Wer glaubt, ohne zu wissen, dass er vermutet, geht schnell in die Irre. Konfessioneller Glaube fordert Gefolgschaft. Mystischer Glaube vertraut darauf, dass der Zweifel ihn führt. Lüge ver­langt, vom Zweifel entbunden zu sein. Selbst­betrug tut so, als ob er es wäre.

Wer ernsthaft sucht, darf nicht blind glauben. Wer blind glaubt, kann das Wahre nicht sehen.

Im Einzelnen kommt das Eine zum Ausdruck. Glaube, der die Freiheit des Einzelnen leugnet, stellt sich gegen das Eine. Glaube, der aus der Einheit zwei macht, tut es ebenso.

Es gibt einen Glauben, der verbindet, und viele Lehren, die gleichzeitig spalten. Der Glaube, der verbindet, fordert kein Bekenntnis, weil jede Forderung trennt.

Was Menschen voneinander trennt, sind niemals die Gene. Mal ist es der Glaube, dass Gene sie trennen, mal ist es der Glaube, dass der Glaube sie trennt. Glaube, der Gläubige von Ungläubigen trennt, spaltet Gesellschaften in rivalisierende Lager. Reiner Glaube glaubt an das, was alle verbindet: das Heilige, dem alles entspringt. Glaube, der dem etwas hinzufügt, verirrt sich. Er spaltet die Einheit des Glaubens in Varianten auf; und sondert sich dadurch vom Wahren ab.

Glaube


  1. Begriffsbestimmung
  2. Von der Vermutung zur Behauptung
    1. 2.1. Ein Sündenfall
    2. 2.2. Dienst oder Herrschaft
  3. Glaube und Bekenntnis
  4. Glaube und Erkenntnis
  5. Glaube und seelische Gesundheit
    1. 5.1. Einender Glaube
    2. 5.2. Spaltender Glaube
      1. 5.2.1. Wahn
        1. 5.2.1.1. Ich-Grenzenstörung
        2. 5.2.1.2. Spaltung und Projektion
      2. 5.2.2. Depression
      3. 5.2.3. Zwang
      4. 5.2.4. Persönlichkeitsstörung
        1. 5.2.4.1. Sadomasochistische Grundthematik
        2. 5.2.4.2. Objektivierung des Subjekts
      5. 5.2.5. Positive Wirkungen

1. Begriffsbestimmung

Der Begriff Glaube geht auf Germanisch ga-laubjan = für lieb halten, gutheißen zurück. Derselben sprachlichen Wurzel ent­springt das Verb glauben im Sinne von für wahr halten, vermu­ten. Glaube geht davon aus, dass man das Wahre gutheißen kann.

Eine weitere Bedeutungsfacette des Glaubens ist das Ver­trauen. Ich glaube Dir heißt Ich vertraue Dir. Das ist folge­richtig: Man vertraut auf das, was man für wahr hält. Wer jemandem glaubt, vertraut darauf, dass er die Wahrheit sagt.

Schon in der vorchristlichen Zeit wurden beide Motive auf das Verhältnis des Menschen zum Göttlichen angewandt. In der christlichen Epoche verschmolzen sie zu einer Einheit.

  1. Die Hinwendung zur Gottheit ging von der Vermutung aus, dass über (oder unter) der sinnlich erfahrbaren Realität eine höhere (oder tiefere) Ebene liegt, die Sinn und Wert der Menschenwelt bestimmt. Der Gläubige hielt die Existenz dieser Ebene für wahr, obwohl sie sich der Beweisbarkeit entzieht.

  2. Die Hinwendung zur Gottheit war von der Zustimmung zu deren Wirken und Position getragen. Der Gläubige hieß die Macht Gottes gut. Der guten Macht vertraute er sich an. Er wandte sich dem Göttlichen in der Erwartung zu, von dort Schutz, Beistand und Liebe zu erfahren.

Schaut man genauer hin, erkennt man das übergeordnete Motiv, dem der Glaube dient: Etwas zu glauben ist ein Werkzeug der Verbindung und der Zugehörigkeit. Betrachten wir dazu die fünf Begriffe, die im Sinnfeld des Glaubens aufgetaucht sind:

  1. Für lieb halten
    Liebe ist die Bestätigung der Verbundenheit. Der Liebende ist für den Geliebten da. Er würde ihn niemals verstoßen.

  2. Gutheißen
    Gut füreinander ist das, was zum jeweils anderen passt. Gut geht auf die indoeuropäische Wurzel ghedh- = fest zusammenfügen zurück.

  3. Vermuten
    Wo Wissen fehlt, stellt man Vermutungen an. Vermutungen werden so formuliert, dass sie wie Puzzlestücke in unvollständige Bilder der Wirklichkeit passen, um diese zu ergänzen. Vermutungen werden als Brücken ins Stückwerk des Gewussten eingefügt.

  4. Für wahr halten
    Wahr geht auf das althochdeutsche Wāra = Vertrag, Treue zurück. Verträge verbinden Vertragspartner. In der Treue zur vertraglichen Abmachung bleiben sie miteinander verbunden.

  5. Vertrauen
    Sich anzuvertrauen heißt sich an das zu binden, dem man vertraut. Durch die Trauung wird eine Verbindung geschaffen, die ein Leben lang halten soll.

Glaube eint. Was entzweit, ist abgewichen. Materie ist getrennt und unterworfen. Geist ist verbindende Ent­bundenheit. Glaube ist ein Mittel um sich vom Vielen zu lösen und sich mit dem Einen zu vereinen.

Das Wesen des Glaubens besteht darin, Verbindungen herzustellen oder bestehende zu entdecken und zu bewahren. Das gilt für zwischenmenschliche Beziehungen und Vermutungen über die Zusammenhänge alltäglicher Sachverhalte ebenso wie für das Themenfeld der Religion. Religiöser Glaube geht dabei über die Grenze der sinnlich erfassbaren Wirklichkeit hinaus. Religiöser Glaube befasst sich mit der Verbindung zum Absoluten. Was Verbundenheit bestätigt, ist religiöser Glaube in reiner Form. Was Verbundenheit verleugnet und Teile vom Ganzen ausschließt, ist verirrte Variante.

2. Von der Vermutung zur Behauptung

Wo Wissen endet, kann man etwas vermuten. So ergänzt man ein lückenhaftes Bild der Wirklichkeit, wenn Gewissheit fehlt.

Ich glaube, das gestreifte Hemd hängt auf der Leine. Ich weiß, dass ich ein gestreiftes Hemd habe. Ich weiß, dass es in der Waschküche eine Leine gibt. Ich weiß, dass ich das Hemd im Schrank nicht finden kann. Ich weiß, dass Hemden gewaschen werden und an Leinen trocknen. Ich weiß, dass jüngst Helles bei 60° gewaschen wurde. Zwecks Verbindung all dessen, was ich über die Wirklichkeit rund um gestreifte Hemden weiß, stelle ich eine Vermutung an. Ich glaube zu wissen, wo das Hemd zu finden ist. Sicher kann ich mir nicht sein.

