Der Kontakt

Innen und außen... ...und die zwei grundsätzlichen Formen der Kontaktstörung


1. Suche nach Innen und Außen

Schon das Wort "Formen" in der Überschrift dieses Kapitels suggeriert einen Zwang, von dem ich mich - Gott sei's gedankt! - bereits in der Einleitung durch den Verzicht auf eine Systematik losgesagt habe. Jetzt sind die Früchte des Verzichtes vollends reif zur Ernte. Das Wort "Formen" bringt nämlich sofort Linné und die beschreibende Biologie ins Gedächtnis, die sich bei der haarfeinen Klassifikation der Lebewesen hervortaten und man könnte nun versucht sein, Linné auf dem Gebiet der Kontaktstörungen und der Fleißarbeit nachzueifern.

Auch die Formen der Kontaktstörungen kann man in zwei große Gruppen, quasi die der Wirbellosen und die der Vertebraten unterteilen und diese könnte man dann - wenn man es nicht bei der Beschreibung der zwei Grundformen bewenden ließe - in Gattungen, Arten und individuelle Spezialitäten aufschlüsseln. So wichtig die detaillierte Klassifikation psychopathologischer Muster nun auch sein mag, so liegt darin jedoch eine gewisse Mühseligkeit, die die Freiheit des Denkens in derart geordnete Bahnen lenkt, dass es dem Gehirn die Freude am Denken womöglich vergällt. So verzichte ich nur allzu gern auf den Versuch, in Konkurrenz zu den bestehenden Systemen der psychopathologischen Typologie ein neues zu erstellen. Systematisieren kann man Erkenntnisse auch nur, wenn man sie von oben überblickt und überblickt man sie, dann sind sie bereits bekannt und Abenteuer keine mehr zu erwarten.

So macht es entschieden mehr Spaß, ein unentdecktes Land durch Forschungsreisen zu erkunden, als ein bereits entdecktes systematisch zu besiedeln. Und es erscheint der Neugier vielversprechender, die grundsätzliche Aufteilung in Wirbellose und Vertebraten zu verstehen, als sich mit der Klassifikation sekundärer Unterschiede abzuplagen. Deshalb wird hier eine Vertiefung des Themas bevorzugt, die einzelne Aspekte in freier Willkür auswählt und andere ebenso sorglos vergisst, die jedoch das eine Ziel - den Kilimandscharo und die Quellen des Nils mit eigenen Augen zu sehen - niemals aus dem Blick verliert.

"Berg" und "Quelle" stehen hier als die Symbole eines fernen Zieles. Betrachtet man die hunderttausend Spielarten der Natur und verfolgt man ihren Werdegang rückwärts in den Abgrund der Evolution, dann stellt man fest, dass all die Vielfalt durch immer neue Aufspaltungen der Merkmale entstand und folglich auf eine ursprünglich erste Polarität rückführbar sein muss. Auch die "Wirbellosen" und die "Vertebraten" sind Metaphern für dasselbe ferne Ziel. Tatsächlich wird nach jener ursprünglichen Wahl gesucht, die das Kontaktverhalten des Menschen in zwei erste Möglichkeiten spaltet und die daher allen übrigen Aufteilungen zugrunde liegt.

Wenn hier vom "unentdeckten Land" die Rede ist, dann kann das falsche Hoffnungen wecken. So unentdeckt wie es Afrika für die Europäer vor ein paar hundert Jahren war, ist die gemeinte Weggabelung am Ursprung des menschlichen Kontaktverhaltens weiß Gott nicht mehr. Afrika kann man kein zweites Mal entdecken. Was man aber kann, ist zu versuchen, es tiefer zu verstehen, als man das bisher tat.

Im Ansatz dazu wird eine Reihe schon skizzierter Bilder aufgegriffen und auf verborgene Wegweiser untersucht, die den Wanderer in die Richtung der primären Gegensätze schicken. Indem man den Wegweisern ins Landesinnere folgt, indem man Nomaden in der Wüste nach Brunnen befragt und sich im Gral vom Zauberer die Zukunft lesen lässt, wird man sich Schritt für Schritt dem gesuchten Ziele nähern.

