Gewahrsein


  1. Begriffe
  2. Wissen
  3. Vom Bewusstsein zum Gewahrsein
Gewahrsein
Gesammelt sein zur Inobhutnahme

Bewusstsein
Wissensanwendung zur Vorteilssicherung

Person sein heißt: Selektive Interessen zu verfolgen. Gewahr sein heißt, selektierende Interessen zu erkennen.

1. Begriffe

Der Begriff gewahr besteht aus zwei Teilen:

  1. Ge-
  2. wahr

Die Vorsilbe ge- zeigt eine Versammlung an; wie in den Wörtern Gebirge und Gebäck. Ein Gebirge ist eine Versammlung von Bergen. Gebäck entsteht, indem man Zutaten beim Backen zusammenfügt.

Wahr geht auf das germanische Adjektiv wara = aufmerksam, beachtend, in Obhut nehmend zurück, das sowohl zum englischen awareness als auch zur Wahrnehmung führt.

Das Hauptwort Gewahrsein benennt analog zum Bewusstsein einen Seinszustand des Geistes. Geist kann sich als Bewusstsein oder als Gewahrsein manifestieren. Umgangs­sprachlich wird selten klar zwischen Bewusstsein und Gewahrsein unterschieden. Das verdeckt wesentliche Unterschiede. Um sie zu verstehen, ist zunächst die Struktur des Begriffs Bewusstsein zu betrachten.

Während gewahr mit der Vorsilbe ge- anhebt, ist es bei bewusst die Vorsilbe be-. Be- zeigt an, dass etwas hinzugefügt wird; wie in den Begriffen bereichern, bewässern und bemerken. Beim Bewusstsein ist unschwer zu erkennen, was das ist. Wissen wird hinzugefügt. Bewusstsein geht auf das frühneuhochdeutsche Verb bewissen zurück. Bewissen hieß: sich zurechtfinden.

Wenn Sie etwas für wertlos halten, ist es nur eine Meinung. Erst wenn Sie Wert erkennen, haben Sie vom Wahrgenommenen etwas erkannt.

Bewusstsein ist ein zweckdienliches Einfügen von Wissen ins Bild des Er­kennbaren um sich dort zurechtzufinden. Es dient den Zwecken der Person. Gewahrsein ist eine Versammlung des Geistes, die das Wahrgenommene in ihre Obhut nimmt. Es dient dem Wahrgenommenen, das es als Wert erkennt.

Wissen ist objektiv, wenn es dem Erkannten frei von selektivem Vorsatz zukommt.

2. Wissen

Ohne Wissen gibt es kein Bewusstsein. Es gäbe ein Kaleidoskop sinnlich erfahrbarer Impressionen, die, ohne verstanden zu werden, wie ein Feuerwerk vorüberhuschten. Offensichtlich ist Wissen Bereicherung. Wissen bereichert als bewusste Verknüpfung von Sachverhalten das Verständnis der Wirklichkeit. Daher ist zu klären, was das Wissen ist, das im Bewusstsein zur Anwendung kommt.

Wissen
Ein Neugeborenes weiß nichts. Das heißt: Über keinen Inhalt seines Wahrnehm­ungsfeldes kann es eine Aussage machen, die einzelnen Elementen eine Bedeutung zuweist oder sie als sinnvolles Gefüge beschreibt. Erst durch Erfahrungen knüpft es kognitive Verbindungen, die als Wissen gelten können. Wissen wird als Gedächtnis abgespeichert. Das Gedächtnis ist eine Sammlung des gedanklich Erfassten.

Kognitiv entspringt dem lateinischen Verb cognoscere. Cognoscere besteht seiner­seits aus den Begriffen con = mit und gnoscere = erkennen. Gnoscere geht auf das griechische gnosis [γνωσις] = Wissen zurück.

