Leid


  1. Begriffe
  2. Funktionen
  3. Ursachen
    1. 3.1. Körperlichkeit
    2. 3.2. Psychologischer Grundkonflikt
    3. 3.3. Selbstwertzweifel
      1. 3.3.1. Prägungen
      2. 3.3.2. Ich-Bezogenheit
  4. Stellungnahmen
    1. 4.1. Vermeiden
    2. 4.2. Verdrängen
      1. 4.2.1. Betäubung
      2. 4.2.2. Ablenkung
      3. 4.2.3. Schuldzuweisung
    3. 4.3. Pathogene Bindungen
    4. 4.4. Erkennen / durchleben / bewältigen
Das meiste Leid hat der Mensch in die Welt gebracht, indem er kopflos versucht hat, es aus der Welt zu schaffen.

Aus Furcht, in der Freiheit verlorenzugehen, halten sich viele am Leiden fest.

Glück liegt in der Gewissheit, dass man am Leid wachsen wird.

Alles Leid ist in die Zeit geworfen, weil es im Jenseits keine Hölle gibt. Leid ist an Vergäng­lichkeit gebunden. Es entsteht, wenn ein Bestand bedroht ist. Da das Ewige keiner Veränderung unterworfen ist, kann kein Bestand der Ewigkeit von Leid bedroht sein.

1. Begriffe

Das Wasser großer Ströme stammt aus verschiedenen Quellen. So ist es vermutlich auch beim Leid. Kaum einer zweifelt daran, dass Leid und leiden sprachgeschichtlich miteinander verwandt sind. Sie sind es nicht (1); zumindest kann der Zusammenhang nicht belegt werden (2). Vom Sinn her gehören sie trotzdem zusammen; und sind zurecht in ein Vorstellungsbild vereint.

Das Hauptwort Leid zur Bezeichnung einer widerwärtigen Erlebnis­qualität entstammt der germanischen Wurzel laiþa = widerwärtig, unangenehm. Widerwärtigkeit ist eine Spielart der Gegenwärtig­keit: die, bei der zwischen einander gegenwärtigen Objekten eine abstoßende Kraft besteht.

Das Verb leiden im Sinne von dulden, ertragen, Unglück empfinden, entspringt der indoeuropäischen Wurzel leit[h]- = (fort-)gehen, fahren, reisen. Das Leiden, im Sinne eines Frauenleidens oder eines Leidens am eigenen Widerspruch ist die substantivierte Form des Verbs. Das heutige Sprachgefühl verknüpft es nahtlos mit dem Leid.

So sehen es die Nachbarn

Zur Bezeichnung des Leidens in den romanischen Sprachen (z. B. französisch souffrir) und im Englischen (to suffer) werden Abwandlungen des lateinischen sufferre = darunterhalten, ertragen, dulden verwendet. Darin sind das Verb ferre = tragen und die Präposition sub = unter enthalten. Die benannten Sprachtraditionen verweisen auf die Tatsache, dass der Leidende Widrig­keiten unterliegt, ihnen also unterworfen ist und sie von unten zu ertragen hat.

Da Unterworfenheit der Gegensatz zur Freiheit ist, ist die Behebung eines konkreten Leides ein spezieller Fall eines grundsätzlichen Themas: dem Streben nach Freiheit an sich. Vielsagend ist dabei, dass Leid behoben wird. Der Leidende wird aus einer Position, in der er dem Widrigen unterworfen ist, über dessen Einfluss hinausgehoben.

Der Sinnzusammenhang zwischen dem Widrigen einerseits sowie Fahrten und Reisen andererseits ist offensichtlich; ebenso der zwischen Leid und dem Umstand, unterworfen zu sein. Es gibt kaum eine Reise ohne Widrigkeit, also ohne dass es notwendig wäre, Hürden und Hindernisse zu überwinden. Das gilt erst recht für die Reise durch die Wirklichkeit, die der Mensch als Leben bezeichnet.

