Dudweiler zu gelangen, kann man Richtung Osten gehen. Geht man nach Westen, kommt man ebenfalls an. Ähnlich ist es mit dem Apfelessen. Jede Richtung führt zur Wahr­heit. Man kann sagen: Der Apfel ist dafür da, damit ich etwas zu essen habe. Dann ist der Apfel ein Objekt, das mir als dem Höheren dient. Oder man sagt: Ich bin dazu da, damit der Apfel gepflückt, abgenagt und das Gehäuse samt Samen in die Gegend geworfen wird. Dann bin ich eine Funktion im Dienst des Apfelbaums. Ob der Himmel oder die Evolution einer Variante mehr Bedeutung beimisst als der anderen, ist schwer zu sagen. Früchte sind für Früchteesser da und Früchteesser für Früchte.

Die alternative Sichtweise verhält sich zur üblichen wie ein Spiegelbild. Ihr gemäß entscheide nicht ich, den Apfel zu essen, sondern ich bin das Werkzeug einer Wirklichkeit, die sich in Äpfeln einen Ausdruck verschafft, zu dessen Wesen das Verzehrtwerden gehört. Damit das Wesen der Frucht in Erfüllung geht, bedarf es entsprechender Apfelesser, die dann meinen, sie selbst hätten sich in freiem Entschluss zum Apfelessen entschieden. In Wirklichkeit wurden ihre Bedürf­nisse, Kauwerkzeuge, Zungen und Gelüste jedoch von der Evolution so angeordnet, dass sie bei passender Gelegenheit vom Impuls gesteuert werden, einen Apfel zu essen.

Steuernde Instanzen
Zu unserer Person gehören unser Verstand, unser Urteil und unsere Wahl aus bewussten Urteilen heraus. Aber nur wenig, was unser Leben ausmacht, wird durch bewusste Wahl gesteuert. Die Psychologie spricht vom Unbewussten, das einen großen Einfluss auf unser Verhalten hat. Dabei ist klar, dass unbewusste Motivationen nicht nur Resultat von Erfahrungen sind, die das Individuum aus persönlichen Erlebnissen herausfiltert und in automatisierte Verhaltensschablonen abspeichert. Motiviert wird der Einzelne vor allem durch die Welt, der er jeweils begegnet. Als Maria Manuel über den Weg lief, wurde dessen Leben in neue Bahnen gelenkt. War es aber seine Entscheidung, den Ablauf zu ändern oder die jener Kräfte im Universum, die ihn und Maria zu dem gemacht haben, was sie sind? Von wo ging die Wirkung aus, die über sein Leben entschied?
Die Person ist das Erschaffene. Das absolute Selbst der Person ist die Kraft, die sie erschaffen hat. Auf diese Kraft hat die Person nur wenig Einfluss.

Keine Person hat sich je selbst erschaffen. Jede ist das Werk von Kräften, die ihr auch als Nicht-Ich polar gegenüberstehen. Diese Kräfte haben die Person so konstruiert, dass sie meist tut, was die Bedingungen des Nicht-Ich erfüllt. Ohne sich einzugestehen, dass man im Leben nicht nur Entscheidungen trifft, sondern auch dazu bestimmt ist, sie zu treffen, kann man sich nicht aus der überwertigen Bindung ans relative Selbst befreien.

Die Welt ist der Teil von mir, über den ich nicht frei bestimmen kann. Ohne dass ich verstehe, dass sie mich dazu bringt, sie haben zu wollen, kann ich nicht wissen, was ich wirklich bin.

Besitzverhältnisse

Es ist ein Segen, dass man vielerorts verstanden hat, dass der Einzelne keinem anderen gehören kann. Sklaverei und Leibeigenschaft haben keine Lobby mehr, die sie unverblümt als legitime Bausteine gesellschaftlicher Strukturen preisen. Nur hinter der Maske autoritärer Staatlichkeit, die sich als Ordnungsprinzip für unverzichtbar erklärt, hat sich der Herrschaftsgeist bewahrt.

Der moderne Mensch glaubt nun, er gehöre keinem Herrn mehr, sondern sich selbst. Dabei begeht er einen Irrtum, der ihm in der Folge Probleme macht. Er glaubt, beim Selbst, dem er gehört, handele es sich um das relative Selbst. Er glaubt, die Person, als die er auf der Bühne des Lebens Rollen spielt, gehö­re unmittelbar ihm. Dabei betrachtet er sich als autonome Instanz, die dem Rest der Welt mit dem Anspruch begegnet, über sich selbst zu bestimmen.

Tatsächlich gehört die Person aber der Welt und erst durch die Welt hindurch sich selbst. Beim Selbst, dem der Mensch tatsächlich gehört, handelt es sich nicht um das relative, sondern um das absolute Selbst.