Etwas zu glauben formuliert eine Wahrscheinlichkeit. Zu glauben heißt, einer bestimm­ten Vermutung eine größere Wahrscheinlichkeit zuzuweisen, dass sie stimmt, als ande­ren Möglichkeiten. Ich glaube, das Hemd hängt eher auf der Leine als am Schornstein. Ein Gang in die Waschküche schafft Klarheit oder führt zu neuen Vermutungen.

Wenn man Wissen und Vermutung auseinanderhält, ist Glaube ein nützliches Werkzeug der Orientierung; auch der Orientierung in religiösen Fragen. Glaube stellt Verbindungs­wege her. Man kann sie gehen, um zu erkunden, wohin oder wie weit sie führen. Auch religiöser Glaube ist aber nur ein Werkzeug. Werkzeuge sind bei Bedarf genau­so aus der Hand zu legen, wie sie bei Bedarf in die Hand zu nehmen sind.

Glaube ist ein Platzhalter. Er dient so­lange als Ersatz für wahre Erkennt­nis, bis die Erkenntnis ihn aus ihren Diensten entlässt.

Da reiner Glaube verbindet, formuliert reiner Glaube keine Behauptung, die Andersdenkende ausschließt.

Verirrten Glauben erkennt man daran, dass er Un­gläubigen mit Strafe droht. Hölle, Vernichtung oder Strafgedanke sind reinem Glauben wesensfremd. Es mag Liebe geben, die dem Geliebten zuliebe die Hölle erduldet, aber keine, die damit straft.

Der sprachgeschichtliche Ursprung des Begriffs weist darauf hin, dass das eigentliche Motiv des Glaubens Verbundenheit ist. Religiöser Glaube dient dazu, die Verbindung zum Heili­gen, also zur Einheit aller Teile zu finden. Glaube ist jedoch ein intellektuelles Konstrukt. Er besteht aus Aussagen über die Wirklichkeit, die mehr oder weniger zutreffen. Glaube ist Vermutung. Er selbst ist nicht das Heilige mit dem sich der Gläubige eigentlich verbinden will.

Viele Glaubensvertreter lassen das außer Acht. Für sie ist der Glaube bereits heilig. Sie erklären ihn zum Selbstzweck. Sie vergessen, dass Glaube Vermutung ist und behaupten ihre Vermutung sei Gewissheit. Unfähig, Konstrukt und Wirklichkeit vonein­ander zu unterscheiden, weichen sie vom reinen Glauben ab und geben vor, nicht das Absolute, sondern ihre Vermutungen darüber seien verbindlich. Reiner Glaube ver­mutet und weiß, dass er dient. Reiner Glaube verzichtet auf Mythologie. Verirrter Glaube spaltet und ruft nach der Herrschaft. Er begründet den Anspruch durch Mythologie.

2.1. Ein Sündenfall

Beim Übergang von der heidnischen zur politischen Religion beging der Glaube einen folgenschweren Sündenfall. Er verleugnete kategorisch die Tatsache, dass Glaube Vermutung und keine Gewissheit ist. Er tat es durch die Behauptung, unmittelbar vom Absoluten verordnet zu sein. Damit verstieß er zugleich gegen das grundsätzliche Wesen des Glaubens. Durch die Behauptung machte er sich zum Haupt und alles andere zu seinen Füßen. Er spaltete die Einheit in hierarchische Gegensätze auf.

Vom Hochmut, Absurdes zu glauben

Etwas zu glauben, weil es absurd ist, ist ein Aufstand gegen das Göttliche. Es setzt das Ich und seinen Eigensinn über jene Wirklichkeit, die sich tat­sächlich offenbart.

Credo quia absurdum est = Ich glaube, weil es absurd ist. Dabei handelt es sich um ein geflügeltes Wort, das vermutlich im 17. Jahrhundert ent­stand. Wahrscheinlich geht es auf Tertullians Certum est, quia impossi­bile = Es ist sicher, weil es unmöglich ist zurück. Es dient den Vertretern der christlichen Dogma­tik zur Leugnung von Erkenntnissen, die ihre Behauptungen in Frage stellen.

Der Abfall des Geistes aus der Glaubensdemut in den Hochmut war ein Werk des Egos. Das Ego machte aus der Vermutung, die sich von unten nach oben wandte, also vom Menschen zu Gott, ein Dogma, das von oben herab Macht für sich in Anspruch nahm. Auf der Suche nach seinem Vorteil machte es seinen Glaubensinhalt verbindlich. Das politisch religiöse Ego verlangt, dass jeder genau das gutheißt, was es für sich selbst für gut hält. In der politischen Religion hat sich das Eigeninteresse des Egos zu Gott erklärt.

Gewissensentscheid
Das Gewissen ist die höchste Instanz des Geistes. Im Wort Gewissen trifft man auf die Silbe Ge-. Ge- zeigt eine Versammlung an. Das Gewissen ist eine Versammlung des Wissens. Die Versammlung des Wissens entscheidet, sobald alles Wissen auf­zubieten ist, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Unwichtige Entschei­dungen trifft man aus dem Bauch heraus, wichtige vor dem Hintergrund dessen, was man wirklich weiß. Für eine gewissenhafte Entscheidung ist auch das Wissen über den Unterschied von Wissen und Glauben heranzuziehen.

Die Sprache verweist darauf, dass das Wissen über dem Glauben steht. Das zeigt der Begriff Gewissen. Ein Geglauben als höchste Instanz kennt die Sprache nicht. Dogmenglaube leugnet das; weil er das Gewissen übergeht. Einen Glaubens­inhalt entgegen dem Wissen, dass Glaube Vermutung ist, für sicher zu halten, wider­spricht dem Gewissen. Dogmatischer Glaube fördert die Bereitschaft, gewis­senlos zu handeln.

Ein Glaube, der vorgibt, dass bloßer Glaube bereits Tugend ist, übersieht die Wirklichkeit. Der Blinde, der in seinem Eifer meint zu sehen, riskiert anderen zu schaden, wenn er sich dank seiner Blindheit zur Führung berufen fühlt. Blind­gläubige haben Millionen ins Unglück geführt. Tatsächlich steht das Gewissen des Einzelnen über jedem Lehrsatz.

2.2. Dienst oder Herrschaft

Ein Glaube, der die Grenzen seiner Möglichkeit erkennt, verbindet. Er geht nicht über das hinaus, was ihm möglich ist und bewahrt damit den Zusammenhalt. Ein Glaube, der sich zur Gewissheit erklärt und in der Folge für verbindlich hält, spaltet zwischen denen, die die Treue zu ihm fordern und denen, an die die Forderung ergeht.

Jeder dogmatische Glaube ist eine rechen­schaftslose Willkür­entscheidung. Er spal­tet, weil die Gewissheits­behauptung des Dogmas gegen das eigentliche Wesen des Glaubens verstößt.