Obwohl das pessimistische Übertreibungen sind, ist viel daran wahr. Niemand, der am Leben teilnimmt, kann leidvollen Erfahrungen entgehen.

Leid verengt das Bewusstsein auf das erlittene Erlebnis. Die Verengung reizt es dazu, sich zu erweitern.

2. Funktionen

Leid erfüllt wichtige Funktionen. Es stößt geistige Entwicklungen an und löst komplexe Handlungen aus. Man leidet, wenn die Realität nicht mit Wünschen, Erwartungen und Bedürfnissen übereinstimmt. Dann setzt man sich in Bewegung. Leid ist ein mächtiger Antrieb zu Veränderung, Wachstum und Aufbruch.

Manche werden niemals gar, weil sie ständig aus der Pfanne springen. Andere verharren, bis sie totgebraten sind. Wohl denen, die die Mitte finden.

Jede geistige Entwicklung besteht im Erwerb von Erkenntnissen, durch deren Einsatz man Leid beseitigen, ihm vorbeugen sowie Freiheit, Glück und Zufriedenheit erreichen kann.

Zusammen­hänge
Die Beschädigung oder Bedrohung einer Zusammen­gehörigkeit wird als Leid erlebt. Das kann die Zusammen­gehörigkeit der Bestandteile einer komplexen Gestalt sein, also der innere Zusammenhang ihrer Komponenten; oder die Zugehörigkeit der Gestalt zum Umfeld, aus dem sie hervor­geht. Frei von selbst erzeugtem Leid kann nur sein, wer unerschütterlich in sich verankert und mit der Wirklichkeit verbunden ist.

Zum Wesen des Bewusstseins gehört, Missstände als Leid zu erleben und sie durch Anwendung erworbenen Wissens zu überwinden. Daher ist Wissenserwerb von zentraler Bedeutung. Dem dient Erfahrung. Erfahrungen sind Experimente mit der Realität, durch die Einblicke erworben werden. Erfahrungen erweitern den Verstand. Sie können erfreulich oder leidvoll sein. Wichtige Erfahrungen werden oft durch Leid bezahlt. Leid ist Lehrgeld.

Leid und Glück
Was existiert, ragt in das hinaus, was seinem Sosein zum Teil widerspricht. Je mächtiger der Widerspruch, desto größer wird das Leid.

Wenn sich Wider- in Zuspruch verwandelt, entstehen Freude und Lust. Wenn selbst im Widerspruch Zuspruch erkannt wird, kommt Glück auf. Glücklich ist, wer sich im Widerspruch so zuspricht, dass er ihn nicht fürchten muss. Ich kann mich stellen. Wenn ich mich stelle, werde ich das Missliche überwinden. So heißt der Schlüssel zur Tür zwischen zwei Welten.

3. Ursachen

Die Grundlage allen Leids liegt in der persönlichen Existenz. Jede Person begegnet einer Wirklichkeit, deren Dynamik ihren Bestand infrage stellt. Alle Formen des Leids sind mit den grundsätzlichen Gefährdungen des persönlichen Daseins verknüpft: Tod, Verletzung, Zurücksetzung, Entmachtung, Entmündigung, Verlust.

Ohne ein Ich, das einem Nicht-Ich gegenüberstünde, gäbe es keinen Ort, an dem Ereignisse als Widrigkeit gedeutet und als Leid erlitten werden könnten.

Es gibt körperliches und psychisches Leid. Wegen der psychosomatischen Verbindung beider Ebenen beeinflussen und durchdringen sich beide Pole wechselseitig.

3.1. Körperlichkeit

Das persönliche Leben ist unauflösbar mit dem Körper verbunden. Funktionsstörungen des Körpers erlebt man als unmittelbar bedrohlich. Man leidet unter Schmerz, Übelkeit, Schüttelfrost oder Schwindel.