Deshalb gilt zweierlei:

  1. Im Bezug zu anderen Personen ist es folgerichtig, sich gegen Besitz­ansprüche von außen zu verwahren.

  2. Im Bezug zur Wirklichkeit als Ganzes verstrickt sich die Person in sinn­lose Konflikte, wenn sie beim Versuch, über sich selbst zu verfügen, den Bogen überspannt. Gegenüber der Wirklichkeit ist einzugestehen, dass die Person ihr das Recht, über sie zu verfügen, nicht streitig machen kann.

Auf der sozialen Ebene ist die Person Besitzerin ihrer selbst. Auf der existen­ziellen Ebene gehört sich die Person nur, wenn sie sich der Welt nicht zu entziehen versucht. Aufgaben, die sie in der Welt zu lösen hat, werden ihr von der Welt diktiert.

5.3.1. Freier Wille und Bestimmung
Gewiss: Bewusstheit ist ein skurriler Neben­effekt physikalischer Prozesse, der irgendwo in den Weiten des Universums zu bestaunen ist wie der Mann mit den vier Ohren auf dem Jahrmarkt bei Haiderabad. Zugleich ist sie aber fundamental. Sie verwirklicht das Wesen des Absoluten: die Freiheit.

Kern der Erleuchtung ist die Preisgabe der persönlichen Identifi­kation zu Gunsten der überpersönlichen Identität. Was wird dann aber aus der Freiheit? Kann das Individuum freie Entscheidungen treffen? Oder ist es das Werkzeug einer überpersönlichen Kraft, die über es bestimmt?

Eine sinnvolle Antwort auf diese Frage scheitert am Entweder-oder. Zu meinen, nur das eine oder das andere könne wahr sein, beruht auf dem dualistischen Vorurteil des egozentrischen Denkens. Das egozentrische Ich denkt:

Das Absolute ist das Abgelöste. Das Abge­löste ist frei. Freiheit verlangt nie, dass man Freiheit für sie opfert. Sie wünscht, dass man sie ihr zu Ehren begehrt. Gott ist allfrei. Man kann ihm nur dienen, indem man Unfrei­heit abwirft. Man dient, indem man sich befreit, um ihm zu entsprechen. Gott erteilt keine Befehle. Er gibt uns die Freiheit, nach ihm zu suchen und die Frei­heit, dabei in die Irre zu gehen.

Tatsächlich ist Gott aber das, was sein Wesen erfüllt, indem es frei ist. Das absolute Selbst steht daher als Prinzip des Sowohl-als-auch über den bloßen Gegensätzen. So wie das Elektron zugleich Welle und Teil ist, ist das Ich zugleich frei und bestimmt. Indem es als Bewusstheit das Licht des Absoluten zur Erscheinung bringt, ist es zur Freiheit bestimmt. Freier Wille ist Bewusstheit selbst. Je bewusster das Ich, desto freier ist es. Wird es seiner selbst nicht bewusst, wird es durch Automatismen gesteuert, die im Laufe der Evolution und der Biographie als Vorgaben angelegt wurden. Indem das Ich die Vorgaben erkennt, die seine Person ausmachen, befreit es sich zu sich selbst.

Kleiderordnung
Zum klösterlichen Leben gehört nicht nur die Abwendung von der Außenwelt, sondern auch das demonstrative Abstreifen aller Signale einer persönlichen Identität. Als sichtbaren Beweis tragen Mönche und Nonnen Kutten.

In der Regel werden Kutten als Zeichen der Unterwerfung unter den Willen einer göttlichen Allmacht betrachtet. Dieser Ansatz entspringt einem dualistischen Gottesbild, und damit einem Gottesbild, das der egozentrischen Deutung der Wirklichkeit verhaftet bleibt.

Aus der Sicht des Egos ist Gott eine Allmacht, die verlangt, dass sich ein jeder ihren Befehlen beugt. Macht ist die Möglichkeit über etwas anderes zu bestimmen. Da die dualistische Sicht davon ausgeht, dass zwischen Schöpfer und Geschöpf ein kategorischer Graben liegt, der den Menschen zu dem anderen macht, über das Gott dann bestimmen will, stellt ihr Gottesbild die Allmacht als primäres Attribut des Göttlichen in den Vordergrund.

Aus mystischer Sicht steht die Freiheit über der Macht, denn um Macht zu haben, bedarf es der Freiheit, sie zu ergreifen. Freiheit ist etwas anderes als Macht. Während Macht über anderes bestimmt, bestimmt Freiheit sich selbst. Gott kann allmächtig sein, wenn er sich dazu herablässt. Aber tut er das? Oder verschenkt er sein höheres Wesen - Freiheit - an die, die bereit sind, sie selbst zu sein?

