Dekadenz


  1. Begriffsbestimmung
  2. Abgrenzungen
  3. Verfallsprozesse
  4. Faktoren des Verfalls
  5. Lösungsstrategien
Wer seinen Appetit nicht zügelt, frisst sich am Ende selber auf.

Dekadenz ist Folge von Ansprüchen, die aus eigener Kraft weder zu erfüllen noch zu begrenzen sind.

Ablaufgeschwindigkeit und Ausgang von Dekadenzprozessen hängen davon ab, wie die betroffene Struktur auf das aufkommende Ungleichgewicht von Kraft und Anspruch reagiert.

Politische Flügel, die das Anspruchsdenken ihrer Wähler unverhältnismäßig ermutigen, tragen wesentlich zum Niedergang von Gesellschaften bei.

1. Begriffsbestimmung

Unschwer ist aus dem Begriff Dekadenz das lateinische Verb cadere = fallen herauszuhören. Dekadenz ist Fall aus einer Höhe, die nicht mehr gehalten wird. Dementsprechend benennt das Wort Verfall und Niedergang.

Verfall ist die letzte Phase einer Entwicklung. Entwicklungszyklen bestehen in der Regel aus drei Abschnitten:

  1. dem Aufblühen
  2. dem Plateau bzw. Zenit
  3. dem Verfall

Im Allgemeinen wird der Begriff Dekadenz nur auf Phänomene angewendet, die mit der Menschenwelt in Verbindung stehen; insbesondere auf Individuen oder die Gesellschaft als Ganzes. Es ist allerdings nicht so, dass jeder Niedergang, der Einzelne oder Gemeinschaften trifft, als dekadent zu bezeichnen wäre. Dekadenz ist Niedergang von innen heraus. Dekadenz ist die Folge einer gestörten Regulation des Selbstwertgefühls, die die Erfüllung gehobener Ansprüche für unentbehrlich hält.

2. Abgrenzungen

Schon lange vor dem Involutionsalter können schwere Erkrankungen zu einem Niedergang führen.

Entwicklungszyklen können rein biologisch sein, sodass der Niedergang quasi naturgesetzlich abläuft. Derlei Niedergang ist eng mit dem Schwinden organismischer Kräfte verbunden. In der Medizin spricht man vom sogenannten Involutionsalter, also jener Lebensphase, in der die Funktionsfähigkeit der Organe spürbar zurückgeht, sodass der Erlebnishorizont des Betroffenen schrumpft.

Der Erlebnishorizont eines Individuums kann auch im Gefolge wirtschaftlicher Probleme zurückgehen; z. B. durch Verlust des Arbeitsplatzes, Altersarmut, Trennung oder anderer Schicksalsschläge, die sein Handlungspotenzial vermindern.

Dekadenz

Die Ansprüche eines Systems sind höher als die eigene Kraft, sie zu erfüllen.

Weder der Verfall organismischer Kräfte als Folge rein biologischer Prozesse noch Abwärtsentwicklungen auf Grund externer Umstände werden jedoch als dekadent bezeichnet. Trotzdem ist Dekadenz ebenfalls Folge eines relativen Kräftemangels. Im Gegensatz zum rein biologisch oder wirtschaftlich verursachten Niedergang, beruht Dekadenz auf einer psychologisch verursachten Dysbalance von Kraft und Anspruch.

Niedergang durch Dekadenz setzt ein, wenn eine Person oder eine Gemeinschaft dergestalt über ihre Verhältnisse lebt, dass sie ihre Ansprüche nicht mehr aus eigener Kraft erfüllen kann und sich zum Ausgleich in die Abhängigkeit von äußeren Kräften begibt und/oder ihre Substanz verzehrt. Folge und Kernsymptom der Dekadenz ist der Verfall des Selbstbestimmungspotenzials.

3. Verfallsprozesse

Definiert man die Ursache der Dekadenz als primär psychologisches Problem, wird klar, dass man zunächst das Individuum betrachten muss, um die Dynamik dekadenter Verfallsprozesse besser zu verstehen. Von dort aus erweitert sich der Blick auf Abwärtsentwicklungen, die die Gesellschaft als Ganzes in Mitleidenschaft ziehen.