Körperliches Leid kann massive Auswirkungen auf das seelische Befinden haben. Schon mittelgradige Zahnschmerzen oder ein verdorbener Magen reichen aus, um die Freude an allem zu verderben, woran man sich freuen könnte. Heftige körperliche Symptome drängen alles andere in den Hintergrund.

Chronischer Schmerz organischer Ursache kann zu dauerhaften Persönlich­keitsveränderungen führen. Schaukeln sich organisch bedingter Schmerz und seelische Reaktion wechselseitig auf, kann von einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41) gesprochen werden. Andererseits können sich primär seelische Konflikte als körpernahe Symptome bemerkbar machen. Dann spricht man von einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: F45.40) oder von einer Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0).

Körpernahe Angst­äquivalente

Angst kann als seelisches Leid wahrgenommen werden. Oder sie bringt sich auf körperlicher Ebene zum Ausdruck. Als...

  • Schwindel
  • Übelkeit
  • Durchfall
  • Luftnot
  • Schmerz
3.2. Psychologischer Grundkonflikt

Der Mensch hat zwei grundsätzliche psychologische Bedürfnisse: Er will dazugehören. Und er will über sich selbst bestimmen. Beiden Bedürfnissen gerecht zu werden, ist oft schwer. Je nachdem, welches Bedürfnis zugunsten des anderen unerfüllt bleibt, entsteht ein jeweils spezifischer Leidensdruck; umso mehr, je starrer das Missverhältnis ist.

Auch körperliches Leid kann dem Thema des psychologischen Grundkonflikts zugeordnet werden. Die Beeinträchtigung körperlicher Funktionen droht sowohl Zugehörigkeit als auch Selbstbestimmung zu untergraben.

3.3. Selbstwertzweifel

Ein großer Teil des seelischen Leids beruht auf Selbstwertzweifeln. Ein Minderwertig­keitsgefühl kann das gesamte Erleben beeinträchtigen. Es gehört zum Spektrum der Schamgefühle. Grundlage des Minderwertigkeitsgefühls ist ein narzisstisches Defizit. Darunter versteht man einen Mangel an Selbstbejahung.

Tritt jemand großspurig auf, spricht man umgangssprachlich oft von großem Selbstbewusstsein. Das ist irrig. Das Selbstbewusstsein des Großtuers ist meist gering. Groß ist seine Bereitschaft, sich durchzu­setzen und sein Mut, Konflikte auszuhalten.

Oft ist der Zweifel am eigenen Wert nicht bewusst. Oft drückt er sich nur durch die unreflektierte Bereitschaft aus, im sozialen Rollenspiel Positionen einzunehmen, in denen es viel zu leiden und wenig zu genießen gibt. Oder er zeigt sich als großspuriges Auftreten, das den Zweifel verdeckt.

Ich kann mich selbst nicht leiden
Das sagt so mancher über den Bezug zu sich selbst. Der Satz verrät zugleich, was den Selbstwertzweifel aufrechterhält:

Dem kann abgeholfen werden. Aber der Weg ist oft steinig. Um ein stabiles Selbstwertgefühl zu begründen, das nicht mit äußeren Umständen steht und fällt, gilt es, unangenehme Gefühle unerschrocken als wertvolle Erfahrungen anzuerkennen. Wer sich dergestalt selbst erlebt und erlitten hat, kann sich fortan selbst gut leiden. Ein Selbstwertgefühl, das darauf angewiesen ist, dass stets Erfreuliches passiert, steht auf schwankendem Boden. Wer weiß, dass er mit sich durch dick und dünn geht, bekommt mehr Achtung vor sich selbst.

Selbstwertzweifel haben verschiedene Ursachen:

Ursachen des Selbstwertzweifels

Die soziale Ursache Die existenzielle Ursache
liegt im gesellschaftlichen Umfeld, das den Einzelnen bereitwillig missachtet. liegt in der grund­sätzlichen Egozentrik des normalen Selbstbilds.
3.3.1. Prägungen

Wesentliche Grundsteine des Selbstbilds werden in der Kindheit gelegt. Empfängt das Kind aus dem Umfeld abwertende Botschaften, wird es sie in der Regel in sein Selbstbild übernehmen. Man spricht von pathogenen Introjekten. Pathogene Introjekte sind irreführende Kognitionen, die das Kind auf die Bewertung seines Wesens anwendet und sich damit schadet.