Aus mystischer Sicht macht es keinen Sinn, sich Gott zu unterwerfen, weil ihn die Unterwerfung in der Vorstellung des Unterworfenen von der Freiheit zur Macht degradiert. Statt Gott in seiner ganzen Größe zu erkennen, vergrößert sich der Unterworfene selbst, indem er dem Akt seiner Unterwerfung eine Bedeutung für Gott beimisst. Aber nur der, der seiner Person keine Bedeutung mehr gibt, anerkennt, was sie hervorbringt. Kutten sind daher nicht schlecht. Besser aber man nutzt sie nicht, um sich irgendwem zu unterwerfen, sondern um sich aus der Enge der bloßen Person zu befreien.

Die Antwort auf die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat oder ob er als bloßes Objekt von Kräften gesteuert wird, die die einen als Gott bezeichnen, die anderen als Summe physikalischer Gesetze, hängt von der Perspektive ab, von der aus sie gege­ben wird. Als bloße Person müsste der Mensch ehrlicherweise sagen, dass er keinen freien Willen hat und dass alles, was er entscheidet, Resultat von Reiz-Reaktions-Automatismen ist, deren Ursprung sich im Geheimnis göttlicher Willkür oder den Zufällen der Quantenmechanik verliert. Als er selbst hat der Mensch aber das Recht, einen freien Willen für sich in Anspruch zu nehmen, da sein wahres Selbst das ist, was ihn verwirklicht und ihm von seiner Freiheit das Stück verliehen hat, das ihm zukommt.

5.3.2. Nahtoderfahrung

Berichte über sogenannte Nahtoderfahrungen häufen sich. Ursache sind Fortschritte der Notfallmedizin. Durch deren Einsatz wird es möglich, Menschen von der Schwelle des Todes zurückzuholen. Bei der Nahtoderfahrung wird die Perspektive nicht durch bewusste Einsicht verändert. Sie geschieht dem Betroffenen. Trotzdem kann auch sie als alternative Sichtweise auf die Wirklichkeit bezeichnet werden.

Nahtoderfahrungen werden typischerweise an Unfallorten, in Operationssälen oder auf Intensivstationen gemacht, also überall dort, wo der Tod fast schon eingetreten ist, wo es durch Maßnahmen der Reanimation aber gelingt, die Unumkehrbarkeit abzuwen­den, sodass es den Geretteten möglich wird, Erfahrungen zu beschreiben, die sie an der kritischen Schwelle machten.

Typischerweise wird dabei über dreierlei berichtet:

  1. Eine Verschiebung der Perspektive des Erlebens auf einen Ort außerhalb des Körpers
  2. Die Wahrnehmung eines hellen Lichts, dessen Qualität als transzendent empfun­den wird und das gegebenenfalls durch einen Tunnel erreicht werden kann
  3. Eine Begegnung mit jenseitige Personen

Statt im Körper zentriert zu sein, löst sich das Ich bei der Nahtoderfahrung vom Körper ab und betrachtet die Szenerie aus einer erhöhten Position. Von dort aus nimmt es den Ablauf der Ereignisse wahr. Es sieht zu, wie die Retter versuchen, den Körper wieder­zubeleben.

Im Gegensatz zur mystischen Erfahrung bleibt die Identifikation mit der eigenen Person bestehen. Der Erfahrende erlebt sich weiterhin als separates Subjekt, das aus einer topografisch verschobenen Position heraus beobachtet, was andere Personen machen. Das Licht und der Tunnel, der zum Licht führt, werden als gegenüberstehende Objekte erfahren. Genauso ist es mit den transzendenten Personen. Auch sie bleiben für den Erfahrenden Objekte, die er als etwas anderes als sich selbst betrachtet.

Wie mystische können auch Nahtoderfahrungen zu tiefgreifenden Persönlichkeits­veränderungen führen. Das ist zwei Ursachen zuzuschreiben:

Da sie nicht zur Aufhebung der Subjekt-Objekt-Grenze führt, ist die Nahtod­erfahrung nicht mystisch. Sie ist jedoch spirituell. Sie vermittelt die Erfahrung, als geistiges Wesen jenseits des physika­lischen Körpers existent zu sein.
  1. Die schiere Tatsache, dem Tod nah gewesen zu sein, führt dem Betroffenen die Endlichkeit des irdischen Daseins vor Augen. In der Folge ändert er die Prioritäten im Leben. Unwesentliches wird uninteressant. Die Frage nach dem Wesentlichen rückt in den Vordergrund.

  2. Die Erfahrung, die Welt auch abgelöst vom Körper erkennen zu können, wird als Beweis der persönlichen Unsterblichkeit gedeutet. Die Angst vor dem Tod geht verloren.

Beides zusammen führt dazu, dass der Bezug des Erfahrenden zur Wirklichkeit fortan religiös bzw. spirituell wird.