1.1. Substanz, Struktur, System und Subjekt

Die Psyche wird in diesem Buch als der virtuelle Binnenraum der Funktionskybernetik lebender Organismen definiert. Obwohl weiter oben postuliert wurde, dass der Substanz im allgemeinen bereits eine psychische Innenseite zuzusprechen ist, entsteht kein Widerspruch, wenn "die Psyche" hier als Binnenraum lebender Organismen bezeichnet wird. Es ist nämlich so, dass der unstrukturierten Substanz das Psychische bloß beigeworfen ist - so wie das Salz der Suppe - und die psychische Komponente der Materie somit nur durch ein Adjektiv (lat. ad-iacere = hinzu-werfen) benannt werden kann, während sie sich im lebenden Organismus zu einem konkreten Subjekt verdichtet, das auf dem Boden der materiellen Substanz einen neuen, virtuellen Zeit-Raum bildet, der sich dann selbst mit dem Substantiv "Psyche" benennt.

Die Bedeutung des Subjektes in der Substanz wächst mit dem Organisationsgrad des Organismus, sodass man fragen kann, ob den transpersonalen Steuerungskräften von Gemeinschaften eine unbewusste Subjektivität inneliegt, die ab einer kritischen Schwelle der Komplexität sozialer Vernetzung zum Erwachen einer transpersonalen Bewusstheit führt. Zu fragen ist sogar, ob die Eigendynamik technischer Entwicklungen nicht als Folge einer unbewussten Subjektivität menschlicher Konstrukte gedeutet werden darf, die um so stärker wirkt, je mehr sich durch die internen Bezogenheiten der materiellen Komponenten deren psychische Adjektivität konkretisiert (lat.: concrescere = zusammenwachsen).

Obwohl Organismen keine hermetische Grenze zur Umwelt haben - und mit einer solchen auch kläglich untergingen - sind sie trotzdem vollständige Gestalten; wenn auch stehende Gestalten in einem flüchtigen Fluß. Parallel zum Bestand ihrer Struktur in materialisierter Form existiert ein System von physiologischen Regeln, das sowohl den leiblichen Binnenraum als auch den übergreifenden Kontakt zur Umwelt sinnvoll steuert. Dieses abgestimmte System der organismischen Existenzmodulation ist ebenso wie die materielle Struktur, deren Fortbestand sie begleitet, eine geordnete Gestalt, sodass ihm ein ganzheitlicher Aspekt zukommt, und man es nicht nur als ein Konglomerat von Naturgesetzen auffassen kann. Kurz und gut: Die Psyche ist eine Entität und nicht nur eine Summe. Im Unterschied zu einer Summe, "in" deren Zwischenräume das Außen ungehindert dringen kann, ohne eine Spur zu hinterlassen, bedarf das Wesen der Entität einer Grenze, die zwischen dem Innen und dem Außen ausdrücklich unterscheidet.

Durch die Begriffe "Substanz" → "Struktur" → "System" und → "Subjekt" rollt die Pulswelle eines kosmischen Rhythmus, der durch die Aufspaltung in das "Innen" und das "Außen" aus der schlafenden Eins eine Vielfalt schafft, die sich selbst an tausend Grenzen begegnet und die in der Begegnung ihre Widersprüche in eine neue Ganzheit gießt, die als verwundertes Subjekt erwacht. Durch die Erschaffung des Subjekts zählt der Kosmos bis "zwei" und weil er bis "zwei" zählt, strukturiert sich der Innenraum des Subjekts in lauter duale Polaritäten.

Postuliert man, dass die Psyche erst eine bewusste und subjektive Einheit wird, indem sie die verschiedenen Aspekte, die sie von der Welt erkennt, zu einer organisierten Struktur verbindet, dann erkennt man auch, dass eine wesentliche Form der Störung des Kontaktes darin liegt, Offensichtliches geflissentlich zu übersehen. Das Bewusstsein entscheidet als Pförtner seiner selbst, was von außen nach innen und was von innen nach außen seine Grenze passieren darf. Indem es dies im Kontakt zur Umwelt entscheidet, bestimmt das Bewusstsein darüber mit, wer es ist und wer es einmal sein wird.