Strafe oder Folge

Leid ist Folge unangemessenen Denkens und Handelns. Im Kinderzimmer sind die Folgen unerwünschten Handelns oft als Strafen gedacht. Ebenso bei der Justiz. Obwohl beides Leid erzeugt, sind Strafen von bloßen Folgen zu unterscheiden. Ein Strafimpuls handelt aus dem Kontext sozialer Rivalität heraus. Zu diesem Zweck grenzt er auch aus. Er sagt: Wenn du das tust, gehörst du nicht zu uns. Strafe will den Bestraften in eine Rangordnung beugen.

Die Wirklichkeit steht in keinem Rivalitätsverhältnis zu dem, dessen Taten sie mit Leid quittiert. Der Leidende bleibt vollgültig Ausdruck der Instanz, die ihm Leid zufügt. Die Wirklichkeit teilt Leid nicht zu, um unterzuordnen. Sie sagt: Lass mich in Dir zu. Beachte mich als Dich selbst. Dann bist Du im Einklang mit Dir.

Die Folgen ungünstiger Prägungen können überwunden werden, wenn man den Zusammenhang zwischen Prägungen und der gegenwärtigen Bereitschaft erkennt, seinerseits Elemente des eigenen Wesens zurückzuweisen und sich damit selbst zu schwächen. Dazu gilt es, angemessene von irreführenden Introjekten zu unterscheiden.

3.3.2. Ich-Bezogenheit

Das normale Selbstbild des Menschen ist egozentrisch. Da der Horizont des Egos eng umschrieben ist, lebt der egozentrische Mensch in steter Gefahr, von Selbstwert­zweifeln bedrängt, beeinflusst oder beherrscht zu werden. Das Minderwertigkeits­gefühl ist auf unserem kulturellen Niveau quasi flächendeckend; zumindest eine unbewusste Minderwertigkeitsbefürchtung. All die Manöver, die der normale Mensch zur Abwehr der leidvollen Zweifel zur Anwendung bringt, bleiben Notbehelf, bis er sein Selbstbild über das Ego hinaus erweitert hat.

Schicksal und Reaktion

Das Hindernis, das wir als Quelle des Leides erleben, mag jenseits von uns liegen. Dann trifft es uns von außen. Das Erlebnis des Leidens ist aber Teil unserer selbst. Es ist unsere Reaktion auf das, was wir als schädlich erachten. Wenn wir Leid als bloßen Schaden deuten, für den wir nicht verantwortlich sind, können wir Leid, das auf unserer Reaktion beruht, niemals beheben.

Wie jedes Erlebnis, hat auch Leid seinen Wert. Wenn man Leid verwertet, statt es zu verwerfen, verwandelt es sich in Wissen und Kraft.

Politisch und sozial ist das Minderwertigkeitsgefühl der Normalität ein entscheidender Faktor. Ohne es wären Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung anders. Beide Ordnungen fördern die egozentrische Ich-Bezogenheit, um sich aufrechtzuerhalten. Minderwertigkeitsbefürchtung und Gesellschaftsstruktur bilden eine kybernetische Gestalt. Kybernetisch (griechisch kybernetes [κυβερνητης] = Steuermann.) heißt: Das System steuert sich selbst. Die Gesellschaftsstruktur begünstigt Minderwertigkeits­befürchtungen. Diese festigen die Struktur der Gesellschaft.

Pathogene Machtergreifung
Eine Metapher mit paranoidem Einschlag
Will man seelisches Leid verstehen, ist nichts nützlicher als ein Blick auf das Wesen des Egos. Das Ego ist Anwalt der Person. So wurde es andernorts benannt.