5.3.3. Ein- oder Mehrzahl

Worauf schauen Sie jetzt? Auf einen Monitor, ein Tablet, ein Smartphone, ein Buch? Wie auch immer. Was ist das, worauf Sie schauen? Ein Objekt. Richtig. Was aber, wenn man das Objekt in seine Einzelteile zerlegt? Dann spricht man von vielen Objekten: Elektroden, Platinen, Schräubchen, Kabeln, Steckern, Buchseiten. Und wenn man es in seine Atome aufspaltet? Dann hat man Myriaden von Objekten vor sich.

Welche Konsequenz ergibt sich aber aus der mystischen Sichtweise für die Zahl der Objekte? Besteht die materielle Komponente des Universums aus Myriaden von Objekten oder ist es stimmiger, sie als ein einziges Objekt aufzufassen, das dem einzigen Subjekt komplementär erscheint?

Wer die spirituelle Selbstverwirklichung zum Ziel hat, tut gut daran, die objektive Welt als ein einziges Objekt zu betrachten, als ein kosmisches Uhrwerk zu dem jede Person so gehört wie jedes Blatt zu seinem Baum. Die Einzigartigkeit des Selbst ist besser zu verstehen, wenn man darauf verzichtet, einzelne Objekte als eigenständig anzusehen.

Die Identität mit dem einen Subjekt ist leichter zu entdecken, wenn man die Vorstellung hinter sich lässt, der Körper samt seinen mentalen Funktionen sei ein eigenständiges Objekt, das neben ande­ren Objekten existiert. Tatsächlich ist die Person Baustein des einen Weltobjekts.

Die komplementäre Entsprechung zur Einheitlichkeit des Subjekts ist die Kom­plexität der manifestierten Wirklichkeit.

Seien Sie konsequent. Betrachten Sie es so:

6. Assoziierte Erfahrungsfelder

Veränderte Sichtweisen auf die Wirklichkeit können auch durch organische bzw. toxische Einflüsse auf das Bewusstsein vermittelt werden. Zu nennen sind:

Zwischen mystischen und spirituellen Erfahrungen einerseits sowie organisch bzw. toxisch verursachten andererseits gibt es Überlappungen.

6.1. Psychotrope Substanzen

Zu den psychotropen Substanzen, die alternative Sichtweisen auf die Wirklichkeit vermitteln, gehören vor allem Psychedelika (griechisch psyche [ψυχη] = Seele und delos [δηλος] = offenbar) bzw. Halluzinogene. Gelegentlich werden sie als Entheogene bezeichnet, also als Substanzen, die Gotteserfahrungen bewirken. Solche Substanzen können zu beeindruckenden Veränderungen des Welt- und Selbsterlebens führen. Vor allem in schamanistisch geprägten Kulturen (z.B. der Native American Church) wurden und werden sie daher zur Induktion ritueller Trancezustände eingesetzt.

Es ist davon auszugehen, dass psychedelische Bewusstseinszustände gegebenenfalls Persönlichkeitsentwicklungen auslösen können, die jenen entsprechen, die von autono­men mystischen Erfahrungen bekannt sind. Zu glauben, man müsse nur entsprechende Substanzen konsumieren, um spirituelle Befreiung zu erzielen, ist jedoch naiv. Die Grenze zwischen bereichernder Erfahrung und Missbrauch zu psychologischen Zwecken profaner Art ist fließend. Außerdem ist der Konsum mit der Gefahr belastet, schwere psychiatrische Komplikationen auszulösen (z.B. Angstzustände, protrahierte Psychosen und Depersonalisationssyndrome). Daher überrascht es nicht, dass sich die buddhis­tische Tradition ausdrücklich gegen den Konsum psychotroper Substanzen ausspricht.

Initialzündung oder Missbrauch
Psychedelische Substanzen können zu zwei gegensätzlichen Zwecken angewendet werden:
  1. Suche nach der Wirklichkeit
  2. Flucht aus der Realität

Was das eine vom anderen unterscheidet, ist nicht die Substanzwirkung an sich, sondern das, was der Anwender aus der Erfahrung macht. Die Erfahrung kann eine Initialzündung sein, die zu einem autonomen Bemühen um eine spirituelle Reifung der Persönlichkeit führt. Oder sie bleibt ein vorübergehender Ausnahmezustand, der den Konsumenten für ein paar Stunden aus einer Realität entführt, die seinen Ansprüchen nicht genügt.

