Geduld setzt sich aus der Vorsilbe ge- und dem Verb dulden zusammen. Die Vorsilbe benennt eine Versammlung. Dulden geht auf das althochdeutsche dolēn zurück. Leicht herauszuhören ist die Verwandtschaft des deutschen Verbs mit dem englischen to thole = leiden, dem schwedischen tåla = ertragen und dem gleichbedeutenden lateinischen Verb tolerare. Alle vier gehen auf die indogermanische Wurzel tel[ᵊ] = aufheben, wägen, tragen, dulden zurück. Geduld ist die umfassende Bereitschaft, Umstände anzunehmen, die als Last empfunden werden.
Jan ist eher von der stillen Sorte. Wenn forsche Leute auf der Party den Vordergrund füllen, versinkt er in einem Schweigen, das ihm unbehaglich ist. Nachdem er mehrfach die gleiche Erfahrung gemacht hat, bleibt er meist zuhause. Am PC wählt er Spiele, bei denen er sich durch mutige Entscheidungen nach oben levelt. An Erfolge im analogen Leben glaubt er kaum.
Jana ist keine Partylöwin. In Gegenwart anderer hört sie auch dann geduldig zu, wenn sie das Thema nicht interessiert. Allein zu hause abzuhängen, ist aber keine Alternative. Sie beschließt, schrittweise selbstbestimmter aufzutreten und im Kontakt mit anderen öfter die Initiative zu ergreifen.
Der Mensch lebt in der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist ein ambivalentes Erfahrungsfeld, das dem Individuum einerseits die Gelegenheit bietet, sich darin zu entfalten, das ihm andererseits aber Widrigkeiten entgegensetzt. Widrigkeiten kann man entweder beseitigen oder man kann es nicht. Kann man Widrigkeiten nicht oder noch nicht beseitigen, entstehen unangenehme Gefühlsqualitäten, die einen Leidenszustand begründen: Angst, Wut, Hass, Neid, Gier, Scham, Schuld oder Trauer. Oft sind es diffuse Mischungen verschiedener Qualitäten. Ohne dass unangenehme Gefühle oder Stimmungen im Bewusstsein auftauchten, gäbe es nichts zu erdulden.
Die vier genannten Bedeutungen der indogermanischen Wurzel tel[ᵊ] beleuchten unterschiedliche Aspekte der Geduld:
Zunächst mag Geduld nur eine Folge der Tatsache sein, dass man einen Missstand nicht beseitigen kann und man ihn in der Folge zu ertragen hat. Man hält das Übel in der Hoffnung aus, dass es irgendwann vorübergehen wird. Hätte man ein Mittel, das Übel zu beseitigen, würde man es anwenden. Etwas zu ertragen, ist reine Passivität.
Mehr Weitsicht als ein bloßes Ertragen beinhaltet die Duldung. Etwas zu dulden ist ein freier Beschluss. Wer etwas duldet, könnte das Geduldete beseitigen. Er tut es aber nicht. Er tut es nicht, weil er durch das Geduldete momentan zwar Nachteile erfährt, er aber davon ausgeht, dass die Duldung des momentan Nachteiligen langfristig Vorteile bringt.
Bevor man etwas trägt, hebt man es auf. Was man aufhebt und in der Folge mit sich trägt, lässt man nicht zurück. Man gibt es nicht für ein momentanes Wohlgefühl preis. Man bewahrt die Möglichkeit, die im Getragenen enthalten ist. Man kann sie später für sich nutzen.
Es gibt Menschen, die Geduld üben, solche, die resignieren und solche die ungeduldig auf sofortige Behebung misslicher Umstände drängen. Sie üben verschiedene psychologische Abwehrmechanismen aus.
... setzt reife Abwehrmechanismen ein. Er antizipiert zukünftige Entwicklungen und setzt pragmatische Strategien ein, um erwünschte Veränderungen zu bewirken. Oder er sublimiert, das heißt, er verändert seine Sicht auf die Welt dahingehend, dass der aktuell erlebte Missstand seine Bedeutung verliert und Wesentlicheres in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt.
... setzt auf Aktionismus. Das heißt, er greift voreilig in die Wirklichkeit ein, ohne sich vorher zu versichern, dass seine Eingriffe effektiv sind und ihre Nebenwirkungen nicht neue Probleme schaffen.
... vertraut nicht auf die eigenen Kräfte oder ist zu bequem dazu, sie einzusetzen. Lieber als nach Lösungen zu suchen, verdrängt er unliebsame Gefühle und Stimmungen durch betäubende Mittel, entlastet sich durch projektive Schuldzuweisungen oder stellt seine Progression im Leben ein, um Herausforderungen aus dem Weg zu gehen.