3.1. Individuell

Individuellen Dekadenzprozessen können typische Begleiterscheinungen zugeordnet werden:

Ein Verhalten ist süchtig, wenn es Mittel einsetzt, die das Wohlbefinden kurzfristig steigern, obwohl der Anwender weiß, dass sie langfristig schädlich sind.

Ursache dieser Entwicklungen sind Ansprüche, die das betroffene Individuum erhebt, ohne sie aus eigener Kraft nachhaltig erfüllen zu können.

3.2. Gesellschaftlich

Dekadenzprozesse individueller Personen sind zunächst als Einzelschicksale aufzufassen. Obwohl auch der biographische Niedergang Einzelner, der aus deren gestörtem Gleichgewicht von Kraft und Anspruch resultiert, abträglich für die Gemeinschaft ist, sind gesunde Gemeinschaften in der Lage, dem problematischen Einfluss dekadenter Individualprozesse lange standzuhalten.

Lange heißt aber nicht unbegrenzt. Summieren sich die Ansprüche der Mitglieder einer Gesellschaft soweit auf, dass die kollektive Kraft davon überfordert wird, kommt die Gemeinschaft an einen Punkt, an dem sie sich entscheiden muss:

Entscheidet sich die Gesellschaft für das Zweite, sind auch bei ihr typische Dekadenzsymptome zu erkennen:

Mathematik der Dekadenz

(ƩAsp2 : ƩkeEk2 )  -1   =   Δ

Δ = Dekadenzquotient
Asp = Ansprüche
keEk = kreativ eingesetzte Eigenkräfte

ƩAsp : Nbev = Anspruchsniveau

Nbev = Einwohnerzahl

Ein potenzielles Dekadenzsymptom von Gesellschaften kann auch an der Migrationspolitik abgelesen werden. Verliert eine Gesellschaft die Fähigkeit, die Ansprüche, die sie sich selbst zugesteht, aus eigener Kraft zu bedienen, wird der Ruf nach auswärtigen Kräften laut, die die Lücke zwischen Anspruch und eigenem Vermögen schließen.

Bis zu einem erheblichen Umfang werden Gesellschaften durch Einwanderung zweifellos bereichert. Einwanderer bringen aber nicht nur Potenziale, sondern auch Probleme, Konfliktbereitschaften und nicht zuletzt eigene Ansprüche mit. Zudem führt Einwanderung in großem Stil zur Polarisierung der Gesellschaft. Die innenpolitischen und wirtschaftlichen Kosten der Integration können derart aus dem Ruder laufen, dass die Bilanz ins Negative kippt. Können die Ansprüche auch dann nicht zurückgenommen werden, führt das zu einem Verzehr der eigenen Substanz. Auch der Anspruch, in moralischen Fragen auf Gedeih und Verderb auf der sicheren Seite zu stehen, ist ein Anspruch, der eine Abwärtsspirale beschleunigen kann.

Zwei Muster

Förderliche Migrationspolitik Dekadente Migrationspolitik
Die Gesellschaft kann ihre Ansprüche selbst erfüllen. Sie braucht keine Einwanderer. Die Gesellschaft ist zur Erfüllung ihrer Ansprüche auf Migranten angewiesen.
Der Zustrom wird quantitativ und qualitativ so gesteuert, dass eine Integration bzw. Assimilierung ohne Verwerfungen möglich ist. Der Zustrom spaltet die Gesellschaft in verfeindete Lager. Er überlastet ihr Integrations- und Assimilierungspotenzial.

Integration und Assimilierung unterscheiden sich. Gleichen sich kulturelle Lebensformen einander an, findet eine Assimilierung statt. Existieren verschiedene Kulturformen nebeneinander, kann die Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft integriert sein. Die Integration stark divergenter Kulturformen gelingt in der Regel jedoch nur, solange die Macht der Mehrheit unangreifbar bleibt. Ändert sich das durch Verschiebung der Verhältnisse, kann es zu schwersten Konflikten kommen, die unumkehrbar sind. Nicht nur im Nahen Osten ist das passiert. Da bloße Integration den Keim potenzieller Desintegration in sich trägt, ist Assimilierung zum Aufbau echter Zusammengehörigkeit besser geeignet.

