Existenz an sich erzeugt ein Unbehagen, dem eine Sehnsucht nach endgültigem Heil entspringt. Das Unbehagen zeigt sich als chronisch wiederkehrende Unzufriedenheit mit dem, was man ist und hat. Süchtig im eigentlichen Sinne des Wortes wird die Sehnsucht, wenn sie die Unzufriedenheit mit falschen Inhalten zu stillen versucht und damit das Dasein beschädigt.
Der Begriff Sehnsucht setzt sich aus zwei Teilen zusammen:
Das Verb sehnen im Sinne eines schmerzlichen Begehrens, Verlangens und Vermissens geht auf das mittelhochdeutsche senen = sich härmen, liebend verlangen zurück. Von dort aus verliert sich die etymologische Spur in der althochdeutschen Zeit. Immerhin bietet das mittelhochdeutsche Verb härmen tiefere Einblicke in das Wesen der Sehnsucht.
Härmen geht auf indogermanisch kormo-s = Qual, Schmach, Schande zurück. Es ist mit persisch šarm (شرم) = Scham verwandt. Sich härmen hieß mittelhochdeutsch sich plagen, sich quälen. Der Sehnsüchtige müht sich damit ab, seine Sehnsucht zum Schweigen zu bringen. So gerät das bloße Sehnen zu einer Plage und im schlimmsten Fall zu einer Qual.
Der Sinnzusammenhang zwischen Sehnsucht und Scham ist darin erkennbar, dass sich der Sehnsüchtige als defizitär empfindet, fehlt ihm doch das Ersehnte derart schmerzlich, dass er sich selbst nicht genügt und er sein Dasein als bitteren Mangel erlebt.
Harmlos wäre das Sehnen, könnte es keinen Schaden anrichten. Das Wort Sucht verweist jedoch darauf, dass dem oft nicht so ist. Sucht geht nicht auf suchen, sondern auf siechen zurück. So mag es zwar sein, dass der Sehnsüchtige ständig nach dem Ersehnten sucht, er wäre aber nicht sehnsüchtig, wenn er das nicht an der falschen Stelle täte. Zu suchen, wo das Vermisste unauffindbar ist, ist auf Dauer eine Qual, die den Suchenden dahinsiechen lässt.
Indem der Sehnsüchtige das Objekt seiner Sehnsucht vermisst, misslingt es ihm, sein Leben ohne Wenn und Aber wertzuschätzen. Vermissen entspringt der indogermanischen Wurzel *meit[h] = wechseln, tauschen. Aus dieser Wurzel ist sowohl das Verb missen als auch die Vorsilbe miss- hervorgegangen. Beide kündigen an, dass etwas nicht stimmt, weil etwas verwechselt, vertauscht, vergessen oder unrechtmäßig weggelassen wurde. Durch das Vertauschen des Richtigen und des Falschen ist ein Missstand entstanden. Der Sehnsüchtige wähnt, sein eigentliches Leben zu verfehlen. Er glaubt, sein Schicksal sei verkehrt.
Die Quelle der Sehnsucht ist leicht zu erraten: Es ist die Existenz an sich. Was existiert, stößt auf Grenzen. Zu existieren heißt hinauszuragen. Hinauszuragen heißt, als Teil eines Feldes Widrigkeiten ausgesetzt zu sein, denen man letztendlich erliegen wird. Das ist schwer zu ertragen und führt zu einem seelischen Unfrieden, der leicht zur Sucht entgleist, sich nach etwas zu sehnen, was den Unfrieden befrieden könnte.
Existenz ist das Schicksal eines jeden Teiles. Das Unbehagen, das Existenz an sich begleitet, ist Ursprung der primären Sehnsucht, sich zu etwas zu ergänzen, das nicht nur vorübergehend existiert, sondern vollständig es selbst ist.
Wir sehen hier die Doppelnatur des Begriffs Sehnsucht.
Das Unbehagen an der Existenz ist kein Merkmal bestimmter Personen, sondern der Tatsache, überhaupt Person zu sein. Es ist ein Daseinsschmerz, der jeden angeht, der da ist. Es wird keinesfalls ständig erlebt, liegt aber als Potenzial ständig bereit. Läuft das Leben einer Person so richtig gut, kann es über längere Zeit aus dem Blickfeld verschwinden. Erst wenn die Glückssträhne zu flackern beginnt, tritt es wie der Igel in der Geschichte von Hase und Igel wieder zutage. Der Hase war voller Zuversicht, dass er dem lästigen Igel für immer entkommt. Aber ach! Am Ende des guten Laufs wird das Unbehagen an der Existenz als unspezifische Unzufriedenheit, Minderwertigkeitsgefühl und Selbstwertzweifel wieder bewusst. Ein blinder Durst verlangt wie ein Fass ohne Boden nach neuem Inhalt.