Ein einfaches Kriterium kann dazu dienen, das erste vom zweiten zu unterscheiden. Führt die Anwendung zu einer spirituellen Entwicklung, wird sie nicht oder nur sel­ten wiederholt... und schließlich aufgegeben; denn dem spirituell reifen Menschen gelingt es, mit der Wirklichkeit so übereinzustimmen, dass ihm psychedelisch induzierte Bewusstseinsveränderungen überflüssig erscheinen. Wird die Substanz im Gegensatz dazu immer wieder konsumiert, zeigt das an, dass sie keine spirituelle Entwicklung auslöst.
6.2. Psychomotorische Anfälle

In früheren Zeiten hat man die Epilepsie auch als Morbus sacer (= heilige Krankheit) bezeichnet. Offensichtlich ging man davon aus, dass die Betroffenen von transzen­denten Kräften ergriffen werden; seien diese nun göttlicher oder dämonischer Art. Als besondere Spielart der Epilepsie sind die psychomotorischen Anfälle zu nennen. Dabei kommt es nicht zum Bewusstseinsverlust, wie bei der Grand-Mal-Epilepsie, sondern zu veränderten Bewusstseinszuständen. Zum typischen Spektrum der epileptischen Erlebnisse gehören (Poeck, Klaus: Neurologie, Springer):

Derartige Bewusstseinsveränderungen können von Betroffenen als spirituelle Erfah­rungen gedeutet werden und in der Konsequenz zu einer betonten Hinwendung zu religiösen Themen führen. Ein Beispiel mögen die Trancezustände Ramakrishnas sein, deren spezifischer Ablauf an eine epileptische Genese denken lässt.

Alternative Erfahrungen im Überblick

mystisch Nahtod psyche­delisch epilep­tisch
monis­tisch
Über­schreitung der Subjekt-Objekt-Grenze
dualis­tisch
Einhaltung der Subjekt-Objekt-Grenze
Wahr­nehmung aus existen­ziell verscho­bener Perspek­tive Wahr­nehmung aus topo­graphisch verscho­bener Position Veränderte Wahrnehmung sinnlich erfahrbarer Eigen­schaften von Objekten, einschließ­lich des Körpers
Keine Wahr­nehmung zusätzlicher Objekte Wahr­nehmung zusätz­licher Objekte

Die zusätzlichen Objekte, die gegebenenfalls wahrgenommen werden, werden ja nach Weltbild des Betrachters entweder als Halluzinationen, also Trugwahrnehmungen gedeutet, oder als Visionen transzendenter Personen oder Strukturen.

7. Hindernisse

Wohlgemerkt: Der Begriff Ego bezeichnet nichts Zweites, das neben dem Ich existiert. Der Begriff personifiziert einen Irrtum: Den Irrtum, dass dem Ich ein Du, ein Er und ein Es gegenüberstehen, von denen es abgetrennt existiert. Ego heißt daher egozentrisches Ich.

Das Leben als Teil einer Menschheit, der man körperlich ausgesetzt ist, liefert eine Menge Argumente dafür, den dualistischen Graben zwischen Ich und Nicht-Ich nicht allzu gründlich aufzugeben. Die mystische Erfahrung macht deutlich, dass der Graben nur auf der Ebene des dualistischen Erfahrungsfeldes existiert, vor dessen Ursprung aber nicht. Als absolutes Selbst sind Subjekt und Objekt eins. Das schafft eine Nähe, in der dem Ego mulmig wird. Grund genug, Erleuchtung nicht ernsthaft anzustreben. Grund genug, sich bloß vorzugaukeln, dass man es tut. Kurzum: Das größte Hindernis, das mystische Erfahrungen verhindert, ist genau das, was sie zu überschreiten versucht: die Egozentrizität.

Alternativer Sprachgebrauch
Auch wenn verschiedene buddhistische Strömun­gen eine Kosmologie entwarfen, in der transzen­dente Personen formuliert und zur Anrufung angeboten werden (z.B. Avalokiteshvara), hält sich die spirituelle Tradition, die auf Buddha persönlich zurückgeht, mit dem Begriff Gott ausdrücklich zurück. Stattdessen spricht sie vom Nirvana (Sanskrit nirvanam निर्वाणम् = erlöschen). Mit dem Erlöschen ist das Erlöschen persönlicher Begierden gemeint, also seelischer Tendenzen, die der Identifikation des Ich mit der Vorstellung einer separaten Existenz als Gegensatz zum Nicht-Ich entspringen. Während der Westen die mystische Erfahrung als Aufgehen in Gott interpretiert, sprach Buddha vom Erlöschen jener Tendenzen, die den Einzelnen vom Absoluten trennen.

Zu den Hindernissen ist auch der Zeitgeist zu rechnen. Wir leben in einer Kultur, die die religiöse Dimension der Existenz wenig beachtet und stattdessen davon ausgeht, dass aller Wert des Menschenlebens im Diesseits auszuschöpfen ist... oder eben nie. Da es unserer Kulturform gelungen ist, Zahl und Ausmaß weltlicher Verlockungen beträchtlich zu erhöhen sowie Medien einzurichten, die deren Reize jedem vor Augen führen, geht von ihr eine hypnotische Suggestionskraft aus, der man sich nur schwer entziehen kann.