Hat das Kind entsprechende Erfahrungen gemacht, weiß es, welcher Geruch und welche Stimmlage mit Hunger, Trost und Muttermilch in Verbindung stehen.

Im Laufe der Zeit kommen durch Erfahrungen tausende von Verknüpfungen hinzu, die peu-à-peu einen Teppich weben, den das Kind als Weltbild nutzt. Parallel zur Erfahrung der physikalischen Welt entsteht ein Wissen über Klangfolgen, die sinnlich erkennbaren Phänomenen oder mentalen Inhalten symbolisch zugeordnet sind, sodass das Kind ein komplexes Gewebe aus Begriffen und gedanklichen Vorstellungen entwickelt. Dieses Gewebe dient als Landkarte bei der Orientierung in der Wirklichkeit. Das Kind ist sich selbst und der Welt als eines vierdimensionalen Gefüges in der Raumzeit bewusst. Den Elementen des Gefüges misst es Bedeu­tungen bei.

2.1. Reichtum

Während das Neugeborene keinerlei Gedächtnis hat, das etwas Gewusstes enthielte, enthält das Gedächtnis des Erwachsenen eine Fülle abrufbaren Wissens, das bei jeder Begegnung mit der Wirklichkeit spontan in die Bewusstheit des Augenblicks eingespeist wird.

Wenn uns Impressionen grüner Schattierungen treffen, die leis im Westwind schwan­ken, denken wir nicht: Merkwürdig! Grüne Schattierungen schwanken im Blickfeld. Wir erkennen stattdessen einen Baum. Nicht nur das. Die Betrachtung des Baums wird vom Bewusstsein individuell bereichert und zwar mit all den abstrahierten Kenntnissen über das Wesen der Bäume, die im Gedächtnis gemäß persönlicher Erfahrungen mit dem Thema abgespeichert sind.

Durch das Bewissen, also das Werk des bewussten Seins, werden ästhetische, aber zunächst sinnleere Impressionen zu einem komplexen Bedeutungsgefüge ergänzt. Dank des Bewusstseins beginnt der Mensch zu verstehen, was er sieht. Er findet sich in der Welt zurecht.

2.2. Risiko

Egozentrische Mathematik

Vorstellungen über die Wirklichkeit führen zur Freude oder vermeiden Leid. Da Vorstellungen ihrerseits bereits Gefühle vermitteln, bevor­zugt das persönliche Bewusstsein solche, die ihm angenehm sind. Bei der Konstruktion der Vorstellungen, die es sich über die Wirklich­keit macht, lässt es fünf tausendmal voreilig gerade sein. Das Weltbild, das es entwirft, ist selbstgefällig.

Das Gedächtnis ist eine Funktion der Person. Erst das Ego sammelt verwertbares Wissen und fügt bei. Gewusstes ist Denkmodell über Wahres. Es ist nicht das Wahre selbst. Das Gewahrsein sammelt kein Wissen. Es ist der Wahrheit gewahr. Es vertraut darauf, sie zu erkennen, sobald die Wirklichkeit eintrifft, die sie zum Ausdruck bringt.

Gottesschau und Gottes Schau

Ein Begriff kann Verschiedenes bedeuten. Für die einen meint Gottesschau das Auftauchen einer Gottesperson als religiöse Vision. Andere verstehen unter Gottes Schau eine Betrachtung der Wirklichkeit, wie Gott sie sähe: vollständig frei von Eigeninteresse.

Reines Gewahrsein ist keine Funktion der Person, so wie es das normale Alltags­bewusstsein ist. Es ist das Wesen des absoluten Selbst. Das absolute Selbst ist wirklichkeits­gewährendes Gewahrsein. Es gewährt, weil Gewahrsein und Liebe zum Wahrgenommenen in eins verschmolzen sind.

Wäre der Mensch primär nicht am Wohlergehen seiner Person, sondern an dem der Wirklichkeit interessiert, wären die Akte des Bewusstseins unproblematisch. Das Bewissen des Erkannten wäre reine Bereicherung. Bewusstsein und Gewahrsein wären eins. Es ist aber nicht so.