Wie jeder Anwalt braucht auch das Ego Mittel, um für seinen Mandanten Gutes zu tun. Das Ego strebt daher nach Macht und ist von seinem Anspruch überzeugt, sich so viel wie möglich davon zu verschaffen. Deshalb ist es ständig damit beschäftigt, sich selbst zu bestärken; und zwar nicht nur gegen potenzielle Gegner in der Außenwelt. Auch von seinem Mandanten verlangt es eine Vollmacht. Es behauptet, dass es ohne sie nicht wirksam für ihn kämpfen könne. Weil das Ego beteuert, den Vorteil seines Mandanten und nichts als dessen Vorteil zu betreiben, sind viele bereit, die erwünschte Vollmacht auszustellen. Gutgläubig überlassen sie dem Anwalt die Führung ihrer selbst. Die Behauptung des Anwalts, selbstlos auf Seiten des Mandanten zu stehen, ist eines seiner Mittel, um sich zu ermächtigen. Dreierlei ist dabei problematisch:

  1. Kein Anwalt ist jemals selbstlos. Ein Teil seiner Mühen gilt dem eigenen Vorteil. Dazu stellt der Anwalt eine Rechnung aus, die aus den Ressourcen des Mandanten zu begleichen ist. Um sich zu erhalten, zehrt das Ego an den Kräften des Selbst.

  2. Im Ringen um mehr Macht, versucht das Ego, nicht nur äußere Feinde zu entmachten, sondern auch seinen Auftraggeber. Zum Wesen des Egos gehört der Putsch gegen das Selbst. Aus dem Anwalt der Person wird ein Unterdrücker ihres Kerns.

  3. Anwälte leben vom Konflikt. Wahrer Friede ist ihr Untergang. Hat das Ego die Macht über seinen Mandanten ergriffen, wird es ihn ständig in neue Konflikte führen. Dazu gaukelt es ihm eine Wirklichkeit vor, die aus irreführenden Vorstellungen besteht. Es sagt: Bevor die Wirklichkeit nicht genau so ist, wie ich es dir sage, kannst du nicht glücklich sein. Du musst daher gegen die Wirklichkeit kämpfen.

Da nirgendwo mehr gelitten wird als im Kampf falscher Bilder gegen die Wirklichkeit, erzeugt die Führung des Egos genau das Leid, das im nächsten Schritt als Argument dafür dient, ihm die Führung zu belassen.

Wer dem Ego erlaubt, die Macht über sich zu ergreifen, macht aus seinem Diener einen Haustyrannen. Wer glaubt, das Ego strebe aus seinem Wesen heraus nach dem Glück des Selbst, kann das Glück niemals finden. Um glücklich zu sein, muss das Selbst über dem Ego stehen. Dazu muss es das Ego im Auge behalten.

Im Titel der Infobox heißt es: Eine Metapher mit paranoidem Einschlag. Während die Metapher Zusammenhänge erhellt, werden andere durch den Einschlag verdunkelt. Der Grund dafür ist folgender...

Das Ego als einen Anwalt zu bezeichnen, verführt dazu, es als separate Instanz zu betrachten, die auf eigene Faust handelt. Das ist unscharf gedacht. Tatsächlich gibt es kein Ego als virtuelle Person. Vielmehr gibt es ein egozentrisches Selbstbild, mit dem sich das Ich in der Regel gleichsetzt. Substanz dieses Selbstbilds sind egozentrische Vorstellungen, die sich das Ich zu eigen macht. Es übernimmt sie, weil es sie irrtümlicherweise für richtig hält.

Die Personifizierung der spaltenden Wirklichkeits­deutung zur Figur eines übergriffigen Egos oder die Bezeichnung dominierender Selbstbildvarianten als passagere Partialpersönlichkeiten (Guy Finley) kann ein nützliches Werkzeug sein, um die Distanzierung des Selbst von irreführenden Vorstellungen wirksam voranzutreiben. Es geht darum, sich bewusst zu machen, von welcher Idee man gerade beherrscht wird.