1.2. Die Spannung im Stoff und die Verstimmung des Hologrammes

Eine klare Trennlinie zwischen der materiellen Struktur und den psychischen Phänomenen ist nicht erkennbar. Die biochemische Physiologie im komplexen Organismus und der jeweils aktualisierte affektiv-kognitive Modus der Psyche stehen in ganzheitlicher Resonanz. Das Bewusstsein ist ein raumzeitliches Interferenzmuster vibrierender Kognitionen, die im korpuskulären Aspekt der Materie Halt finden, und das in den Wellencharakter der Materie nahtlos einfließt. So befindet sich die Singularität des bewussten Subjektes gegenüber und außerhalb der Korpuskularität des Stoffes, während beider Feldcharakter fließend ineinander übergehen. Das Subjekt ist damit in- und außerhalb des Stoffes und es braucht die Geborgenheit des Innen ebenso wie die Freiheit des Draußen. Das Interferenzmuster bildet in sich Hologramme komplexerer Ganzheiten, deren Eigenfrequenz auf ihren Ursprung so zurückwirkt, dass dadurch tertiäre und quartäre Schwingungen einsetzen, die das System in eine Lawine verwandeln.

Hunger entsteht durch ein selektives chemisches Defizit innerhalb der materiellen Komplexität. Da die Komplexität sich unter Energieverbrauch aufrechterhält und nur so verhindern kann, dass sie von der entropischen Basisströmung der Physik mitgerissen wird, ist sie auf die Zufuhr von Frühstücksbrötchen, Pfannkuchen und Sahnesoßen angewiesen. Mangelt es im System an Energieträgern, entsteht ein Spannungszustand, der einer affektiv besetzten Binnenwahrnehmung mit kognitiver Begleitassoziation entspricht. Die Schwingung des Hologramms tönt hungrig und hohl.

Die Katze, die den Tag im Schatten des Oleanderbuschs verdöst hat, fühlt sich langsam unbehaglich. Sie denkt an die Touristen, deren Fütterungstrieb sie beim abendlichen Verzehr von Calamares frittas und Chuletas al griglio durch einfaches Herumscharwenzeln um die Tische des Ristorante aktivieren kann. Bei Salvatore angekommen, miaut sie so herzerweichend in reinstem Portignol, dass den Touristinnen unterm gebräunten Dekolleté die Milch einschießt. Hunger, so kann man jetzt einwenden, ist ein Phänomen, das das Primat der Materie über den Geist belegt. Denn zuerst komme das chemische Defizit und dann erst das nagende Gefühl gefolgt vom Essverhalten. Betrachtet man aber die Legionen der Übergewichtigen, der Fettsüchtigen und Vollschlanken, dann zweifelt man, ob deren Eßverhalten tatsächlich durch einen Mangel an Substraten verursacht wird, oder ob nicht seelische Defizite ganz anderer Art am Werke sind, die dem Körper ein Hungergefühl induzieren, das sich ureigentlich nicht nach chemischen Substraten sehnt. Unklarer Geist kann Materie in die Irre führen.

1.3. Angst, Wut und Adrenalin

Bei Angst und Wut wird noch deutlicher, dass vom Körper zur Psyche keine Einbahnstraße führt. Tauchte vor der Höhle des Neandertalers das drohende Haupt eines Theraptosaurus ferox auf, stimulierte die plötzliche Ankunft des Bildes im Sehzentrum des Menschen die Hirnanhangsdrüse zu hektischer Aktivität. Über eine Kaskade ausgeschiedener Botenstoffe wurden periphere Drüsen angewiesen, im ganzen System Alarm zu schlagen und zwar umso mehr, je mehr der Mensch bis dahin dachte, dass es die Dinosaurier seit Ewigkeiten nicht mehr gab. Die biochemischen Veränderungen und die Angst oder Wut im Bewusstsein jedenfalls, waren damals - und sind es auch heute noch - als einheitliches Phänomen aufzufassen, in dem sich die verschiedenen Dimensionen der Komplexität im Kontakt zu ihrer Umwelt zum Ausdruck bringen.