4. Faktoren des Verfalls

Die oben aufgeführte Formel zur Berechnung der Dekadenz ist orientierender Natur. Sie erhebt keinen Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit. Bestenfalls können materielle Ansprüche quantifiziert werden, bei moralischen und narzisstischen gelingt das nicht. Die Formel probeweise anzuwenden, beleuchtet jedoch, wie das Anspruchsniveau einer Gesellschaft und deren eingebrachte Eigenleistung bei Verfallsprozessen ineinanderwirken und welche Δ-Werte zu erwarten sind.

Anspruch, Leistung, Wert und Phase

ƩAsp ƩkeEk Dekadenz-Quotient Δ
1000 1200 -0,305
1000 1000 0
1200 1000 +0,44

Phase im Entwicklungszyklus

Δ Phase
-0,305 Aufblühen
0 Plateau bzw. Zenit
+0,44 Niedergang

Ist der Dekadenzquotient negativ, blüht die Kultur auf. Liegt er bei null, hat sie ihren Zenit erreicht. Dreht er ins Positive hat der Verfall begonnen.

Da das Verhältnis von Anspruchsniveau und eingebrachter Eigenleistung über das Schicksal einer Gesellschaft entscheidet, sind beide Faktoren genauer zu beschreiben.

4.1. Anspruchsniveau

Unter dem Anspruchsniveau ist die Summe aller von den Mitgliedern der Gesellschaft erhobenen Ansprüche dividiert durch die Anzahl der Einwohner zu verstehen. Ansprüche können in zwei Gruppen eingeteilt werden:

  1. Materielle Ansprüche
  2. Narzisstische Ansprüche

Adressaten narzisstischer Ansprüche

Bei den narzisstischen Ansprüchen ist eine weitere Zweiteilung sinnvoll. Narzisstische Ansprüche können an andere oder an sich selbst gerichtet werden. Richtet man sie an sich selbst, kann das Ansporn zu größeren Leistungen sein; oder sie führen im Falle des Scheiterns zu einem Minderwertigkeitsgefühl, das die Leistungsfähigkeit untergräbt.

Werden narzisstische Ansprüche an andere gerichtet, kann Analoges passieren: Der andere gibt sich mehr Mühe, um dem Anspruch, der an ihn gerichtet wird, zu genügen; oder er fühlt sich abgewertet und reagiert destruktiv.

Zu den materiellen Ansprüchen zählen Einkommen, gefordertes Konsumniveau sowie soziale und medizinische Versorgungsleistungen, einschließlich der Höhe der Altersbezüge.

Zu den narzisstischen Ansprüchen zählen Forderungen nach Wertschätzung, Bestätigung und Anerkennung durch andere oder sich selbst. Moralische Ansprüche können den narzisstischen zugeordnet werden, sobald das Bedürfnis, als guter Mensch zu gelten, im Vordergrund steht.

Ansprüche, die der Staat seinen Bürgern gegenüber erhebt, sind materieller, aber auch narzisstischer Natur. Zu den materiellen gehören Steuern sowie geldwerte Leistungen durch Aufbürdung bürokratischer Pflichten. Zu den narzisstischen gehören Gesetze und Verordnungen, die eher dem Genuß an der Machtausübung dienen, statt der Besorgung sachlicher Notwendigkeiten. Regierende regieren gerne; und Regierung ist der Erlass von Vorschriften.

Komplexität der Moral
Sich moralisch korrekt zu verhalten heißt, die Interessen anderer weder grob fahrlässig noch mutwillig zu missachten. Moralisch korrektes Verhalten kann gegenüber Mitmenschen, der Schöpfung oder einer hypothetischen Gottesperson angewendet werden. Moral als Regelwerk menschlichen Verhaltens ist quasi unverzichtbar.

Insofern könnte man davon ausgehen, dass die Berufung auf moralische Werte stets als Tugend einzustufen ist, die das egozentrische Eigeninteresse zugunsten anderer beschneidet. Tatsächlich sind die Dinge komplexer:

  1. In der eigenen sowie der Wahrnehmung anderer als guter Mensch zu gelten, ist ein Gewinn, der dem Ego durchaus zugutekommt; indem er das Selbstwertgefühl steigert und die soziale Akzeptanz erhöht.
  2. Wer unter Berufung auf moralische Werte handelt, schützt sich vor Kritik, da er, ungeachtet potenziell schädlicher Folgen, darauf verweisen kann, dass seine Motive trotz allem lauter waren.
  3. Sobald Moral nicht nur praktiziert, sondern von anderen eingefordert wird, wird eine interpersonelle Hierarchie postuliert, die die Ebenbürtigkeit der Adressaten in Frage stellt. Moral wird zu einem Dominanzanspruch, der als Werkzeug in politischen Machtkämpfen dient.