Wahr kann nur ein Glaube sein, der sich nicht zur Wahrheit erklärt. Wahrer Glaube bleibt Glaube in Demut. Er gesteht seine Vorläufigkeit ein, statt im Hinfallen Demut zu heucheln. Glaube, der sich zur Wahr­heit erklärt, verleugnet im Kniefall das Höchste.

Zwischen einendem und spaltendem Glauben gibt es große Unter­schiede. Einender Glaube respektiert das Wesen des Glaubens. Er beschränkt seine Vermutungen auf das, was der Suche nach Erkennt­nis dient. Einender Glaube erklärt nichts zur Gewissheit, was für das religiöse Anliegen überflüssig ist und damit das Risiko des Irrtums erhöht, ohne dass das erhöhte Risiko die Hinweisfähigkeit des Glaubens verbessert.

Einender und spaltender Glaube

Einender Glaube... Spaltender Glaube...
deutet an. Meidet das Konkrete, weil er nach dem Unbedingten sucht. malt aus, legt fest, konkretisiert.
deutet den Menschen als Subjekt göttlichen Ausdrucks. erklärt den Menschen zum Objekt göttlicher Willkür.
sucht religiöse Erkenntnis, beansprucht jedoch keine Herrschaft über deren Mittel. beansprucht Herrschaft für sich selbst.
fördert Erkenntnis. fordert Bekenntnis.
ist bereit, Erkenntnis Platz zu machen. Respektiert Wahrheit. Will durch Wissen ersetzt werden. fordert, dass sich Erkenntnis seiner Vorgabe fügt. Legt fest, was als wahr zu gelten hat. Setzt sich gegen Erkenntnisse zur Wehr.
verweist von dem, was man weiß, auf das, was man nicht wissen kann. ersetzt, was man nicht wissen kann, durch das, was er angeblich weiß.
fasst sich als vorübergehend auf. Formuliert sich um, wenn neue Erkenntnisse es ihm nahelegen. beschreibt sich als Endpunkt und Selbstzweck.
verurteilt niemanden, der ihn nicht bestätigen will oder kann. verurteilt jeden, der ihm nicht folgt.
ermuntert den Einzelnen beharrlich zu zweifeln. hält Zweifel an seinem Wahrheits­gehalt für so verwerflich, dass er Zweiflern jeden Wert abspricht.
interessiert sich dafür, wie andere die Dinge sehen. Versucht zu lernen. predigt Gewalt gegen Anders­denkende. Versucht zu belehren.
schließt alle ein. schließt manche ein und andere aus.
scheut vor der Definition fester Formen zurück. legt spezifische Rituale, Trachten und Gebetsformeln fest.
wählt aus allen Quellen, was ihm nützlich erscheint. verknüpft seine Identität mit besonderen Personen, Mythen und heiligen Texten.

Die Instanz, deren Aus­druck Sie sind, steht über der Instanz, an die Sie glauben.
Sinn und Zweifel
Man kann sich fragen, ob eine absolute Instanz überhaupt existiert...

Der Begriff Existenz wird hier nur als Hilfsmittel gebraucht. Tatsächlich geht das Sein des Absoluten über die Existenz hinaus. Es existiert durch Existier­endes, endet aber nicht an dessen Grenze. Existierendes ist Ausdruck, Mittel und Erscheinungs­form des Absoluten. Es ist weder dessen Definition noch sein Horizont. Weil das Absolute über seine Existenz hinausgeht, ist seine Existenz für uns unbeweisbar.

Ist der Zweifel an der Existenz des Absoluten berechtigt, macht er jedoch nur Sinn, wenn er dazu dient, sich dem Absoluten zuzuwenden. Sinn wird hier von Zweck unterschieden. Zweck ist der kleine Bruder des Sinns. Zweck zielt auf ein vorüber­gehendes Ergebnis ab. So ist es zweckdienlich, Geschirr zu spülen. Der Zweifel an der Existenz des Absoluten kann zweckdienlich sein, um die Aufmerk­samkeit auf Vorläufiges auszurichten.

Sinn fragt als großer Bruder nicht nach dem Vorübergehenden. Letztendlich sinnvoll ist, was etwas Absolutem zugeordnet werden kann. Wenn es nichts Absolutes gibt, hat nichts einen Sinn. Also auch nicht der Zweifel. Nur wenn das Absolute existiert, kann der Zweifel an seiner Existenz sinnvoll sein. Der Zweifel an der Existenz des Absoluten macht Sinn, wenn er sich irrt.

Die Existenz des Absoluten nicht zu bezweifeln, macht ebenfalls Sinn. Nicht daran zu zweifeln, dass die Wirklichkeit sinnvoll ist, schützt vor Entscheidungen, die das Absolute missachten. Auch ohne Gewissheit davon auszugehen, dass die Wahl des Handelns über den Tod hinaus Sinn macht, ist Glaube, der sich nicht verirrt.

3. Glaube und Bekenntnis

Da man nicht entschei­den kann, was man glaubt, ist Glaube an sich moralisch bedeu­tungslos.

Wie leicht wäre es...

die Menschheit ohne Gewalt vom christlichen Glauben zu überzeugen, gäbe es einen Missio­nar, der selbst ein Senfkorn Glauben hätte.

Matthäus 17, 20:*
Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so werdet ihr zu diesem Berg sagen: Geh von da weg dorthin!, und er wird weggehen, und nichts wird euch unmöglich sein.

Markus 16, 17:*
Als Zeichen aber werden denen, die glauben, diese zur Seite sein: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, mit neuen Zungen reden... und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nichts schaden.

An den göttlichen Ursprung der Bibel kann nur glauben, wer nicht zur Kenntnis nimmt, was sie verkündet.

Glauben Sie, dass es in Köln Leute gibt, die essen? Vermutlich glauben Sie es. Glauben Sie, dass es in Köln Leute gibt, denen lila Haare wachsen? Vermutlich glauben Sie es nicht.

Was aber, wenn Sie willens sind, an den lila Haarwuchs zu glauben? Glauben Sie es dann? Glauben Sie, weil Sie zu glauben entschlossen sind? Nein, Sie glauben es immer noch nicht.

Man kann feststellen, was man glaubt. Entscheiden, was man glaubt, kann man aber nicht. Was man glaubt, ergibt sich spontan aus dem, was man für realistisch hält. Und das, was man für realistisch hält, hängt davon ab, was man weiß und was man sowieso schon glaubt.

Obwohl man sich nicht dazu entscheiden kann, etwas zu glau­ben, ist das Bekenntnis zu einem Lehrsatz gemäß konfess­ioneller Glaubenslehren der entscheidende Schritt zwischen Moral und Unmoral, Lohn und Strafe, Leben und Tod. Gewiss: Je weniger man weiß, desto eher kann man glauben. Wer aber zu viel weiß, kann nur noch so tun, als ob. Jedes Glaubensollen hält den Menschen dumm, damit er glauben kann oder es macht ihn falsch, damit er vorgibt, es zu tun.