Die Hindernisse sind jedoch verzwickter. Selbst wenn man ernsthaft zur Sache geht und sich womöglich mit aller Kraft dem erstrebten Ziel verschreibt, ist der Erfolg keineswegs sicher. Nicht umsonst meinen buddhistische Autoren, dass man gegebenenfalls mehrere Leben braucht, um das sogenannte Nirvana zu erreichen; eine Vorstellung, die nur Sinn macht, wenn man von der Wiedergeburt persönlicher Entitäten ausgeht, deren Existenz der Buddhismus im gleichen Zuge verneint.

Zu den speziellen Hindernissen, auf die der Sucher trifft, zählen, neben der Fehleinschätzung der eigenen Bedeutung, Ehrgeiz und Stolz; aber auch ein Gerechtigkeitsgefühl, das eher Ansprüche erhebt, als Ansprüche zu erfüllen.

7.1. Ehrgeiz

Erleuchtung ist ein Ziel, das aus der Person heraus formuliert wird. Die Person geht davon aus, dass es jenseits ihrer Alltagserfahrung eine Wirklichkeit zu entdecken gibt, deren Entdeckung größte Vorteile verheißt: Frieden, Stille, Befreiung vom Leid oder gar Ananda (Sanskrit आनन्द), also die schiere Glückseligkeit, von der der Hinduismus spricht.

Mobilisiert die Person des Suchers nun all ihre Kräfte um das Ziel zu erreichen, mobilisiert sie zugleich die Person selbst. Die Person macht sich für das Ziel stark, sich selbst zu überwinden. Das Paradoxe daran ist offensichtlich. Je mehr ihrer Kraft die Person mobilisiert, desto schwerer fällt es ihr, von sich abzulassen. Je höher das Ziel ist, für dessen Erreichen sich die Person einsetzt, desto mehr Bedeutung schreibt sie sich zu. Je mehr Bedeutung ihr als treibende Kraft auf dem Weg zur Erleuchtung zukommt, desto unentbehrlicher wird sie.

Etwas bewirken zu wollen, ist ein Vorsatz des Egos. Etwas geschehen zu lassen, ist ein Ausdruck des Selbst. Sobald das Ego Wirkungen sieht, wird es glauben, wichtiger zu sein, als ein Selbst, das bloß zusieht.

Vielleicht ist das ein Grund dafür, warum viele Menschen spontane mystische Erfahrungen machen, es ihnen aber partout nicht gelingen will, sie zu wiederholen oder gar zu vertiefen. Der Vorsatz kann seiner Erfüllung im Wege stehen. Je stärker der Vorsatz, desto mehr versetzt der Sucher seinen Fokus vor sich statt in sich.

Zwillingsbruder

Ein Zwillingsbruder des Ehrgeizes ist das Geltungsbedürfnis. Es entspringt unmittelbar der egozentrischen Sichtweise. Da sich das Ich durch sein egozentrisches Selbstbild in den Horizont seiner Person verkleinert, versucht es prompt als groß zu gelten. Man gilt vor allem etwas in den Augen anderer. Zwei Varianten sind üblich:

Nur wenige sagen: Was andere von mir denken, ist unwichtig, weil ich es bin. Wer das erkennt, ist auf dem rechten Weg.

7.2. Stolz

Viele, die nach Erleuchtung streben, nehmen erhebliche Mühen in Kauf. Erleuchtung ist Ihnen ein Ziel, das den Einsatz lohnt. Wer sich um etwas bemüht und dann Fortschritte zu verzeichnen hat, schreibt die Fortschritte seinem Einsatz zu. In der Folge droht er stolz auf das Erreichte zu sein. Stolz - wir ahnen es schon - ist eine der seelischen Regungen die uns fast mehr als jede andere in die Identifikation mit jener Person treibt, der die Verdienste zu verdanken sind. So kommt es, dass jeder Fortschritt auf dem Weg zum spirituellen Ziel, Hürden aufbauen kann, die ohne Fortschritt gar nicht da gewesen wären. Der Erfolg steigt dem zu Kopfe, der eigentlich das Herz entdecken will.

Schlimmer noch: Fortschritte schüren nicht nur den Stolz, sie stacheln auch den Ehrgeiz an. Wer regelmäßig meditiert, ohne sichtlich vom Fleck zu kommen, glaubt nach einiger Zeit, dass das Ziel unerreichbar ist oder eine Illusion, die Leute in die Welt gesetzt haben, um sich wichtig zu machen. Kommt plötzlich ein Fortschritt zustande, ist der Hunger nach mehr schnell entfacht. Statt im Hier-und-Jetzt zu bleiben, gehen die Pferde durch als hätten sie nach langer Dürre frisches Gras gerochen. Prompt wird die Meditationsuhr von 20 auf 40 Minuten gestellt. Bald schmerzen Glieder und Rücken ohne dass das Gras in Sichtweite kommt.