Gerade wegen dieser Einheitlichkeit des Phänomens setzen Ängste unterschiedlicher Art noch heute körperliche Prozesse in Gang, zum Beispiel Herzklopfen, Muskelzittern und veränderten Atemrhythmus, die der Bekämpfung von Drachen dienlich wären. In der Beschleunigung von Herz- und Atemrhythmus und im Muskelzittern erkennt man leicht, wie der bebende Körper das Standgas hochdreht, um dem Drachen, sollte er sich dreist an Weib und Kind vergreifen, blitzschnell an den Hals zu gehen und dem Dreckschwein die verwarzte Kehle durchzubeißen. In der sublimierten Differenziertheit moderner Gesellschaften erscheint die archaische Heftigkeit organismischer Reaktion in den Situationen des Daseins auf den ersten Blick allerdings oft fehl am Platze. Blutrünstiges Beißen oder kopflose Flucht würden schnell ins gesellschaftliche Abseits führen. Deshalb gilt es heute oft mehr, sich selbst zu beherrschen, als denn die reale äußere Gefahr, die den Alarm verursacht. Jede Gefahr droht immer von innen und von außen und häufig weiß man nicht, welche Seite dabei schlimmer ist.

Die Korrelation zwischen strukturierter Materie und seelischem System, die den Organismus in eine psychosomatische Einheit verwebt, wird an der Parallelität kognitiv-affektiver und somato-physiologischer Ereignisse deutlich. Dabei ist nicht zu entscheiden, ob der Körper mit Hilfe des Adrenalins die Psyche für sich einspannt, oder die Psyche mit Hilfe von Angst und Wut den Körper. Bemerkenswert ist jedoch, dass erst das bewusste Ich darüber entscheiden kann, ob das Adrenalin der Angst entspricht, die den bedrohten Neandertaler tief ins Innere der Höhle treibt, oder ob sich die Angst in blanke Wut verwandelt und ihren Impuls nach außen wendet. Erst das Bewusstsein unterscheidet zwischen beiden Seiten der Wirklichkeit und nur durch diese Unterscheidung hat es Macht.

Die hier genannte Definition des Begriffes "Psyche" als Seele diesseits der Ausbildung des Ichs kommt der des Freuds Es recht nahe. Allerdings klingt das "Es", obwohl es durch ein "das" substantiviert und damit in Freuds Instanzenmodell (Es-Ich-Überich) dem Ich scheinbar gleichgestellt wird, eher sächlich. Fast könnte man sagen 'nebensächlich'. Das Es fungiert in der Psychoanalyse als Sammelbegriff jener animalischen Triebe und Impulse, die das Inventar des Psychischen - im Sinne einer inkohärenten psychomorphen Summe - ausmachen. Erst durch die Ausbildung des Ich und des Überich und deren beider mächtigem Zugriff wird es in die Kohärenz einer Psyche überführt. In Freuds Modell ist das Es daher nicht als echte Entität gedacht. Vielmehr benennt das "Es" die seelischen Bodenschätze, mit denen das Ich umzugehen zu lernen hat und deren amorphe Masse es sich letztlich untertan macht, indem es sie in seinem Sinne strukturiert ('Wo Es ist, soll Ich werden.').

Im Gegensatz dazu wird hier das physiologische Regelsystem jedes lebendigen Organismus als "Psyche" bezeichnet und es wird ihm eine seelische Ganzheit zugeschrieben. Freuds Ich verleibt sich das Es einfach ein, während das hiesige Ich der Psyche außerdem begegnet.

1.4. Ethik

Durch die Anerkennung einer echten Subjektivität der animalischen Psyche wird der gesamten belebten Natur prinzipiell ein Anrecht auf jene Wertschätzung des Beseelten zugesprochen, die bei Freud gemäß jüdisch-christlicher Tradition implizit nur dem Menschen - als dem einzig bekannten Träger des Ichs - zugutekommt. Ist der dem Seelischen gezollte Respekt jedoch an das Ich gebunden, wird die Erfüllung des Prinzips der Ebenbürtigkeit im Ich-und-Du-Kontakt erschwert, da das Ich zu sehr Konkurrenzorgan ist und es den Respekt vor dem anderen stark an messbaren Vorteil und Leistung knüpft.