Die Machtergreifung des Egos ist daher nicht das Werk einer bösen Instanz, die auf das Ich zugreift und es so zum Opfer degradiert, wie es der paranoide Einschlag der Metapher unterstellt. Vielmehr fällt das Ich der eigenen Verblendung zum Opfer. Es nimmt irreführende Sichtweisen und Deutungen der Wirklichkeit an, die zweierlei bewirken:

  1. dass es an der Vorstellung festhält, kategorisch vom Nicht-Ich getrennt zu sein.
  2. dass es glaubt, sein Glück hänge von Bedingungen ab, die es dem Nicht-Ich aufzuzwingen hat.

Beides fixiert das Ich überwertig in eine Opposition zur Wirklichkeit, die eine Lawine neurotischen Leides nach sich zieht. Tatsächlich führt nicht der Kampf gegen vermeintliche Webfehler der Außenwelt ins Glück, sondern die Erkenntnis der Irrtümer im Inneren. Das Ego im Auge zu behalten, heißt daher: zu erkennen, welche Vorstellungen in die Irre führen und welche ins Licht.

4. Stellungnahmen

... begegnete ihm je eine Verdrießlichkeit, so würde sie doch gleich wiedergut­gemacht. So heißt es im Märchen vom Hans im Glück.

Hans war mit einem Batzen Gold nach Hause unterwegs. Als ihm das Gold zu schwer wurde, tauschte er es gegen ein Pferd. Als das Pferd ihn abwarf, tauschte er es gegen eine Kuh. Als die Kuh nicht gleich Milch gab, tauschte er sie gegen ein Schwein. Als das Schwein ihm hätte Ärger machen können, tauschte er es gegen eine Gans. Zum Schluss hatte Hans nichts mehr.

Leid ist nicht nur Not, die abgewendet werden kann. Leid selbst ist notwendig, um Schlimmeres zu verhindern. Viele machen keinen Unterschied und versuchen jedes Leid bereits im Keim zu ersticken. Wer jedem jedes Leid ersparen will, verursacht damit oft das Gegenteil.

Wie man Leid begegnet, ob man es bloß beseitigen will, ob man es vermeidet, betäubt, es im Dienste einer besseren Zukunft erträgt oder etwas daraus zu lernen versucht, bestimmt, ob man mit Gold nach Hause kommt oder mit leeren Händen. Die erste Botschaft des Märchens warnt vor übereilter Verkürzung leidvoller Erfahrungen.

Das Märchen hält aber auch eine zweite Botschaft bereit: Wer Besitz weggibt, ist frei. Wer frei ist, ist glücklich. Die beiden Botschaften verweisen gemeinsam darauf, dass es im Umgang mit Leid zwei Grundsätze gibt, die sich komplementär ergänzen.

  1. Um erfolgreich zu sein, muss man das Leid ertragen, das zum Erfolg notwendig ist.
  2. Um glücklich zu sein, gilt es überflüssiges Leid zu vermeiden.
Notwendiges Leid führt zur Erkenntnis des Wahren, überflüssiges vertuscht es.

Notwendiges von überflüssigem Leid zu unterscheiden, ist die halbe Kunst des Lebens und die wichtigste Aufgabe der Psychotherapie.

Zweierlei Leid
Es gibt zweierlei Leid:
  1. notwendiges, das dem Leben dient und nicht zu vermeiden ist
  2. überflüssiges, das man durch eigene Irrtümer erzeugt

Erträgt man notwendiges Leid, wendet man damit eine zukünftige Not ab, die ansonsten einträfe.

Überflüssiges Leid dient der Pflege falscher Selbst- und Weltbilder.

4.1. Vermeiden

Gewiss: Leid zu vermeiden, ist eine fruchtbare Taktik.

Körperliches Leid nicht zu vermeiden, wenn es vermeidbar ist, ist in der Regel Narretei. Wohlgemerkt: in der Regel. Nicht immer.