Das Wissen, das im Gedächtnis abgespeichert wird und von dort aus als Vorlage zur erkennenden Ergänzung der Wahrnehmungen dient, ist nicht neutral. Der Mensch sammelt Wissen nicht um des Wissens willen, sondern um des Vorteils, den ihm Gewusstes einbringen könnte. Das Wissen, das stets sprungbereit im Gedächtnis auf passende Wahrnehmungen lauert, denen es sich anheften könnte, ist egozentrisch verzerrt.

Beim Einlagern verwertbarer Erkenntnisse ist das Ego selektiv. Das Grundmuster, gemäß dem es entscheidet, welche Vorstellungen als Orientierungshilfe im Gedächtnis abzuspeichern sind, ist ein­fach. Es merkt sich, was ihm Vergnügen bereitet oder was schmerzhaft sein könnte. Angenehmes will es wiederholen, Unangenehmes künftig vermeiden.

Darüber hinaus denkt das Ego ökonomisch. Es sucht nach einfachen Schablonen, die man leicht handhaben kann. Da Orientierungshilfen nützlich sind - und gegebenenfalls sogar überlebenswichtig - beeilt es sich, geeignete Schablonen zur Marktreife zu bringen. Unvollständiges an den Schablonen wird ergänzt, Widersprüchliches abgefeilt. So kommt es, dass Wissen, Vermutung, Wahn und Meinung im Gedächtnis ein Kontinuum bilden, das zu einer parteiischen Verzerrung der persönlichen Weltsicht führt.

3. Vom Bewusstsein zum Gewahrsein

Religion ist der Versuch, die Begrenzungen des persönlichen Daseins zu überwinden. Konzepte sind gedanklich. Sie finden im Bewusstsein statt. Das gilt auch für das Konzept, das die vermeintliche Existenz einer separaten Person postuliert. Die Begrenzung des persönlichen Daseins und das Postulat des separaten Ich sind zwei Seiten einer Medaille. Das Ich, das sich als separat auffasst, selektiert zu seinem Vorteil. Genau diese Selek­tion ist das, was das Ich in den Horizont einer persön­lichen Existenz einsperrt, unter deren Begrenzungen es dann leidet.

Religion ist ein Bewusstseinsprozess. Es ist das Bestreben des eingesperrten Ich, den zeitlichen und räumlichen Horizont der Person zu überwinden. Das kann es nicht durch strategische Akte der Person, die diese in eine günstige Position verschieben, von wo aus sie als Person dann der Zeitlichkeit enthoben wird. Das religiöse Ich erreicht sein Ziel, wenn es das Bewusstsein so vom persönlichen Filter bereinigt, dass es in reines Gewahrsein übergeht.

Um das zu erreichen, muss sich das Ich der egozentrischen Prozesse gewahr werden, die das eigentlich reine Gewahrsein in egozentrische Bewusstheit verwandeln. Es gilt, dessen gewahr zu werden, was vollständigem Gewahrsein im Wege steht.

3.1. Inobhutnahme

Wir erinnern uns: Etymologisch entstammt das wahr in Gewahrsein und Wahrnehmung dem Adjektiv wara. Wara heißt achtsam in Obhut nehmend. Der Sinn wird im Verb wahren verdeutlicht. Man sagt: Interessen werden gewahrt.

Tatsächlich Wahrgenommenes wird nicht nur erkannt, sodass man ein Wissen darüber hat, wie es ist. Etwas als das wahrzunehmen, was es ist und es als das, was es ist, zu belassen, ist der eigentliche Akt der Liebe. Nichts kann daher so wahrgenommen werden, wie es ist, wenn man es nicht in Obhut nimmt und damit liebt. Blinde sind sich des Waldes als Ressource bewusst. Sie greifen darauf zu und holzen ihn ab. Sehende erkennen den Wald als das, was er ist. Sie nehmen ihn in Schutz.