Das Ich fokussiert partielle Interessen. Durch die Fokussierung wird seine Aufmerksamkeit vom Weitwinkel zum Tele- und zum Nahbereich gezoomt, sodass ihm Kleines manchmal groß vor Augen steht und es sich selbst in der Regel für wichtiger hält, als es dies in Anbetracht seiner Winzigkeit eigentlich sein kann. Die abendländische Betonung des individuellen Ichs kann dessen unbefangene Kontaktaufnahme zum Umfeld behindern, weil es dem Ich aus seiner subjektiven Perspektive heraus schwerfällt, einzuschätzen, welche Bedeutung seiner autonomen Macht im Ganzen sinnvoll zusteht.

Obwohl die konkrete Psyche das Resultat der phylogenetischen Entwicklung über die Jahrmillionen hinweg ist und sie das Tier, dessen Leben sie im Biotop steuert, im Interesse der Spezies an deren Normen ausrichtet - zumindest bis das Ich aufkommt und das Individuum die Dinge damit willkürlich beeinflussen kann - ist die Regulation der seelischen Abläufe trotz elaborierter Normen nicht starr. Wie das Lenkrad eines Autos pendelt sie um Mittelwerte. So testet die Evolution, welche Abweichung dem Leben in der Zukunft mehr entspricht, als es die überlieferte Norm bis dato tat. Die Grenzlinie, um die das Lenkrad der Psyche dabei pendelt, gibt die zwei grundsätzlichen Ausrichtungen des Daseins vor: Das Dasein wendet sich nach innen und es wendet sich nach außen.

Auch die Entstehung des Ich ist kein linearer Prozess von winzigen Anfängen bis zur Reife. Sie folgt zunächst fast vollständig den Prinzipien des determinierten Chaos. Der genetisch vermittelte Entwurf eines Keimes trifft mit seinen individuellen Ungleichgewichten auf ein konkretes Stück Umwelt und wird durch die Verwirbelung des Aufpralls mehr nach da, oder mehr nach dort gelenkt. Deshalb können minimale Unterschiede in den Ausgangsbedingungen über Kaskaden sich potenzierender Kau-salverkettungen zu ebenso konträren Entwicklungen führen, wie umgekehrt sehr ver-schiedene Anfänge zu ganz ähnlichen Endresultaten. In der Praxis gleichen sich die Wirkungen kleiner Impulse meist aus. Daher verläuft das Gros der Entwicklungen gedämpft und in zahllosen Nuancen um die Grenzlinie pendelnd und mündet so meist in eine mittlere Bandbreite unverdächtiger Normalität. Diese Normalität kann jedoch, sofern man sich nicht voreilig mit Tütensuppen und Fertignahrung zufrieden gibt, durchaus als "leid-bringend", also als "patho-gen" bezeichnet werden. Große Teile der Normalität gehören folglich in den Bereich der Seelenpathologie. Wohlgemerkt! Die Entstehung des Ichs folgt zunächst den Prinzipien des determinierten Chaos. Nämlich solange, bis das Ich sich mehr und mehr selbst reflektiert und es dem multizentrischen Kraftfeld, das seine Entwicklung von außen steuert, einen ins Innere des Selbst zentrierten Willen entgegen stellen kann. Der eigentliche Wille des Selbst ist die Verwirklichung jener Ordnung, die die Struktur der materiellen Außenwelt und die Dynamik der Psyche in der Ordnung eines Wertesystems in Übereinstimmung bringt, das den Unterschied zwischen innen und außen übersteigt. Das Selbst überschreitet die Trennung der Welt von der Psyche. Das Selbst will das Richtige, ohne zu fragen, ob es innerhalb oder außerhalb des Ichs zu finden ist.