Vermeidbarkeit
Zu den häufigsten Irrtümern, die neues Leid mit sich bringen, gehört der Glaube, Leid sei grundsätzlich überflüssig und das Leben umso besser, je weniger Leid darin vorkommt. Das führt zu einer voreiligen Vermeidungshaltung. Statt notwendiges Leid im Vertrauen darauf zu erleben, dass es zwar schmerzhaft aber heilsam ist, versucht man es partout zu vermeiden. So flieht man vor einem wesentlichen Teil der Existenz... der einem umso hartnäckiger nachsetzt, je mehr man vor ihm flüchten will. Das Leben bedarf auch des Leids, weil das wahre Glück nur aus dem Leid heraus erreichbar ist.

Komplexer als bei drohender Durchfallerkrankung oder Zahnausfall sind die Verhältnisse bei seelischem Leid. Natürlich kann auch hier durch Voraussicht Leid vermieden werden.

Das menschliche Dasein ist aber so komplex, dass es selbst bei klügster Voraussicht aussichtslos ist, jede Lebenslage zu vermeiden, der leidvolle Erfahrungen entspringen können. Egal wie man es anstellt, an allen Ecken und Enden lauern Angst, Trauer, Verluste und Niederlagen. Schlimmer noch: Bemüht man sich grundsätzlich, Leid zu vermeiden, handelt man sich meist noch mehr davon ein.

Wer Leid aus dem Erleben entfernt, indem er es grundsätzlich vermeidet, verpasst die Chance, dass er am Leid etwas lernt. Die Ängstlich-vermeidende Persönlichkeit tappt genau in diese Falle.

Das Leben hat nicht vorgesehen, dass der Mensch nicht leidet. Wer sich zu viel dagegen wehrt, bekommt noch mehr davon verpasst. Selbst wenn man alles richtig macht, kann man nicht jedes Leid verhindern. Leid ist nicht nur Folge unangemessenen Handelns. Es ist Anreiz, das Beste daraus zu machen.

Leid ist zu verdrängen, solange man sich ihm nicht stellen kann. Leid ist zu betäuben, wenn aus dem Erleben des Leids weder Weisheit noch Wissen entsteht. Leid ist zu bestehen, wenn man daran wachsen kann.

Leid ist nicht nur Krankheit. Es ist auch Heilmittel... oder ein Irrweg; je nach Lage der Dinge.
4.2. Verdrängen

Gelingt es nicht, das Aufkeimen schmerzhafter Gefühle durch ausweichendes Verhalten zu vermeiden, kann man sich dazu entscheiden, das Leid zu erleben oder man setzt Abwehrmechanismen ein, die das momentane Befinden verbessern. Häufig eingesetzte Manövern sind...

4.2.1. Betäubung

Es gibt Leid, dessen Ausmaß die Fähigkeit lähmt, sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Das Vermögen, Leid als Herausforderung anzunehmen, setzt die Erwartung voraus, dass man etwas zu seiner Bewältigung beitragen kann. Ab welchem Ausmaß der Glaube an die eigene Handlungsmöglichkeit erlischt, ist von Person zu Person verschieden.

Betäubung ist ein legitimes Mittel um Leid zu dämpfen, von dem man sich ohne Dämpfung überfordert sieht.

So legitim Betäubung im Umgang mit heftigem Leid erscheint, so sinnvoll ist aber auch die Frage, ab wann man Leid ohne Dämpfung annehmen kann.

Und dann gibt es noch Mittel zur Betäubung aller Arten von Ungemach, die nicht nur verhindern, dass man aus leidvollen Erfahrungen gestärkt hervorgeht, sondern darüber hinaus zusätzlich schaden. Alkohol und Drogen betäuben Trauer, Angst, Schmerz und alle übrigen Gefühle, die man sonst nicht mag. Ihr ständiger Einsatz verhindert jedoch, dass man lernt, Leid aus eigener Kraft zu bewältigen. Und: Sie richten körperliche und soziale Schäden an, unter denen man zusätzlich zu leiden hat.