Geistiges Durcheinander

Der Begriff Teufel geht auf das griechische dia-ballein (δια-βαλλειν) = durch­einander-werfen zurück. Teuflisch im theologisch verwendeten Wortsinn ist eine Kraft, die jene Ordnung durcheinanderbringt, die vom Heiligen ausgerich­tet ist. Da sich religiöser Glaube auf die absolute Ordnung bezieht und reiner Glaube Vermutung und nicht Gewissheit bedeutet, verstößt jeder, der einem Glauben zustimmt, der sich für endgültig hält, gegen die Ordnung der höchsten Wirklichkeit. Glaube, der seine Inhalte zur Gewissheit erklärt, ist Ausdruck jenes Durcheinanders, das der Ordnung keine Achtung schenkt.

Im Gegensatz zum dogmatischen Glauben spielt das Bekenntnis bei einem Glauben, der sich seiner Grenzen bewusst bleibt, keine Rolle. Glaube zielt auf religiöse Erkenntnis ab. Bekenntnisse sind politische Schritte. Die Beitrittserklärung zu einer weltanschaulichen Gruppe führt zu keiner Erkenntnis. In Glaubensfragen ist Beitritt bedeutungslos, weil die Verbindung zum Absoluten durch Religiosität nicht geschaffen, sondern anerkannt wird.

4. Glaube und Erkenntnis

Diskussionen zwischen Menschen, die nach Erkenntnis suchen und jenen, die an Lehr­sätze glauben, sind unfruchtbar. Zum Wesen des vorsätzlichen Glaubens an Lehrsätze gehört die Weigerung, Argumente gelten zu lassen, die seine Bilder infrage stellen. Dogmatischer Glaube ist blinder Geist. Sein Ziel ist nicht, im gemeinsamen Ringen um Wahrheit Wahrheit zu erkennen. Sein Ziel ist, Blindheit zu verbreiten um einer Macht zu dienen, von der er sich Vorteile verspricht.

Erkenntnisphobie

Zum Konzept abrahamitischer Glaubensge­meinschaften gehört der Mythos vom Sün­denfall. Als Ursünde des Menschen wird sein Interesse an der Erkenntnis betrachtet. Die Logik des Mythos ist klar. Es soll nicht er­kannt, sondern geglaubt werden. Als Folge der Identifikation mit abraha­mitischen Lehren entsteht eine syste­matische Einschränkung, theologische The­men sachgerecht zu be­trachten. Es besteht eine Erkenntnisphobie.


Das Wesen des Geistes liegt im Befragen der Wirklichkeit. Wer statt zu fragen bloß zustimmt, hat sich vom Geistigen abgewandt.

Eine Überzeugung ist wahnhaft, wenn sie in den Augen des Überzeugten als grundsätzlich unkorrigierbar gilt. Wahn heißt: Irrtum ausgeschlossen.

Der Verstand hat zwei Möglichkeiten, um sich in der Wirklichkeit zu orientieren: Die eine heißt glauben, die andere heißt wissen. Weltbilder setzen sich aus Gewusstem und Geglaubtem zusammen. Gewusstes und Geglaubtes können sich wechselseitig ergänzen; oder fälschlicherweise Geglaubtes führt zur Verwirrung des Geistes. Wissen, also etwas erkannt zu haben, und glauben, also etwas zu vermuten, sind verschiedene Kategorien.

Der Zeuge wird vor Gericht gefragt: Haben Sie den Sachver­halt gesehen oder glauben Sie bloß, dass er so oder so von­stattenging?

Glaube ist ein Fürwahrhalten von Vorstellungen. Offenbarungs­glaube glaubt an die Unverrückbarkeit vermeintlich offen­barter Lehrsätze. Er ist ein unbedingtes Beibehaltenwollen vorgeschrie­bener Bilder. Deshalb setzt Offenbarungsglaube auf Zensur. Er beseitigt, was nicht in sein Bild passt. Wie radikal die Weigerung des biblischen Glaubens ist, Unerwünschtes zur Kenntnis zu nehmen, verdeutlicht die Bergpredigt.

Matthäus 5, 29:*
Wenn dein rechtes Auge dir zum Ärgernis wird, so reiß es aus und wirf es von dir...

Jesus hat mit diesem Auge nicht das Sehorgan im Gesicht gemeint. Er meinte die Fähigkeit, etwas zu sehen, was dem Geglaubten widerspricht oder die Blindheit des Glaubens gefährdet. In der Hoffnung auf himmlischen Lohn predigt das gläubige Ego, man solle seine Fähigkeit zur Erkenntnis verwerfen. Der Mensch soll nicht sehen und sich am Erkannten ausrichten. Er soll Vorgegebenes glauben und Glaubensführern folgen. Wer ein Auge verloren hat, sieht nur noch Oberflächen. Zwischen flach und tief kann er nicht mehr unterscheiden.

Erkennen ist Zurkenntnisnahme der Wirklichkeit. Wer Erkenntnis sucht, versucht Wirkliches zu sehen. Echtes Sehen verwirft bloße Bilder. Wer sehen will, hält im Gegensatz zum Bildergläubigen Ausschau nach dem, was nicht ins Bild passt. Nur so kann das Bild aufgelöst werden. Und nur wenn man Bilder auflöst, dringt man zur Wahrheit vor. Sonst bleibt der Blick von Vorstellungen verstellt.

Spiritualität versucht die Verbindung zum Absoluten freizulegen. Das Absolute wird nicht anerkannt, indem man Konkretes dazu erklärt. Es wird anerkannt, indem man ihm Platz macht. Platz machen heißt: Das Wahrnehmungsfeld nicht mit dem zu füllen, was bloß vorübergeht. Man kann Aussagen für wahr halten, die man sich vom Absoluten macht. Dann glaubt man an die Richtigkeit von Aussagen und weist andere zurück. Das ist Glaube, der nur mit einem Teil verbindet und alles andere abzuspalten versucht. Oder man glaubt im umfassenden Sinn. Umfassend ist der Glaube, dass alles von je her mit dem Absoluten verbunden ist.

5. Glaube und seelische Gesundheit

Religiöser Glaube kann die seelische Gesundheit fördern oder untergraben. Bei der Abschätzung positiver und negativer Wirkungen ist zwischen förderlichen und schädlichen Faktoren zu unterscheiden. Die Unterscheidung fällt leicht:

Atheismus
Der Begriff Atheismus kann auf zweierlei Art verstanden werden:

Als im zweiten Sinne atheistisch kann die ursprüngliche Form des Buddhismus gelten. Tatsächlich ist der Verzicht des Buddhismus auf die Anbetung eines personalisierten Gottesbilds jedoch nicht dem fehlenden Glauben an das Absolute gezollt, sondern der konsequenten Scheu, es zu objektivieren. Das Nirvana, das dem Gläubigen als Ziel empfohlen wird, ist kein Nichts. Es ist das Absolute ohne persönlichen Namen. Zur Praxis des Buddhismus gehört es in der Folge nicht, irgendeinem Gott zu huldigen (von althochdeutsch hold = gnädig, ergeben), ihn also durch Ergebenheit gnädig zu stimmen, sondern das Absolute zu erkennen.