Gewarnt wird hier erneut davor, Geist über Materie zu setzen. Denn das Wertesystem ist nichts, was sich erhaben über die Stoffe erhebt, sondern was den Stoffen und der Psyche als Potential struktureller Ästhetik und harmonischer Funktion bereits inneliegt, was im Geist jedoch erst als die ästhetische Harmonie seiner selbst sichtbar wird. Der Geist wendet sich daher nicht mit dem ethischen System, das er erkämpft, wie mit einer Beute, die er den Stoffen abtrotzt, von eben diesen Stoffen ab, sondern er erkennt auch in den Strukturen der Stoffe das gemeinsame Heil, das all den Trennungen zugrunde liegt.

Das Ich mag zunächst die Partei seines konkreten Körpers sein. Später mag des die Macht usurpieren und den Leib, für den es handelt, mehr im Bündel seiner abstrakten Interessen sehen. Unterhalb all dieser Vorläufigkeiten liegt jedoch das Selbst, das eine stimmige Konsonanz des konkreten Seins mit dem Soll anstrebt. Dieses Soll entsteht aus der Einheit all dessen, was sich als Vielheit begegnet und entspricht der Ordnung, in der sich alles begegnen kann.

Für das Selbst ist das Ich ein Entwurf, der sich an der Frontlinie des Daseins mit dem Bau eines Wertesystems versucht. Verbunden sind Ich und Selbst durch das Gewissen, das den Grad der Übereinstimmung des Ichs mit dem Selbst anzeigt, indem es je nach Lage der Dinge entweder "warm" oder "kalt" ruft. Wie man weiß, ist das Getöse der Welt oft laut und der Ruf des Gewissen leise, sodass man meint, man wisse gar nicht, wo man nach dem Richtigen suchen könnte. Dann reicht es aus, das Wenige zu tun, von dem man weiß, das es richtig ist, um durch diese Tat dorthin zu kommen, von wo aus man die nächste Etappe sieht.

So nützlich wie der Imperativ, tatsächlich zu tun, was man als richtig erkennt, ist die Hypothese, dass hinter allem, was jemand tut, letztlich der Impuls zu finden ist, ethisch zu handeln. Das gilt selbst dann, wenn die faktische Tat, vom Irrtum verführt vor Hass, Verlogenheit, Missgunst und jedem anderen Laster nur so strotzt und man sehr genau hinsehen muss, bis man den ethischen Anspruch in der Verwerflichkeit erkennt. Selbst der Teufel rebelliert nicht gegen das Gute, sondern dagegen, dass er sich dem Guten unterwerfen soll. Sein Widerstand gegen die Unterwerfung hat ein ethisches Motiv, wenn es sich auch in seine Endlichkeit verirrt. Der Verführung durch den Teufel widersteht daher nicht, wer im Gegensatz zum Bösen einfach gut ist, sondern, wer den Teufel an Ethik übertrifft.

Mit einem Ohr lauscht das Ich der Opportunität des Alltags. Mit dem anderen lauscht es dem Ruf nach sich selbst. Im Alltag nutzt es die Gelegenheiten, durch die es sein Selbst in die Wirklichkeit überführt. Je reifer das Ich wird, desto mehr wird es durch eigene Entscheidungen bestimmt, durch die es einerseits in freier Wahl eine innere Stimmigkeit erzeugt und die sich anderseits zwingend aus der Übereinstimmung mit sich selbst ergeben. Je reifer ein Ich wird, desto mehr verursacht es sich selbst.

1.5. Trauma und Freiheit

Für das Problem der Kontaktstörungen folgert aus der These vom determinierten Chaos der anfänglichen Ichentstehung, dass man keine Systematik von Störungsmustern formulieren kann, denen eindeutig unterscheidbare Einzeltraumata zugewiesen werden könnten. Psychopathologien sind nur zu einem geringen Teil als Folgen einzelner schädlicher Ereignisse zu deuten. Schwerer als das einzelne Trauma wiegt das Kommunikationsklima, dem das Ich im Laufe seiner Entstehung ausgesetzt ist und noch schwerer als das Klima selbst wiegen die ungewagten Antworten darauf. Nicht das Ereignis macht in der Regel seelisch krank, sondern die Tatsache, dass sich der Kranke nicht adäquat auf die pathogene Haltung seiner Umwelt einstellt und dass er die wachsende Verantwortung für sich selbst im zwiespältigen Umfeld nicht übernimmt. Je jünger der seelisch Kranke ist, desto mehr ist er das Opfer seiner pathogenen Umwelt. Je älter er wird, desto mehr verursacht er sein Leiden selbst, indem er sich vor echter Freiheit und echter Bindung drückt.