Menschen, die moralische Ansprüche erheben, sind die narzisstischen und soziodynamischen Komponenten ihres Verhaltens oft nicht bewusst. Sie glauben an eine feststehende Trennlinie zwischen Gut und Böse. In der Überzeugung, auf der einzig richtigen Seite zu stehen, weisen sie auch sachlich sinnvolle Infragestellungen unreflektiert oder empört zurück. Die Vorstellung, dass moralisch begründetes Verhalten grundsätzlich nur Positives bewirken kann, ist tief verwurzelt, aber falsch.

Fazit

Moralisch motivierte Taten, die ein Individuum auf eigene Kosten praktiziert, sind als Eigenleistungen aufzufassen, die der Gesellschaft zu Gute kommen. Moral, die von anderen gefordert wird, gehört zu den Ansprüchen, die dem Gemeinwohl eher schaden, weil der Anspruch an andere Asymmetrien schürt, die Konflikte begünstigen; und weil die Erfüllung jedweden Anspruchs eine Leistung erfordert, die energetisch erbracht werden muss. Erhebt jemand moralische Ansprüche an sein eigenes Verhalten, hängen Nutzen und Schaden davon ab, inwieweit er tatsächlich das Wohl der anderen im Auge hat oder den narzisstischen bzw. sozialen Gewinn, den ihm die Rolle als deklarierter Wohltäter einbringt.

Eine zunehmende Zahl von Subgruppen formiert sich und rückt ihre jeweilige Besonderheit in den Mittelpunkt ihrer Selbstdefinition. Von dort aus beansprucht sie exponierte Sichtbarkeit und eine selektiv positive Bewertung im öffentlichen Raum. Kaum noch eine Fernsehproduktion verzichtet darauf, mindestens eine Rolle in den Handlungsablauf einzubauen, die die Mitgliedschaft des Betreffenden in einer Minorität hervorhebt. Auch wenn das Ziel, die Toleranz gegenüber Minderheiten zu verbessern, an sich lobenswert ist, handelt es sich zugleich um einen Anspruch, der von anderen etwas fordert: Aufmerksamkeit und die Akzeptanz einer scheinbar beiläufigen Belehrung über das Gesellschaftsmodell, das als politisch korrekt zu empfinden ist.

Die forcierte Medienpräsenz subkultureller Minderheiten steht nicht für sich allein. Sie ist Teilaspekt eines umfassenden Zeitgeists, der die Inanspruchnahme exponierter Positionen ermutigt. Der Maßstab dessen, was Max und Martina Mustermann vom Leben erwarten, wird durch die mediale Omnipräsenz glänzender Vorbilder nach oben versetzt.

Mediale Vorbilder können durch technische Mittel so manipuliert werden, dass der davon induzierte Anspruch, ihnen gleichzukommen, in der Realität zwangsläufig scheitern muss. Folge ist die Vergeudung individueller Ressourcen durch Umleitung auf unerreichbare Ziele.

Von je her wünscht sich der Mensch, als ein besonderes Individuum bestätigt zu werden. Mehr als früher erlaubt und ermutigt der Zeitgeist es heute, den Anspruch offensiv vorzutragen. Bevor man sich auf eine definitive Partnerschaft oder Elternrolle einlässt, müssen Ausbildungskarrieren durchlaufen sein, man muss die Welt bereist, bemerkenswerte Sachen erlebt und Luxusgüter besessen haben, durch die man den Anspruch begründet, im Freundeskreis etwas zu gelten und einen Account in den sozialen Medien zu betreiben. Die narzisstischen Ansprüche des Einzelnen werden von einer Konsumgesellschaft, in der jeder als dumm gilt, der mit wenig zufrieden ist, nach oben geschraubt.

Ansprüche besonders tragischer Art sind die an quasi perfekte Eigenschaften potenzieller Partner. Digital lassen sich Oberflächen erzeugen, deren Qualität analog kaum zu erreichen ist. Auch das verzerrt Maßstäbe. Es führt nur allzu oft zu einem Anspruchsdenken, das statt im Erlebnis echter Beziehung in Einsamkeit endet.