Beim Materialismus handelt es sich um das Fehlen des Glaubens an etwas Höheres überhaupt. Der Materialist glaubt nicht, dass sein Dasein in etwas Umfassendes eingebettet ist, das seinem Leben einen Sinn gibt. Das kann ihn von der Angst vor Schuld befreien oder es setzt ihn mächtig unter Druck. Wenn sich das Dasein im Diesseits erschöpft, muss alles Gute, was ihm zukommen kann, im Diesseits erreicht werden. Das steigert den Anspruch an sich selbst, die Welt und andere. Wer im Gegensatz dazu an die Einbettung glaubt, kann manches, wogegen der Materialist zu kämpfen hat, mit gelassener Erwartung betrachten.

5.1. Einender Glaube
Ungebrochen verbindender Glaube entspricht einem mystisch-monis­tischen Gottesbild. Mystischer Glaube fordert keinen Beitritt, weil in seinen Augen alles von je her dazugehört.

Der Glaube, dass alle Elemente der Wirklichkeit und somit auch alle Men­schen, unab­hängig von ihren sonstigen Merkmalen, Ausdrucksformen einer einzigen, als heilig gedachten Instanz sind, ist ein Glaube, der dem eigent­lichen Wesen des Glaubens, nämlich der Verbundenheit zu dienen, ohne Abstrich treu bleibt. Ein solcher Glaube hat ausgesprochen positive Wirkungen auf die seelische Gesundheit; ohne dass die positiven Wirkungen durch schäd­liche Neben­wirkungen vermindert, aufgehoben oder ins Gegenteil verkehrt werden.

Die Glaubensvorstellung, dass der Mensch nicht nur Gemachtes, sondern Erscheinungs­form des Göttlichen ist, verbrieft die oben genannten heilsamen Faktoren.

5.2. Spaltender Glaube
Spaltender Glaube entspricht einem dualistischen Gottesbild. Er ist nur gebrochen verbindend. Was ihm an Verbindungskraft fehlt, ersetzt er durch den Anspruch auf Verbindlich­keit.

Spaltende Glaubensformen gehen davon aus, dass die Zugehörigkeit des Einzelnen seinem Dasein nicht primär und unverlierbar beigelegt ist, sondern...

Da die Zugehörigkeit gemäß spaltender Lehren erst erworben werden muss, ist deren Kehrseite prinzipiell ausgrenzend. Von daher droht die Kirche Andersdenkende zu exkommunizieren, sie also aus der Zugehörigkeit zu verstoßen; was in den Augen mystischer Religiosität wohlgemerkt nur ein politischer Akt sein kann, da aus deren Sicht ein existenzieller Verlust der Zugehörigkeit gar nicht möglich ist.

Da der Mensch gemäß spaltender Vorstellung nicht an sich dazugehört und schon gar nicht wesenhaft mit dem Absoluten verbunden ist, ist sein Wert grundsätzlich relativ und kann ihm bis zur absoluten Nichtigkeit entzogen werden. Es ist klar, dass ein solcher Denkansatz das Selbstwertgefühl des Einzelnen aushöhlt und ein grundsätzlich unheilbares narzisstisches Problem nach sich zieht. Wer sich mit spaltenden Glaubens­formen identifiziert, kann sich nur zu dem Preis wertschätzen, dass er Andersdenkende entwertet und den eigenen Wert durch jeden Zweifel an seinem Glauben bedroht sieht.

Die Übernahme spaltender Glaubensinhalte hat für die seelische Gesundheit abträgliche Folgen, die zu manifesten psychiatrischen Störungen führen können. Zu nennen sind Wahn, Depressionen, Zwangs- und Persönlichkeitsstörungen. Dabei hat die wahnhafte Störung zuweilen gefährliche Auswirkungen. Wahnhaft von den spaltenden Lehrsätzen ihres Glaubens überzeugte Anhänger sind gegebenenfalls zu Mordtaten bereit. Sie voll­strecken Aufrufe zum Totschlag, die in ihren für heilig gehaltenen Texten nachzulesen sind.

Identifikationstiefe
Wenn von Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit gesprochen wird, die Anhängern spaltender Glaubensformen drohen, ist ein Umstand besonders zu beachten: die Tiefe der Identifikation mit der entsprechenden Lehre.

Die überwiegende Mehrzahl der Gläubigen ist keineswegs so tief von ihrem Glauben überzeugt, dass sie konsequent befolgt, was er tatsächlich impliziert. Die Mehrzahl begnügt sich damit, ein Bündel moralischer Regeln zu beachten, das unabhängig von jedwedem dogmatischen Credo für die Funktionen einer Gemeinschaft nützlich ist oder Rituale auszuführen, die die Bestätigung des Glaubens signalisieren.

Darüber hinaus ist der menschliche Drang zum Guten so mächtig, dass wohlmei­nende Priester, Rabbis, Mullas und Pastoren von je her darum bemüht waren, die verbindenden Elemente ihres Glaubens in den Vordergrund zu stellen und die spaltenden zu entkräften.

Wenn der heilsame Effekt des einenden Glaubens dem schädlichen des spaltenden gegenübergestellt wird, ist daher zu beachten, dass die formale Zustimmung zu dualistischen Lehren keineswegs automatisch zur Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit führt. Sie tut es erst, wenn die Identifikation mit dem Dualismus eine solche Tiefe erreicht, dass die Drohung mit der Hölle psychodynamisch wirksam wird. In allen anderen Fällen überwiegt der heilsame Effekt des einenden Glaubens gegenüber dem schädlichen der Spaltung.

5.2.1. Wahn

Psychisch gesund ist, wer sich so verhält, dass es dem entspricht, was er als wahr erkennt. Wer psychisch gesund sein will, muss von dem ausgehen, was er als wahr erkennen kann. Und er muss sich dementsprechend verhalten.

Konfessionelle und damit spaltende Glaubensformen fordern, sich gemäß Lehrsätzen zu verhalten, die grund­sätzlich nicht als wahr erkennbar sind. Den Glauben an Unüber­prüfbares erklären sie zum Kern der Religion.

Beispiele:

Es stimmt: Diese Lehrsätze könnten wahr sein. Ihr Wahrheitsgehalt ist aber nicht überprüfbar. Wer sich so verhält, als sei der Wahrheitsgehalt solcher Lehrsätze festgestellt, riskiert gegebenenfalls die Wirklichkeit grob zu missachten. Das kann für ihn selbst und für andere schädlich sein.

Die Grundlage politischer Religionen, also solcher, die den bekennenden Beitritt zu einer weltanschaulichen Gruppe als religiöse Notwendigkeit deuten, beruht darauf, Unüber­prüfbares für überprüft zu erklären und Zustimmung zu fordern. Das verstößt gegen das Wesen des Geistes.