Die Beschreibung grundsätzlicher pathologischer Kontaktmuster gelingt also eher, wenn man vom Einzeltrauma absieht und stattdessen das Kontaktmuster der Frühkindheit und die individuellen Reaktionsweisen darauf betrachtet. Da beim seelisch Leidenden die biographische Korrektur problematischer Prägungen zum großen Teil nämlich ausbleibt und er sich in seine untauglichen Abwehrmuster verstrickt, gehen die verschiedenen psychopathologischen Grundmuster, denen man im Kontakt mit ihm begegnet - und die man dabei auch selbst produziert! - zu einem großen Teil auf misslungene Kontaktsequenzen in der frühen Phase der Ichentstehung zurück. Wohl gemerkt - nur 'zu einem großen Teil', da man erstens ein beträchtliches Maß an organischen Einflüssen nicht vergessen darf und da zweitens das Ich, sobald man es so nennen will, jenes Maß an willkürlicher Entscheidungsfreiheit hat, mit dem es auch nach der gelungensten Sozialisation - sozusagen aus jugendlichem Leichtsinn heraus - übelst in die Irre gehen kann.

Zwischen dem Alter und der Reife eines Ichs gibt es in der Regel eine positive Korrelation. Je reifer ein Ich wird, desto mehr erkennt es den Einfluss seiner eigenen Entscheidungen auf sein weiteres Leben. Je unreifer es bleibt, desto mehr beruft es sich auf äußere Faktoren und lässt die Dinge geschehen, ohne sie tatkräftig auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Wieviel an gesunder Kontaktpartnerschaft ein Ich seinem Du einmal anbieten kann, hängt somit im wesentlichen davon ab, von wieviel Kontaktpathologie es geprägt wurde und inwieweit es im Laufe seiner Entwicklung die Verantwortung für sich selbst übernimmt, um damit für seine Haltung im Bezug zum anderen selbst einzustehen.

Ichs sind, obwohl Horte der freien Willkürentscheidungen, keine beliebigen Konstrukte. Da sie ein Resultat der Selektion biologischer Systeme sind, die nur Überleben lässt, was sich mit den bestimmenden Kräften der kosmischen Matrix verträgt, bleiben Ichs trotz ihrer Freiheit jener Matrix verpflichtet, deren abstrakten Aspekt man "die Wahrheit" nennt. Ichs, so wurde weiter oben ausgeführt, sind dieser Wahrheit nicht nur wie Knechte ihrem Herren untergeben, sodass ihnen bei Ungehorsam von außen Strafe droht, sondern, da Ichs reine Abstraktionen sind, ist Wahrheit als ihr eigentliches Wesen quasi ihre virtuelle Grundsubstanz. So kann sich ein Ich zwar dank seiner Freiheit von jeder Wahrheit abwenden, jedoch nie ohne dass es damit gegen sich selbst verstößt und niemals weiter, als bis es an seinem Irrtum zerbricht.

Zum Wesen der Wahrheit gehört, dass sie und jedes ihrer Teile ihrem Ideal entspricht. So wird auch das Ich seinem Wesen nur ganz als ein Du gerecht, wenn es prinzipiell mit einem anderen Ich im "reinen" Kontakt sein kann. Kann es das nicht, weil es nicht weiß, wie es geht oder weil es sich zu sehr davor fürchtet, entsteht im Ich eine Verstimmung, die ihm den Abstand von seinem wahren Sein anzeigt. Das Ich spürt die Angst, in seiner Existenz zu misslingen, die Schuld, die es begleichen müsste, um es selbst zu sein und die Scham, dass es sich selbst nicht genügt. Diese drei Gefühle sind die Grundmotive sowohl der Gewissenhaftigkeit als auch die Dornen im Fleisch derer, die sie, statt sich davon zu mehr Wahrhaftigkeit anstacheln zu lassen, durch das Bindegewebe psychopathologischer Abwehrmaßnahmen zu ummänteln versuchen.