4.2. Eingebrachte Eigenleistung

Eingebrachte Eigenleistungen sind das Gegengewicht zu erhobenen Ansprüchen. Zu den eingebrachten Eigenleistungen zählen:

  1. das Bruttosozialprodukt, also die Summe aller bezahlten Produkte und Dienstleistungen
  2. unbezahlte Arbeit, z.B. Kindererziehung, familiäre Alten- und Krankenpflege, Nachbarschaftshilfe, ehrenamtliche Leistungen, Leistungen durch Heimwerkertätigkeit
  3. ideelle Leistungen: selbstlos praktizierte Moral, solidarisches Verhalten, spirituell begründeter Verzicht, Kompromissbereitschaft

Das Verhältnis von Gesamtleistungen und Gesamtanspruch bestimmt die Position der Gesellschaft im Zyklus ihrer Entwicklung.

Mengendynamik gesellschaftlicher Eigenleistungen
Wie hoch sie auch immer sein mag: Zweifellos gibt es eine Obergrenze potenzieller Eigenleistungen, die die Mitglieder einer Gesellschaft maximal erbringen können. In der Praxis spielt sie außer im Katastrophenfall aber keine Rolle.

Die tatsächlich eingebrachte Menge an Leistungen, die zur Befriedigung von Ansprüchen verwendet werden kann, ist bei weitem geringer. Sie hängt von der Leistungsbereitschaft der Individuen ab. Diese ist ihrerseits an Ansprüche gekoppelt; zum einen an die eigenen, zum anderen an jene, die andere dem Leistungserbringer gegenüber erheben und als Tribut von ihm einfordern.

Steigt der Bedarf an Umverteilung, um auch die wachsenden Ansprüche derer zu erfüllen, die das aus eigener Kraft nicht tun, sinkt die Bereitschaft der Leistungserbringer. Die Schere zwischen Input und Entnahme öffnet sich. Ein Dekadenzprozess wird ausgelöst oder beschleunigt.

Vertrauen Leistungserbringer nicht mehr darauf, dass ihre Ansprüche einst im gleichen Umfang erfüllt werden, wie die Ansprüche jener, die aktuell bedürftig sind oder denen es gelingt, sich als bedürftig darzustellen, erheben sie ihrerseits zusätzliche Ansprüche: das Leben sofort zu genießen, statt den Anspruch darauf auf die lange Bank zu schieben. Die Gesamtansprüche der Gesellschaft wachsen. Die eingebrachte Leistung geht zurück. Die Abwärtsspirale gewinnt an Fahrt.

4.3. Substanzverzehr

Der Niedergang einer Gesellschaft ist äquivalent zum Verzehr ihrer eigenen Substanz. Die Substanz einer Gesellschaft besteht aus verschiedenen Aktiva:

Fehlende Alternative

Ein wesentlicher Faktor dekadenter Verfallsprozesse liegt im Mangel glaubhafter metaphysischer Erklärungsmodelle. Metaphysische Erklärungsmodelle erleichtern es dem Individuum, die Erfüllung anspruchsvoller Erwartungen in ein tatsächliches oder hypothetisches Jenseits zu verschieben. Der Druck, sich alles erdenklich Wertvolle innerhalb des Daseins anzueignen, lässt dadurch nach. Wer glaubt, dass jenseits der Welt Gutes auf ihn wartet, kann Ansprüche vertagen, mit denen er sonst das Leben überfordert.

Der biblischen Tradition ist es lange gelungen, Menschen zum Verzicht auf irdische Güter zu ermutigen. Das gelingt ihr immer weniger. Ursache ist ihr Dogmatismus, der sie dazu verurteilt, an metaphysischen Erklärungen festzuhalten, deren Sinn es ist, einen Machtanspruch zu rechtfertigen, der immer weniger Menschen glaubhaft erscheint.

Menschen, die sich ihrer selbst und der Wirklichkeit bewusst werden, klingen die antiken Erklärungsmuster wie Aberglaube in den Ohren; was sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch sind. Dem Gewinn, den die Erlösung des Geistes aus der tradierten Unmündigkeit bringt, steht jedoch die Aufgabe gegenüber, die Existenz in ein Erklärungsmodell einzubetten, das den Menschen davor schützt, sich ins blanke Diesseits zu verirren.