Gewahrsein bekämpft nichts. Es macht sich nichts zunutze. Es bestätigt das Wahrge­nommene als das, was es ist. Gewahrseins erfüllt sich, indem es das Wahre als wahr anerkennt. Es wirkt, indem es dem Wahrgenommenen den Platz belässt, den es in Wirklichkeit ausfüllt.

Erscheinungsformen des Geistes

Bewusstsein Gewahrsein
Ausdeutung der Wirklichkeit gemäß persönlicher Erfahrungen Urteilsfreie Erkenntnis dessen, was im Jetzt erscheint
wählerisch, anstrebend oder abwehrend
setzt Abwehrmechanismen ein
wahlfrei akzeptierend
bewertend wertschätzend
egozentrisch unparteiisch
ins Verstehbare verstrickt aus dem Verstandenen entrückt, reiner Verstand

3.2. Praktisches Vorgehen
"Ich" ist die verbale Selbstankündigung des Geistes. Indem er alles zu sein verneint, was er wahrnehmen kann, erhebt er sich zu dem, was alles Wahrgenommene in seine Obhut nimmt. So verbürgt das Gewahrsein der Wirklichkeit die Zugehörigkeit ihrer Formen.

Das Vorgehen zur Transformation des persönlichen Bewusstseins in reines Gewahrsein ist theoretisch einfach. In der Praxis ist die Umsetzung jedoch anspruchsvoll. Es gilt, die mentalen Wirkmuster der Person zu verstehen und sich durch die gewonnene Erkenntnis aus der selektiven Identifikation mit der Person zu lösen.

Da das mentale Grundmuster der Person aus einem egozentrischen Nützlichkeitskalkül besteht, reicht es im Prinzip, hinter Handlungs­impulsen und weltanschaulichen Positionen nach egozentrischen Motiven zu suchen. Je mehr man davon entdeckt, desto klarer tritt zutage, in welchem Ausmaß der Geist vom Vorsatz beherrscht wird, die Wirklichkeit in den begrenzten Horizont eines persönlichen Vorteilsdenkens einzuordnen; und wie viel Weite dabei verlorengeht.

Die Verleugnung und Ummäntelung der Egozentrizität ist eine wesentliche Strategie des Egos. So zu tun, als sei man selbstlos, ist nützlich und es zu glauben angenehm. Daher kann die Freilegung des egozentrischen Kerns alltäglicher Beziehungsmuster ein Ringen sein, bei dem das Ego etliche Finten aufbietet, um die Entdeckung zu ver­hindern, dass es Rumpelstilzchen heißt. Fragen Sie sich immer wieder...

Untersuchen Sie Ihre alltäglichen Routinen auf feine Spuren persönlichen Vorteilsden­kens. Je feiner die Spuren, desto verblüffender die Erkenntnis, wo das Ego überall seine Finger im Spiel hat.

Das egozentrische Ich ist dessen bewusst, was es mit den Dingen machen könnte. Das wahre Selbst ist dessen gewahr, wie die Dinge sind.

Besonders bei jenen Taten, die als selbstlos gelten, gilt es hinzusehen und hinter der vermeintlichen Selbstlosigkeit die Aktivität des Egos aufzudecken. Wer den Einfluss des Egos auf seine Taten erkennt, wird dessen gewahr, dass er die begrenzte Person, für die es sich stark macht, nicht ist. Vorgebliche Selbstlosigkeit und egozentrische Enge können durch die Freisetzung des wahren Selbst ersetzt werden. Dabei geht es nicht um die Beseitigung des Egos. Es geht darum, sich seines Eifers, sich erst klein zu denken und dann groß zu machen, gewahr zu sein. Die Krone reißt den Stamm nicht aus. Sie ist der Himmel.