Obwohl das Unbehagen an der Existenz nicht nur bestimmten Personen anhaftet, sondern allen, wird es je nach Temperament und biographischer Prägung unterschiedlich erlebt; sowohl in Qualität als auch in Quantität.
Oben hieß es: sich nach etwas zu sehnen, was die Sehnsucht erfüllen könnte. Das Leiden des Teils an seiner Halbheit ist jeder Halbheit immanent. Teile, die ihrer selbst bewusst sind, spüren es; und sind stets darum bemüht, das Loch, das in ihrem Wesen klafft, zu schließen.
Taṇhā hat im Buddhismus eine eindeutig negative Konnotation. Taṇhā gilt ihm als rein hinderlicher Drang, der die Befreiung des Geistes aus den Grenzen des egozentrischen Horizonts verhindert. Laut buddhistischer Lehre lenkt dieser Drang nur ab.
Es ist allerdings zu fragen, ob Taṇhā nicht aus derselben Quelle stammt, wie die Sehnsucht des Teils, seiner Halbheit zu entkommen; um sich als Ganzgewordenes aus dem Leiden an der Halbheit zu entbinden. Das Sehnen ist dann nicht das Übel, sondern die Verblendung, die das Ersehnte an der falschen Stelle sucht.
Die richtige Stelle gibt es nur einmal. Falsche Stellen gibt es viele. Die einzige Stelle, die geeignet sein kann, um die ursprüngliche Sehnsucht zu erfüllen, ist eine Ganzheit, die es nur einmal gibt. An falscher Stelle sucht der Teil, wenn er glaubt, sich durch andere Teile vollständig ergänzen zu können. Erstellen wir also eine Liste von Teilen, durch deren Vereinnahmung niemals eine vollständige Ergänzung und kein Erlöschen des existenziellen Verlangens zu erwarten ist.
Vermögenswerte
Geld ist abstrahiertes Brot. Mit anderen Worten: Mit den immer gleichen Münzen kann man alle möglichen Lebensmittel kaufen. Was mit Lebensmitteln geht, geht mit dem Ozean materieller Güter, die man mit Geld erwerben könnte, ebenfalls. Da Hunger ein fundamentales Motiv des Lebens ist, liegt es nahe, so viele Münzen wie möglich anzusammeln, um gegen zukünftige Verknappungen gewappnet zu sein. Obwohl ein Polster das Leben bequemer macht, wächst der Nutzwert aber nicht analog zur Beschichtung. Millionäre kennen das: Die erste Million reicht nicht um immer ruhig zu schlafen. Die Hundertste ebenso wenig.
Gebrauchsgegenstände
Während sich der Appetit abstrakt veranlagter Personen an der schieren Summe ihres Vermögens delektiert, ist für konkreter Begabte weder Zahl noch Münze so attraktiv, als dass man sie nicht zum Ankauf handfester Waren und Dienstleistungen ausgeben sollte. Statt gefüllter Konten bevorzugen sie gefüllte Kleiderschränke und auch das neueste Gadget der Elektroindustrie hat das Zeug, sie eine Zeitlang zu glücklichen Besitzern zu machen. Die Sehnsucht nach Ergänzung kann sich in einer Kaufsucht niederschlagen.
Kinder
Kinder gelten als das höchste Gut, das einer liebevollen Partnerschaft entspringen kann. Dementsprechend wähnen sich werdende Eltern nicht selten im siebten Himmel, sobald die Sonographie Nachwuchs verheißt. Doch Hand aufs Herz: Egal wie goldig die Blagen auch sind, die Hoffnung auf reines Elternglück verpufft meist vor der 37sten Nacht, in der die Ansprüche des Kindes an den Kräften der Eltern nagen.
Anerkennung
Wie gut es doch gut, bestätigt zu werden! Das kann unmittelbar durch Menschen geschehen, denen man persönlich begegnet, aber auch durch die Gewissheit, etwas geleistet zu haben, für dessen Wert wildfremde Leute Interesse bekunden. Ein Maler aus Bottrop, der weiß, dass seine Werke in einer Potsdamer Ausstellung zu sehen sind, wird dadurch ermutigt, die nächsten Bilder zu schaffen.