Die Mehrzahl derer, die sich zu Anhängern einer spaltenden Lehre erklären, ist keinesfalls wahnhaft. Das liegt daran, weil sie das jeweilige Dogma nicht wirklich glauben. Sie glauben, dass sie glauben sollten. Sie glauben, dass sie glau­ben. Oder sie glauben, dass es ratsam ist, so zu tun, als ob sie glauben. Tatsächlich glauben sie aber nicht.

Materie ist unterworfen. Geist ist es nicht. Geist ist entbunden. Daher verstößt man umso mehr gegen das Wesen des Geistes, je mehr man Glaubenssätze ohne inhaltliche Gewissensprüfung bestätigt. Die vollständige Identifikation mit solchen Lehrsätzen entspricht psychodynamisch einer wahnhaften Störung. Eine Störung ist wahnhaft, wenn der Geist dem Bild, auf das er sich versteift, nicht mehr entkommen kann.

Folie à deux - Folie en groupe
Die Psychiatrie kennt das Phänomen der sogenannten Folie à deux (französisch: Verrücktheit zu zweit). Dabei entwickelt der dominante Partner innerhalb einer asymmetrischen Beziehung eine Psychose mit wahnhaft verzerrter Deutung der Realität. Unter dem suggestiven Druck des dominanten Parts, der unnachgiebig die Bestätigung seines Wahns einfordert, beginnt auch der regressive Partner, die Wirklichkeit wahnhaft auszudeuten. Man spricht von einem induzierten, also einem von außen eingeflößten Wahn.

Der eingeflößte Wahn des regressiven Partners bleibt oberflächlich. Fällt der Druck von außen weg, findet er zur Realität zurück; oder er schließt sich dem Wahnbild eines neuen dominanten Partners an.

Als Beispiel einer Folie en groupe kann der Massenselbstmord der Mitglieder der Peoples-Temple-Sekte (Peoples Temple of the Disciples of Christ) 1978 in Guyana angeführt werden.

Der Ausbreitung spaltender Glaubensformen liegt ein ähnlicher Mechanis­mus zugrunde. Unter dem Druck dominanter Glaubensführer, deren Welt­bild auf Dogmen versteift ist, übernehmen ganze Gruppen Denkinhalte, deren Wahrheits­gehalt unüberprüfbar ist. Eine Folie en groupe entsteht (französisch: Verrücktheit in der Gruppe). Niemand wagt es mehr, dem Denkinhalt zu widersprechen.

Auch bei der Folie en groupe bleibt der induzierte Glaube der regressiven Mehrheit oberflächlich, sodass sie nur in abgeschwächter Form aus dem Glaubensinhalt heraus handeln; und für manche bleibt die Zustimmung bloße Heuchelei. Da dogmatische Religiosität gegen Zweifler vorgeht, ist die Zustimmung vieler zum Glaubensinhalt nur ein Lippenbekenntnis, das zum Selbstschutz abgeleistet wird.

Ester 8,17:*
Viele aus den Heidenvölkern bekannten sich zum Judentum, denn die Furcht vor den Juden hatte sie befallen.

Dogmatisch religiöse Gruppen bestimmen über das politische Denken ganzer Konti­nente mit. Daher ist die Welt auch heute weit davon entfernt, die Folie en groupe als krankhaft zu erkennen.

5.2.1.1. Ich-Grenzen-Störung

Spaltender Glaube setzt Gläubige Zumutungen aus. Er fordert, entgegen dem Wesen des Verstandes zu urteilen. Im Dienste des Dogmenglaubens soll der Verstand kraftvoll urteilen ohne seine Urteilskraft aber tatsächlich anzuwenden. Kraft wird vom Dogmen­glauben daher durch Gewalt ersetzt. Die Missachtung des Verstandes wird zur Tugend erklärt.

1 Korinther 1, 21-23:*
Denn da die Welt mit ihrer Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Heilsbotschaft die zu retten, die glauben... die Hellenen suchen Weisheit; wir aber verkünden einen gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit.

Die Missachtung des Verstandes führt zu seelischen Verwerfungen, die den Gebrauch von psychosenahen Abwehrmechanismen fördern (z.B. Spaltung, Projektion, projektive Identifikation). In der Folge werden Störungen der Ich-Grenze vertieft; also der Fähigkeit, Ereignisse angemessen der eigenen Person oder dem Umfeld zuzuordnen.

Wer sich über die Verletzung religiöser Gefühle beklagt, zeigt an, dass er zu glauben glaubt, statt es tatsächlich zu tun. Wer glaubt, dass ihm sein Glaube einst ewiges Glück einbringt, ist außerstande, einem Kritiker böse zu sein; egal wie geschmacklos der seine Kritik auch formulieren mag. Die Wut schäumt auf, weil die Kritik den Gläubigen verunsichert. Sie verunsichert ihn, weil sein Glaube sowieso schon wankt.

Als Beispiel kann die Redensart von den verletzten religiösen Gefühlen gelten. Auf Kritik an ihren Glaubenssätzen und Propheten reagieren Dogmengläubige oft mit dem Vorwurf, man verletze ihre religiösen Gefühle. Das ist sowohl eine beschönigende Metapher als auch Beispiel einer Ich-Grenzen-Störung.

Beschönigend an der Redensart ist, dass nicht der Hass benannt wird, sondern dass sich der Hasserfüllte als Verteidiger höchster Werte darstellt, dem keine Verantwortung für die Folgen seines Hasses zufällt. Die Redensart ist Metapher, weil der Begriff verletzt Zustände biologischer Strukturen beschreibt. Seine metaphorische Anwendung auf Gefühle, also seelische Reaktionen, ist verfehlt. Gefühle werden nicht verletzt, sodass nach dem "verletzenden" Ereignis ein defektes Gefühl vorläge. Gefühle wandeln sich oder sie schlagen ins Gegenteil um.

Die eigentliche Ursache des aggressiven Impulses, den der Dogmengläubige gegen Kritiker aufbietet, liegt nicht im Kritiker, sondern im Dogmengläubigen selbst. Sie ist Folge seines verleugneten Zweifels am Sinn der Unterwerfung unter den Anspruch des eigenen Glaubens. Der Dogmengläubige betreibt projektive Identifikation, indem er dem anderen das Leid zur Last legt, das er sich selbst antut. Der andere wird zum Schuldigen für das erklärt, was der Gläubige dem eigenen Verstand schuldig bleibt.

Redlich wäre der Dogmengläubige, wenn er von der Wut spräche, mit der er auf Zweifel an der Richtigkeit seiner Glaubenssätze reagiert. Dann würde er die Ursache der Wut seinem Unvermögen zuordnen, im Glauben zu ruhen, selbst wenn sein Glaube von anderen bezweifelt wird. Wut reagiert auf gefühlte Bedrohung. Wer ernsthaft glaubt, dass sein Glaube ins Paradies führt, kann sich durch keine Kritik daran bedroht fühlen.