7.3. Fehleinschätzung

Man erkennt nur, was man sieht. Was man nicht sieht, erkennt man nicht.

Weite Welten
Nehmen Sie in einer klaren Januarnacht einen Feldstecher und suchen Sie am Himmel nach dem roten Riesen Mirach. Etwa 3° bzw. 6° rechts davon finden Sie μ- und ν-Andromedae. Ein Grad weiter kommt die Andromeda-Galaxie ins Blickfeld. Jetzt sehen Sie 100 Milliarden Sterne auf einmal. Gesetzt, irgendwelche Wesen suchen dort nach der Erleuchtung oder zumindest mit dem Feld­stecher nach unserer Galaxie, wie viel Bedeutung hätten diese Kreaturen für uns? Eigentlich gar keine. So viel Bedeutung kommt auch jedem von uns zu.

Da der Mensch den größten Teil des Universums nicht sieht, ist es ihm quasi unmöglich zu erkennen, wie wenig Bedeutung ihm zukommt. Daher schreibt sich die Person und allem, was sie unmittelbar betrifft, eine überwer­tige Bedeutung zu. Wer die Wirklichkeit ohne dieses Vorurteil erkennen will, muss die Fehleinschätzung überwinden. Dass ist schwer. Denn sobald das egozentrische Ich zu hören bekommt, dass es in Wirklichkeit quasi bedeutungslos ist, widerspricht es dem mit aller Kraft. Das ist sein Auftrag. Es soll ja als Anwalt der Person, deren Interessen vertreten und es kann das nur, wenn es sie wichtig nimmt.

Seine persönliche Bedeutungslosigkeit kann nur ohne Abstrich akzeptieren, wer zugleich in der Gewissheit lebt, im anderen Pol seines Wesens unendlich zu sein. Jeder andere mag zwar tapfer in die Kröte beißen, bei der nächsten Gelegenheit wird er aber versuchen, sie auszuspucken. Alles Manifestierte geht gegen Null, weil es als Unmanifestiertes gegen unendlich geht.

7.4. Gerechtigkeitsgefühl

Das Gerechtigkeitsgefühl als Hindernis zu bezeichnen, ist problematisch. Kaum denkbar, dass Menschen ohne Gerechtigkeitsgefühl in der Lage sind, das zu verkörpern, was einer konsensfähigen Definition des Menschseins gerecht werden könnte. Wenn man so kühn ist, es trotzdem an dieser Stelle als ein Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung aufzufassen, muss das gut begründet sein.

Zwei Gesichter der Gerechtigkeit

Die Ungerechtigkeiten, die Menschen vor allem von Seiten anderer zu erdulden haben, sind so eklatant und abstoßend, dass die Preisgabe eines dualistischen Welt- und Gottesbildes schwerfällt. Wer wünscht sich nicht, dass es einen himmlischen Richter gibt, der Gut und Böse kategorisch unterscheidet und dereinst dementsprechend Lohn und Strafen vergibt? Gibt man das Konzept einer separaten Existenz des Einzelnen jedoch auf, kann man nur noch schwer erklären, über wem dieser Gott im Jenseits zu Gericht sitzt. Gegen das mystische Gottesverständnis könnte daher eingewendet werden, es stelle einen Freibrief für sämtliche Schandtaten aus, zu denen der Mensch fähig ist. Denn ist es nicht so: Wenn das absolute Selbst im Täter ebenso präsent wie im Opfer ist, dann müsste sich ein richtender Gott im Jenseits selbst dafür strafen, was er im Diesseits geschehen ließ.

Dazu Folgendes: Gerechtigkeit kann etwas sein, was man übt, oder etwas, was man erwiesen bekommt. Der Wunsch nach einem gerechten Ausgleich für erlittenes Unrecht auf Erden zielt auf eine Gerechtigkeit ab, die von außen zugeteilt wird. Der Wunsch ist legitim. Aber kann er viel bewirken? Gewiss hat die Angst vor der Strafe durch einen entrückten Gott schon viele von Missetaten abgehalten, die sie sonst begangen hätten. Doch Hand aufs Herz: Sind andererseits im Namen solcher Götter nicht schon so viele Verbrechen begangen worden, dass man kaum entscheiden kann, was überwiegt: die Zahl der verhinderten oder die Zahl der begangenen?

Das mystische Gottesbild appelliert nicht an eine Gerechtigkeit, die irgendwann und irgendwo erwiesen wird. Indem es vielmehr davon ausgeht, dass der Einzelne nicht nur ein mehr oder minder missratenes Werk Gottes ist, sondern dessen existenzielle Präsenz, gibt es allen Anlass, nicht nur Gerechtigkeit im Jenseits zu erhoffen, sondern sie hier und jetzt zu üben.