Die tiefste Ebene, das primäre Motiv der Kontaktstörungen und aller psychischen Symptome, die daraus resultieren, ist dabei die Angst. Es ist die Angst des keimenden Ichs, dass es im Kontakt durch den anderen nicht gefördert, sondern im Gegenteil dazu bedroht, zurückgewiesen, missbraucht oder gar an seiner Verwirklichung gezielt gehindert wird. Diese primäre Angst, dass nämlich selbst die nächsten Mitmenschen, und oft gerade sie, abweisend, feindselig oder rücksichtslos vereinnahmend sind, wird durch Erfahrungen genährt, die kaum jemandem erspart bleiben und die viele so früh und so hart trifft, dass sie ein Leben lang nicht mehr vertrauen. So sieht das Ich sich in dem Dilemma gefangen, ausgerechnet das zur Konstitution seines eigentlichen Wesens zu brauchen, was ihm anscheinend schadet - den Kontakt, als das Eingangstor fremder Feindseligkeit in die eigene Psyche. Wie das Männchen einer Spinne, das, wenn es in seinen Genen überleben will, sich einem Weibchen nähern muss, welches ihn nur allzu gerne als Beutetier verspeist, ersinnt das verängstigte Ich komplexe Rituale, um die Gefahr des Kontaktes zu bannen. Da das Ich vom Ich-und-Du-Kontakt mehr abhängt, als von einem Spielfeld - auf das man sich begeben kann, wenn man Lust hat oder eben nicht - sondern da es zur Konstitution der eigenen Existenz des Du bedarf und der Kontakt zum Du zu seiner Substanz gehört, muss es Kontakte suchen, um seine eigene Struktur zu finden.

Der Zweifel am Selbstwert geht mit der Kontaktstörung Hand in Hand. Das ungeliebte Kind, dessen Eltern es misslingt, es herzlich im Leben zu empfangen, denkt: 'Wenn ich hier nicht empfangen werde, dann ist an mir wohl etwas nicht in Ordnung.' Das ist eine psychologische Erklärung des Selbstwertzweifels.

Ontologisch gedacht geht es auch so: Dem Ich wohnt der Kontakt zum Du als eine Existenzbedingung inne. Daher ist auch die Erinnerung misslungener Kontakte, die mit dem Bild des Schlechten assoziiert sind, statt die Kriterien des "reinen" Kontaktes und damit des heilen Selbstwertgefühles zu erreichen, Strukturbildner des Ichs. Je mehr missratene Kontakte jemand erlebt, ohne dass es ihm gelingt, sich aus ihrem Missstand aktiv zu befreien, desto mehr besteht er aus ihrem Echo. Und da er spürt, wie sehr der Klang in ihm verstimmt ist, weiß er, dass in seinem Leben etwas falsch läuft. Er spürt, dass es in ihm etwas gibt, was es nicht wert ist, dem Wahren zu begegnen.

Das neurotische Ich versucht die Gefährlichkeit der Kontakte durch seine Manöver zu vermindern. Es zahlt dafür den Preis, dass es die Chancen des Kontaktes nicht unbefangen nützen kann. Sein Kontakt zur Umwelt ist verbogen.

Das psychotische Ich, hat so viel Angst, dass es den Kontakt zum Du fast ganz vermeidet. Es nimmt damit in Kauf, auf sich selbst als strukturierte Gestalt zu verzichten, denn die klare Struktur des Ichs entsteht nur in der ebenso klaren Angrenzung zum Du. Das psychotische Ich kommuniziert so, dass niemand es versteht. Der einzige Partner ist ihm seine eigene Phantasie. Sein Kontakt zur Umwelt ist zerbrochen. Es führt ein Unverstandensein herbei, weil es das Verstandensein bereits als Invasion befürchtet. So ist der Auslöser aller Psychopathologien auf einer grundsätzlichen Ebene immer Angst. Es ist die Angst davor, im Kontakt unverhohlen dem eigenen Stück Wahrheit Ausdruck zu verschaffen.