5.2.1.2. Spaltung und Projektion

Spaltung und Projektion sind Abwehrmechanismen, die sowohl Grundlage des Wahns als auch Grundlage spaltender Glaubenslehren sind. Spaltende Glaubenslehren ordnen das Göttliche und das Menschliche definitiv getrennten Kategorien zu, die auch im Jenseits weiterbestehen.

Durch diese Spaltung entwerten sie das menschliche Individuum. Um das Gefühl des Unwerts abzuwehren, projiziert der Gläubige in der Folge den ihm vom Glauben unter­stellten Unwert auf Andersdenkende, die er dann als vermeintliche Träger des Merkmals unwert bekämpft. Diese Projektion ist ein pathologischer Selbstheilungsversuch.

Allerdings führt die Projektion des gefühlten Selbstwertmangels nicht zur Lösung. Im Untergrund bleibt das Defizit bestehen und es bedarf oft weiterer Abwehrmaßnahmen, um das gefürchtete Gefühl in Schach zu halten. Viele, die sich im Gebetshaus fromm der Allmacht beugen, frönen alltags einem irdischen Gewinnstreben, bei dem das Heilige vergessen wirkt. Ein Motiv des ungezügelten Habenwollens ist der benannte Selbst­wertzweifel, der durch Erwerb und Rang über das Maß hinaus zu dämpfen ist, das die Verachtung Andersdenkender bereits bewirkt.

5.2.2. Depression
Jede Vorgabe verbindlicher Regeln ist in der religiösen Praxis ein Versuch, die Freiheit des Absoluten im Relativen einzuschränken. Wer der Versuchung nicht widersteht, wird von ihr nieder­gedrückt.

Der Glaube, dass ein einmal gefälltes Urteil über das erhaben ist, was nachträglich erkannt werden kann, sperrt den Geist in einen Kerker ein.

Spaltende Glaubensformen geben Regeln vor, deren zwanghafte Einhaltung als unverzichtbar ausgewiesen wird. Die menschliche Seele ist jedoch Ausdruck einer Subjektivität, deren Unbestimmbarkeit nahtlos in die Leere des Heiligen übergeht.

Aus Angst heraus sind viele bereit, sich Regeln untertan zu machen; teils weil sie selbst glauben, dass ausgerechnet das Höchste Unterwürfigkeit belohnt, teils weil sie von den Drohgebärden ihrer Glaubensbrüder eingeschüchtert sind. In Gruppen, in denen spaltende Vorstellungen vorherrschen, sind viele schwermütig, weil dort ein Klima der Angst die wechselseitige Unterdrückung des Geistes bewacht.

Die Bereitschaft ängstlicher Menschen, sich den Regeln und Absichten ihrer jeweiligen Bekenntnisgemeinschaft unterzuordnen, führt gehäuft zu Depressionen. Die Freiheit des Geistes wird eingeschränkt, um sich gegen die Ausgrenzung aus der Gemeinschaft zu schützen. Auf den Verlust seiner Freiheit reagiert der Geist mit unbestimmter Schwermut.

Ekklesiogene Neurose

Verschiedene Autoren (z.B. Schaetzing, Thomas, Drewermann, Moser) haben den Begriff der Ekklesiogenen Neurose verwendet: mit gutem Recht. Die Defi­nition des Begriffs entstand aus der Beobachtung, dass die strenggläubige Auslegung konfessioneller Glaubensinhalte gehäuft mit neurotischen Fehl­entwicklungen in Verbindung steht. Besonders hervorgehoben wurden sexu­elle Funktionsstörungen, einschließlich sado-masochistischer Phantasien; außerdem Zwangsstörungen. Selbstverständlich wird der Begriff kontrovers diskutiert und seine Gegner verweisen auf die heilsamen Effekte der Religion. Sie tun es jedoch ohne zwischen verbindenden und spaltenden Komponenten zu differenzieren.

5.2.3. Zwang

Spaltende Glaubensformen setzen das Ego erheblichen Widersprüchen aus:

  1. Sie appellieren an seinen Eigennutz:
    Tue dies oder das! Dann wirst du erhöht.

  2. Sie fordern seine Unterwerfung:
    Wenn du nicht tust, was von dir gefordert wird, wird das Gute dich quälen. Nenne den, der dich mit Qual bedroht, barmherzig. Wenn du ihn lobpreist, wird er dir die Qual ersparen.

Die Betonung des Egos bei gleichzeitigem Hinweis auf seine Rang- und Bedeutungs­losigkeit steigert dessen Vernichtungsangst. In der Folge versucht es, alles richtig zu machen. Es wird von der Angst geplagt, selbst kleine Fehltritte, Unachtsamkeiten und Irrtümer drohten katastrophale Folgen nach sich zu ziehen. Die Konsequenz daraus kann eine moralische Starre sein, die in Perfektionismus und Zwangsstörung übergeht. Die verschachtelte Vielzahl zu beachtender Regeln des orthodoxen Judentums - ins­gesamt sind es 613 - kann Zwangs­störungen in spezifischer Weise ausgestalten (Pfeifer, Samuel: Zwang und Zweifel, ISBN: 978-3-905709-26-1).

Ödipuskomplex
Es ist kein Zufall, dass Freud den Ödipuskonflikt als angeblich zentrales Thema der Entwicklungspsycho­logie des Kindes beschrieb. Die Theorie geht davon aus, dass Söhne ihre Mütter begehren und in der Folge Mordphantasien gegenüber ihren Vätern haben. Richtig ist, dass in der jüdischen Tradition, in der Freud aufwuchs, Väter bestimmende Macht über ihre Söhne ausüben. Sie haben den Auftrag, Söhne entlang der dogmatischen Vorgabe der Bibel auszurichten.

2 Moses 13, 8:*
Du sollst es [das Gesetz] deinem Sohne einschärfen...

Zweifellos gab der religiös verbriefte Machtanspruch des Väterlichen nicht selten guten Grund, Väter bewusst oder unbewusst zu hassen. Ob das angebliche Begeh­ren der Mutter tatsächlich sexuell gemeint ist, bleibt dahingestellt. Möglicherweise liegt im Blick zur Mutter nur der Versuch, vor der Übergriffigkeit des Vaters oder der väterlichen Religion in einen schützenden Hafen zu flüchten.

Die Aggression, die abrahamitischer Glaube im unbewussten Abgrund kindlicher Seelen schürt, kann im zweiten Schritt zu Schuldgefühlen führen, die sich zum Zwangsgedanken verdichten, am Unglück oder dem Tod des Vaters schuld zu sein.