Sie sind nicht Gott, aber Sie bestehen aus ihm.

8. Psychologische Wirkungen

Die Wahrscheinlichkeit großer Sprünge wächst, wenn man sich klarmacht, wie unwahrscheinlich es ist, sie jemals zu machen. Besser als nach Sprüngen zu trachten, ist es, Schritte zu tun.

Die Frage, ob diese oder jene Person erleuchtet ist, macht wenig Sinn. Erleuchtung ist kein Alles oder Nichts. Jeder, der Bewusstsein hat, nimmt bereits an ihr teil. Man kann aber mehr Fenster öffnen. Der offene Geist geht nicht davon aus, in den Grenzen einer separaten Existenz eingeschlossen zu sein. Er steht nicht in Opposition zur Welt, sondern mit ihr in Verbindung. Der Geist formatiert sich gemäß seinem Selbstbild.

Versuchen Sie in der Meditation keine Ziele zu erreichen, sondern ohne Druck, in der Welt etwas bewirken zu müssen, eine gute Zeit mit sich zu verbringen. Manche Dinge geschehen, wenn man nichts bewirken will; obwohl man sie auch dann nicht bewirkt, indem man sie geschehen lässt.

Mystische Erfahrungen können im Leben eines Menschen sehr viel verändern. Darüber, wie solche Veränderungen zustande kommen, neigen Autoren spiritueller Texte zu zwei komplementären Aussagen.

Es gibt nur wenig Grund, daran zu zweifeln, dass sowohl der langwierige Prozess als auch das spontane Erleuchtungserlebnis zu grundlegenden Veränderung der Persönlichkeit führen können. Andererseits beschreiben viele Menschen Erfahrungen, die offensichtlich mystischer Natur gewesen sind, deren Wirkung auf das weitere Erleben mit der Zeit jedoch weitgehend oder vollständig verblasst. Ob mystische Erfahrungen grundsätzlich zur Transformation führen ist also fraglich. Aus zwei Gründen rückt die spirituelle Arbeit am Bewusstsein daher in den Vordergrund.

  1. Spontane Erfahrungen sind eben spontan. Eigentlich kann man nur abwarten, ob sie sich ereignen. Wer auf Transformation hofft, wird damit kaum zufrieden sein.

  2. Letztlich ist nicht das singuläre Ereignis das eigentliche Ziel der Spiritualität, sondern die nachhaltigen Wirkungen, die sie auf das weitere Erleben des Erfahrenen ausübt. Die Nachhaltigkeit solcher Wirkungen wird durch spirituelle Arbeit gefördert; also durch all das, was oben als Wege des Wissens, des Handelns und der Hingabe bezeichnet wurde.

Glaube und Gewissheit

Das Besondere am eigentlichen Erleuchtungserlebnis ist, dass es den, der es erfährt, von einer grundsätzlich anderen Struktur der Wirklichkeit überzeugt. Es führt zu einer Gewissheit, die durch den bloßen Glauben daran, dass sie erreichbar ist, niemals ganz ersetzt werden kann. Trotzdem hat der Glaube an die Möglichkeit einer religiösen Befreiung große Bedeutung. Er motiviert dazu, vorbereitende Schritte zu tun, die selbst dann, wenn niemals eine Erfahrung eintritt, die die unumkehrbare Gewissheit bewirkt, eine heilsame Wirkung auf die Persönlichkeit ausüben können, die der Wirkung der Gewissheit zumindest ähnelt.

Die Wirkungen der Erleuchtung hängen mit deren Kernprozess zusammen. Der Erleuch­tete versteht, dass er mehr ist als der private Gegensatz zu einer Welt, mit der er nicht mehr zu schaffen hat, als hineingeraten zu sein. Er versteht, dass er selbst das ist, dessen persönlicher Pol seine Person ist, dessen überpersönlicher Pol zugleich alles umfasst, was von der Person aus als Nicht-Ich erkennbar wird. Dieses Verstehen, also diese Verschiebung des Standpunkts, von wo aus er auf die Wirklichkeit reagiert, führt die spezifischen Veränderungen der Persönlichkeit herbei. Dazu gehören folgende:

Zwei Formen der Freiheit

  1. Die Freiheit etwas zu tun
  2. Die Freiheit vom Zwang, etwas zu tun

Die erste macht frei. Die zweite macht freier.


Was bewirkt Erleuchtung?

Freiheit

Was vermittelt sie nicht?

Übernatürliche Fähigkeiten


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.
** Der Koran, (Komet-Verlag, ISBN 3-933366-64-X), Übersetzung von Lazarus Goldschmidt aus dem Jahr 1916.