Informationen
Wissen ist Macht und Macht beruhigt die Nerven. Sich Wissen anzueignen, das konkreten Zwecken dient oder dessen Erwerb tatsächlich Freude macht, ist ein gutes Mittel, um das Unbehagen an der Existenz, zwar nicht endgültig, aber wirksam auszugleichen. Wie beim Essen, ist auch beim Informationshunger Junk von Vollwert zu unterscheiden. Dagegen wird auf breiter Front verstoßen. Unzählige Medienformate bieten Informationen an, deren Nährwert gegen Null tendiert und die obendrein den Verdauungstrakt überlasten. Trotzdem werden solche Informationen konsumiert wie frisch geschnitten' Brot. Warum? Weil auch das Verschlingen von Informationsmüll Resultat einer fehlgeleiteten Sehnsucht sein kann, dem Unbehagen am eigenen Dasein durch Oralität zu entkommen.
Anspannung, Angst, Bedrückung und Selbstwertzweifel sind Ausdrucksformen jenes Unbehagens an der Existenz, die jedem Teil, das seine Trennung vom Ganzen als Kern seines Wesens wahrnimmt, mitgegeben ist.
Dem Unbehagen an der Existenz kann auf dreierlei Art begegnet werden:
Die existenzielle Sehnsucht, die jedem personalen Dasein als Mitgift mit auf den Weg gegeben ist, lässt sich durch keines der Güter, die die obige Liste enthält, endgültig befrieden. Das heißt nicht, dass der Erwerb entsprechender Güter sinnlos wäre. Im Gegenteil: Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach.
Allerdings ist es ratsam, bei der Jagd auf Spatzen nicht dem Irrtum zu verfallen, zehn Spatzen oder hundert könnten die entrückte Taube tatsächlich ersetzen.
Merkwürdige Mathematik
1 ist in der Liebe oft 0,8.
3x1 sind aber nicht 2,4.
Oft sind es nur 0,5.
Fazit:
| Verdächtige Signale | |
| Kurz nach dem Abendessen gehen Sie zum Kühlschrank. | Sie kaufen ohne echten Bedarf. |
| Sie horten mehr Geld als Sie im Rest des Lebens sinnvoll verbrauchen könnten. | Sie wechseln ihre Partner wie andere ihre Wintermäntel. |
| Sie haben so viele Freunde, dass die Kontaktpflege in Stress ausartet. | Um Anerkennung zu bekommen, bezahlen Sie fast jeden Preis. |
| Jedes Quäntchen Langeweile ersetzen Sie durch Medienkonsum. | Aus dem gelegentlichen Gläschen werden regelmäßig drei. |
Man kann das Unbehagen an der personalen Existenz als lästigen Abfall betrachten, als eine Art Produktionsrückstand, der im Gewebe der Person zurückbleibt, nachdem sie erschaffen wurde und für den die Wirklichkeit kein Endlager gefunden hat, wohin er per Gefahrentransport entsorgt werden könnte.
Viele Menschen ordnen das Unbehagen aber anders ein. Sie sehen es als Ansporn, nach Höherem zu trachten. Sie richten ihre Sehnsucht auf ein transzendentes Reich, in dem sie jenseits abgeteilter Gegenstände doch noch in Erfüllung gehen könnte.
Oben hieß es, es gebe nur eine Stelle, an der die Sehnsucht gestillt werden könnte. Wenn dem so ist, liegt sie im Innersten der Person, die an ihrer Ausgesetztheit im Äußeren leidet. Um dorthin zu schauen hilft Meditation.
Spirituelle Traditionen beschreiben Methoden, durch deren Hilfe man ins Innerste des eigenen Wesens vordringen kann. Da das ein weiter Weg zu sein scheint, dessen endgültiges Ziel nur schwer zu erreichen ist, bleibt es uns normalen Menschen nicht erspart, einstweilen mit ungestillter Sehnsucht zu leben. Am besten, man betrachtet den Mangel nicht als lästiges Übel, sondern begrüßt ihn als Platzhalter einer Möglichkeit, die eine lichte Zukunft offenhält. Als es den Teil aus sich entließ, hat das Ganze ihm versprochen, dass es sich mit ihm vereinen wird.