Dynamik der Offenbarungsbehauptung


  1. Begriffsbestimmung
  2. Psychodynamische Aspekte
  3. Soziodynamische Folgen
Die Offenbarungstheologie ist einer der folgenreichsten Faktoren, die das sozio-kulturelle Klima Europas bis heute bestimmen. Da alle Irrtümer und Verleugnungen schädlich für die seelische Gesundheit sind, ist eine konsequente Abwendung von solchen Theologien erforderlich.

Die Offenbarungsbehauptung ist der theologische Ausgangspunkt einer jeden Glaubensgemeinschaft, die für sich in Anspruch nimmt, von Gott persönlich gestiftet zu sein. Sie besagt, die bestimmende Kraft des Universums beauftrage einzelne Personen, andere, in der Regel Völker oder die ganze Menschheit, in ihrem Sinne zu führen.

Entweder festigt die Behauptung eine bereits bestehende interpersonelle Asymmetrie oder sie erzeugt eine neue. Sie begründet eine vorgebliche Auftragsreligion mit dem Vorsatz, Gesellschaftsstrukturen hierarchisch festzulegen.

1. Begriffsbestimmung

Etwas zu offenbaren heißt, etwas bislang Verdecktes zu enthüllen und es dem Betrachter zu zeigen.

Das Verb offenbaren besteht aus zwei Teilen: offen und -bar.

Das Adjektiv offen gehört zur Wortgruppe von auf. Es ist mit oben und obere verwandt. Über die gemeinsamen indoeuropäischen Wurzeln up[o]- und uper[i]- besteht eine Verbindung zu über.

Die Nachsilbe -bar gehrt auf althochdeutsch beran = tragen, bringen zurück.

Offenbaren heißt also, einem Empfänger etwas von oben herab zu überbringen. Dabei kann es sich um Erkenntnisse handeln oder um Anweisungen, wie im Sinne der darlegenden Instanz weiter zu verfahren ist. Werden bloße Erkenntnisse offenbart, bleibt es dem Empfänger überlassen, sie zu deuten und im Weiteren so zu berücksichtigen, wie er es für richtig hält. Werden Aufträge erteilt, wird der Empfänger dem Willen des Senders untergeordnet. Wissen zu überbringen, macht frei. Anweisungen zu überbringen, engt ein.

Gefälle
Jeder ist in der Lage, etwas zu offenbaren.

Hier stehen Sender und Empfänger der Offenbarung im Grundsatz auf derselben Ebene. Sie sind einander ebenbürtig und befugt, ein gleichberechtigtes Verhältnis anzustreben. Zwar sind Leonie und Fabian durch ihr bis dahin verborgenes Wissen Daniel und Leni überlegen, die Asymmetrie wird durch die Offenlegung des Wissens aber ausgeglichen.

Anders sieht es aus, wenn der Absender der Offenbarung auf einer transzendenten Ebene verortet wird, die das irdische Dasein kategorisch überragt. Sender und Empfänger bleiben dann in einem hierarchischen Verhältnis. Eine Gleichberechtigung ist nicht vorgesehen. Der Empfänger ist gehorsamspflichtig.

Interpretationen

In der Meditation - und nicht nur dort - können sich vertiefte Einsichten öffnen, die als Offenbarung empfunden werden. Dann hängt es vom Weltbild des Betrachters ab, ob er diesen Einsichten einen transzendenten Absender zuordnet oder ob er sie als Erweiterungen jenes Geistes auffasst, der ihn selbst ausmacht.

Die erste Variante ist dualistisch, weil sie Absender und Empfänger der Erkenntnis als separate Einheiten vorstellt. Bei der zweiten Variante bleibt offen, ob Geist überhaupt als separate Einheit existiert, die irgendwo an eine Grenze stößt, hinter der sich ein zweiter Geist befindet, der mit dem ersten nicht identisch ist.

2. Psychodynamische Aspekte

Von je her ist der Einzelne widrigen Kräften ausgeliefert, durch deren Wirken schwerer Schaden droht. Das Problem beginnt mit der Geburt und durchzieht das ganze Leben. Das Kind reagiert darauf mit zweierlei:

  1. Es hält nach Beschützern Ausschau.
  2. Es versucht, in den Augen der Beschützer als schützenswert zu gelten.

Um diese Ziele zu erreichen...