Der Machtanspruch des Glaubens, der sich an die Mär der Auserwähltheit klammert, ist es denn auch, der nicht nur zum Zerfall seiner Autorität führt, sondern mit dem Zerfall seiner Autorität auch noch zur Dekadenz der Gesellschaft beiträgt.

Die Aufgabe, eine Kulturtradition zu verankern, die Individuen ernst nimmt, statt den Anspruch zu erheben, in vermeintlich göttlichem Auftrag eine Herde in der Koppel zu halten, ist noch nicht erfüllt. Möge der Geist, der die Kirchen erreicht, so mutig sein, den Glauben an die Offenbarung als das zu erkennen, was er ist: eine Krücke, ein Irrtum und eine Anmaßung vergangener Zeiten.

5. Lösungsstrategien

Die erforderliche Maßnahme zur Verhinderung eines dekadenten Niedergangs besteht im Abgleich von Ansprüchen und eigenem Leistungseintrag. Zwei Maßnahmen sind möglich, um die Balance wiederherzustellen:

  1. Steigerung der ein gebrachten Eigenleistung

    Das Gros aller Eigenleistungen wird logischerweise von denen erbracht, die besonders leistungsfähig und leistungsbereit sind. Sinnvoll zur Förderung der Leistungsfähigkeit sind Ausbildungsmaßnahmen, die dazu befähigen, Eigenleistungen zu erbringen, die zur Sicherung des Wohlstands beitragen. Ein beträchtlicher Teil aller Studiengänge fällt nicht darunter; ebenso wenig kosmetische Maßnahmen der Arbeitsverwaltung, deren Zweck es ist, die Statistik zu schönen.

    Sobald die Umverteilung erbrachter Leistungen ein kritisches Maß übersteigt, geht die Leistungsbereitschaft zurück. Wer rackert und dabei zusieht, wie es sich andere gemütlich machen, gerät in kognitive Dissonanzen, deren Ausgang offen ist. Eine Verdoppelung des Steuerfreibetrags bei ausgleichender Anhebung der Mehrwertsteuer könnte die Leistungsbereitschaft steigern und die Nachhaltigkeit des Konsumverhaltens verbessern.

Nachhaltigkeit

Ein gesamtwirtschaftliches Grundkonzept, das dekadenten Verfallsprozessen entgegenwirkt, liegt in der Nachhaltigkeit. Eine konsequente Kreislaufwirtschaft zur Schonung sämtlicher Resourcen ist ebenso nützlich wie ein konsequenter Ausbau der erneuerbaren Energien. Ökologisch und außenpolitisch wäre eine vollständige Autarkie optimal, sodass nur die Energie in Anspruch genommen wird, die man aus eigener Kraft erzeugt.

  1. Beschränkung der Ansprüche auf das, was man sich nachhaltig leisten kann

    Mit Ansprüchen, die zum Substanzverzehr führen, kann man sich selbst oder andere belasten. Ansprüche sind Begehrlichkeiten. Eine der wichtigsten Eigenleistungen, die jeder Einzelne für sich selbst und für andere erbringen kann, ist die Kontrolle der eigenen Begehrlichkeit. Sobald der Zeitgeist ruft, Begehrlichkeit sei geil, kann man vertieft auf sein Inneres hören, von wo aus ganz andere Stimmen zu vernehmen sind.

    Was Ansprüche betrifft, die Gruppen an andere richten, ist der Staat am Zuge. Ein Staat, der dem Sog des Zerfalls entkommen will, darf nicht zum Gerichtsvollzieher der jeweils hungrigsten Lobby werden. Auch nicht seiner selbst! Die Erfüllung von Ansprüchen, die nur zu erfüllen sind, wenn man die Rechnung an seine Kinder schickt, ist Substanzverzehr in Reinformat.

Wer zur Erfüllung seiner Ansprüche nicht darauf angewiesen ist, sich in die Hand von Kräften zu begeben, über die er nicht bestimmen kann, verhindert den Verfall seines Selbstbestimmungspotenzials und bleibt auf Dauer in der Lage, auf Probleme selbstbestimmt zu reagieren.