5.2.4. Persönlichkeitsstörungen

Persönlichkeitsstörungen im Gefolge spaltenden Glaubens entstehen je nach Charakter und begleitenden Umständen in unterschiedlichem Gepräge. Eine wichtige psycho­dynamische Gemeinsamkeit dieser Persönlichkeitsstörungen liegt in der sadomasochis­tischen Grundthematik spaltender Weltanschauungen. Damit verwoben sind narziss­tische Defizite, die die Muster quasi aller neurotischen Störungen mehr oder weniger einfärben. Die grundlegende Ursache narzisstischer Defizite, die durch dualistische Lehren entstehen, liegt in der Objektivierung des Subjekts.

5.2.4.1. Sadomasochistische Grundthematik

Gottesbilder

Das eine fordert Unterwerfung. Das andere verheißt Befreiung. Dem einen kann man dienen. Vom anderen wird man entbunden.

Das bekannteste Beispiel der sadomasochistischen Beziehungsasymmetrie wird im Rahmen der sexuellen Vereinigung ausgelebt. Dort handelt es sich um ein zwischen­menschliches Arrangement, das zu einer beidseitigen Ent­ängstigung führt, die es den Partnern ermöglicht, Lust mit verminder­tem Angst- und Schulddruck zu erleben.

Jenseits unmittelbar sexueller Begierden taucht das gleiche Muster an weiteren Stellen auf.

  1. Im Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen mit ausgeprägt asymmetrischer Rollenverteilung.

  2. Als theologisches Beziehungsmodell zwischen allmächtigem Gott und missratenem Geschöpf.
Zugehörigkeitsbedürfnis
Das Spiel mit dem Zugehörigkeitsbedürfnis ist ein entscheidender Faktor, der die Ausbreitung spaltender Glaubensformen begünstigt. Dieses Spiel beherrschen abrahamitische Lehren meisterlich. Indem sie für verweigerten Beitritt die entsetz­lichste Strafe androhen, die überhaupt denkbar ist, ewige Qual, und für Zustimmung unermesslichen Lohn, schüren sie die Angst vor der Unzugehörigkeit und bieten sich selbst als einzig sicheren Hafen an. Das ist ein psycholo­gischer Mechanismus, der seit Moses Gläubige dazu bringt, im vermeintlich einzig sicheren Hafen zu bleiben.

Auch bei der theologischen Variante, bei der ein eifersüch­tiger Gott angeblich die totale Unterwerfung aller fordert, geht es um die Abwehr von Angst. Indem der Unterworfene das Potenzial, eigenständig zu entscheiden preisgibt...

1 Samuel 15, 23:*
Eigensinn ist Sünde wie schuldbarer Götzendienst...

... setzt er sich zum Objekt einer fremden Entscheidungs­macht herab. Er gibt alle Verantwortung für seine Taten ab und befreit sich damit von der Angst, dass das Leben ihn je, für das, was er selbst entschieden hätte, zur Verantwortung zieht. Zugleich wird sein Zugehörigkeitsbedürfnis radikal erfüllt; indem er gehorsam der Armee jener Macht angehört, die ihn fortan bestimmen wird.

Johannes 15, 2:*
... mein Vater ist der Weingärtner. Jede Rebe an mir, die nicht Frucht bringt, nimmt er weg...

Im mystischen Glauben gilt der Gläubige nicht als passives Objekt, das nach dem Willen seines Besitzers zurechtgeschnitten wird. Mystischer Glaube erkennt den Menschen als Subjekt, das auf der Suche nach seinem Wesen auf alles verzichtet, was nicht zu ihm gehört. Um herauszufinden, was das ist, vertraut das Subjekt auf seinen eigenen Sinn; mit dem es mal in die Irre geht sowie aus Fehlern lernt und mal ins Schwarze trifft.

In der Illusion, dass sein Kreuzestod der Wunscherfüllung eines himmlischen Vaters diente, hat Jesu Glaube an die Gottgefälligkeit der Unterwerfung ihren Höhepunkt erreicht. Vermutlich hat er seinen Irrtum im letzten Moment erkannt:

Matthäus 27, 46 und Markus 15, 34:*
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

5.2.4.2. Objektivierung des Subjekts

Wer sich für einen Propheten hält, stellt sich über andere. Sein Vorsatz ist es, ande­ren Regeln vorzuschreiben, die auszuführen sind. Führt ein Individuum Regeln aber nur aus, statt sie zu entwickeln und zu überprüfen, wird es zum Objekt einer Instanz, die über es bestimmt. Dieser Reduktion des Subjekts entspricht ein grundsätzlicher Entzug an Selbstwert. Das Defizit, das so entsteht, trübt sein Selbstbild ein wie Tinte Wasser. Wer noch niemals klares Wasser erlebt hat, weiß nicht, was das ist. Für ihn ist die Trübung normal. Tatsächlich ist sie überflüssig. Der Mensch kann Gutes finden, wenn er darauf gestoßen wird. Er findet es erst recht, wenn man ihn das Gute suchen lässt.

5.2.5. Positive Wirkungen spaltender Glaubensformen
Der Glaube an Gott ist keine Tugend, son­dern Möglichkeit. Wer glaubt, hat nichts verdient. Er wurde beschenkt. Wer seinen Glauben an Gott zur Tugend erklärt, dankt ihm nicht. Er will Lohn. Wer für den Glauben an Gott etwas haben will, dem ist Gott nicht genug wert.

Dogmatischer Glaube taucht nicht in die Tiefe des Geistes. Für den, der sich mit Oberflächen begnügt, kann er Hafen sein. Schädlich ist nicht, dass er den einen Zuflucht bietet. Schaden ent­steht, wenn er den Tiefgang anderer stört.

Spaltender Glaube ist ein Risikofaktor für die seelische Gesundheit. Er kann aber auch nützlich sein. Personen, deren Selbstvertrauen nur schwach entwickelt ist, fühlen sich von der Komplexität der Wirklich­keit überfordert. Das kann zu Ängsten oder anderen seelischen Störungen führen.

Spaltende Lehren geben vor, umfassende und endgültige Erklärungen für die Bedrängnisse des Lebens zu haben. Gleichzeitig liefern sie einfache Regeln, deren Befolgung angeblich vollständiges Heil garantiert.

Sich einer spaltenden Lehre anzuschließen, kann für abhängige, selbst­unsichere und ängstlich-vermeidende Persönlichkeiten ein Hafen sein. Das Angebot, durchs Leben geführt zu werden, wie es das Bild von Schaf und Hirte verheißt, befreit sie von Ängsten und Schuldgefühlen. Es vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl, ohne das das Leben auf hoher See erschreckender wäre als jede Bevor­mundung durch die Hafenpolizei.

Abhängige, selbstunsichere und ängstlich-vermeidende Persönlichkeiten haben wenig Selbstwertgefühl. Da es keinen spaltenden Glauben gibt, der seinen Anhängern nicht versichert, durch den bloßen Glauben an seine spaltenden Lehrsätze bereits über den Ungläubigen zu stehen, kompensiert er zugleich das narzisstische Defizit. Auch das ist für viele ein Gewinn, für den sie bereit sind, einen paradoxen Preis zu zahlen: Um sich zu erhöhen, unterwerfen sie sich.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.