Gelingt es ihm, das Wohlwollen der Beschützer zu erlangen, senkt das seine Lebensangst und steigert zugleich sein Selbstwertgefühl. Wer von oben als wertvoll, und damit als etwas Besonderes, bestätigt wird, wird von unten nach oben angehoben.

Es ist klar, dass Kinder nach potenziellen Beschützern nicht lange suchen müssen. Auch wenn sie die Rolle oft schlecht erfüllen und manchmal gar nicht, fällt sie den Eltern des Kindes zu. Wird das Kind erwachsen und aus der Obhut der Eltern entlassen, sind widrige Kräfte nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Oft kommt es noch schlimmer. Was liegt also näher, als weiter nach Beschützern zu suchen? Das können mächtige Menschen sein oder die personifizierte Allmacht des Guten im Himmel.

Was moralisch gut ist, erkennt man intuitiv, sobald man sich die Frage ernsthaft stellt.

An das Gute im Himmel zu glauben, das seine schützende Hand über jeden hält, der gute Taten vollbringt, macht Sinn und steht jedem offen, ohne dass er zugleich glauben müsste, er bedürfe eines Propheten, der ihm mitteilt, welche Taten im Konkreten zu erbringen sind.

Der Hunger nach Anerkennung mancher Menschen geht jedoch soweit, dass sie nicht nur glauben, eines Propheten zu bedürfen, sondern selbst einer zu sein. Gelingt es Ihnen, Gläubige zu finden, glaubt die, dank ihres Glaubens werde ein Funke der prophetischen Besonderheit auf sie ausgestreut. So entwickelt sich im Gefolge der Propheten eine Gemeinschaft, die ihre Lebensangst über den bloßen Glauben an das Gute hinaus durch eine narzisstische Selbsterhöhung zu beseitigen versucht.

Aufmerksamkeit zu bekommen - noch dazu durch eine Allmacht - ist ein mächtiges Mittel, um das Selbstwertgefühl zu erhöhen; denn, wer Aufmerksamkeit bekommt, ist bemerkenswert.

3. Soziodynamische Folgen

Wissen ist Macht. Wer etwas weiß, was ein anderer nicht weiß, ist ihm überlegen, weil er allein das Wissen für seine Zwecke verwenden kann. Wird das Wissen auf den anderen übertragen, gleicht sich die Asymmetrie aus. Die Beteiligten kommunizieren auf gleicher Ebene.

Wird jedoch nicht Wissen offengelegt, sondern die Absicht des Überbringers, den Empfänger mit der Ausführung von Anweisungen zu beauftragen, wird die Asymmetrie nicht ausgeglichen, sondern genutzt, um über den Schwächeren Macht auszuüben.

Im Rahmen der Offenbarungsreligionen geben einzelne Personen vor, ihrerseits zwar der Macht Gottes zu unterstehen, andererseits vom selben Gott jedoch in eine auserwählte Position erhöht zu werden und damit beauftragt, von dort aus Macht über andere auszuüben. Da im Menschen das Bedürfnis angelegt ist, über sich selbst zu bestimmen, entsteht durch den Machtanspruch ein interpersoneller Konflikt. Er kann auf zweierlei Art gelöst werden:

Das Schamgefühl tut weniger weh, wenn sich jeder zu schämen hat.

Beide Lösungsstrategien fördern Gewalt und Unterdrückung. Wehrt sich der Angegriffene, kommt es zur direkten Gewaltausübung. Unterwirft er sich, ist der Konflikt nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Wer das eigene Selbstbestimmungsbedürfnis unterdrückt, lehnt zum Ausgleich seiner Demütigung auch die Freiheit anderer ab. Er neigt selbst dazu, andere zu unterwerfen; oft seinerseits mit Gewalt.

So führt jede Behauptung, von Gott zur Machtausübung beauftragt zu sein, sobald sie von anderen geglaubt wird, zu Spaltungen innerhalb der Gesellschaft. Jeder Prophet setzt durch seinen Anspruch eine Kette gewalttätiger Konflikte in Gang, die sich solange fortsetzt, bis ihm niemand mehr folgt. Das kann Jahrtausende dauern oder niemals zu Ende gehen; besonders dort, wo Anhänger verschiedener Propheten aufeinandertreffen.

Glaube ist keineswegs immer nur Tugend. Beim Totschlag ist der Glaube, ihn im Auftrag Gottes zu begehen, ein wirksames Mittel, um ein schlechtes Gewissens zu entkräften.