Paradoxe Effekte
Leid ist ein wirksamer Anreiz um nach Lösungen zu suchen. Es hält dazu an, eigene Fähigkeiten zu entdecken, anzuwenden, einzuüben und auszubauen. Langfristig führt Leid, das als Herausforderung angenommen wird, zur Entwicklung der Persönlichkeit sowie zur Befreiung aus Ohnmacht und Abhängigkeit.

Leid ruft aber auch Mitleid hervor... und damit Helfer auf den Plan. Wo gelitten wird, kann von innen oder von außen Abhilfe erfolgen. Sind Helfer nicht in der Lage, ihr Mitleid zu zügeln, neigen sie dazu, jedes Leid, das sie bei ihren Schütz­lingen entdecken, vorauseilend zu beheben. Der Effekt für den Beschützten mag kurzfristig wohltuend sein, langfristig hat übertriebene Hilfe aber einen ähnlichen Effekt wie ein Betäubungsmittel. Sie entfernt den Stachel des Leides, der zur eigenständigen Suche nach Lösungen reizt und führen so zu einer Spielart erlernter Hilflosigkeit, der neues Leid auf dem Fuße folgt. Lieber ein bisschen zu wenig als ein bisschen zu viel, ist eine sinnvolle Regel für Helfer, die die Selbstheilungskräfte ihrer Schützlinge nicht ersticken wollen.

4.2.2. Ablenkung

Die Variante der Leidbewältigung mit Hilfe von Sahnetorten hätte man auch als Ablen­kung bezeichnen können. Da es im Leben glücklicherweise nicht nur Unerfreuliches gibt, kann man sich, sobald etwas Unangenehmes spürbar wird, Erfreulichem zuwenden... und schon ist der Kummer ganz oder fürs Erste vergessen.

Ablenkende Manöver können Luft verschaffen, bis man sich den emotionalen Herausforderungen stellen kann, oder man setzt sie so beharrlich ein, dass schmerzhafte Erfahrungen auf Dauer verdrängt bleiben.

4.2.3. Schuldzuweisung

Eine weitere Methode der Verdrängung besteht darin, Leid nicht als nützliche Erfahrung anzunehmen, sondern stattdessen Schuldige dafür zu suchen.

Frei erfunden, aber wahr
In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 2017 wurden weltweit 207.387.599 Stunden und 27 Minuten schlaflos damit zugebracht, anderen Leuten erlittenes Leid zu Recht oder Unrecht im Geiste zur Last zu legen und in phantasierten Dialogen vorwurfsvoll nachzufragen, wie diese Leute etwas so Rücksichtsloses haben machen können. Das zeigt zweierlei:
  1. wie viel Energie für Nutzloses verschwendet wird.
  2. wie genau man den Umfang weltweiter Schlafstörungen schätzen kann, obwohl man die Zahl in Ermangelung empirischer Daten willkürlich aus der Luft greifen muss.

Es mag zwar sein, dass man im Gefolge der Aktionen anderer massiv zu leiden hat, die Vorstellung, dass Leid aber zwangsläufig anderen vorzuwerfen ist, macht für den Sinn des Leidens ebenso blind, wie für die Tatsache, dass es reaktiv empfunden wird und daher wesentlich von den eigenen Deutungen abhängt. Tatsächlich ist unvermeidliches Leid, das jedem Leben inneliegt, kein Unheil, für das stets jemand haftbar gemacht werden müsste. Es ist Bestandteil des Lebens selbst und entsteht aus der Rivalität unterschiedlicher Personen, die in jedes soziale Bezugsfeld eingewoben ist.

Es nützt, die Ursache eines Leides nicht nur im Auslöser zu sehen, sondern vor allem in dem, der das auslösende Ereignis leidvoll erfährt. Schreibt man die Schuld dem Auslöser zu, mag das entlasten, man bleibt jedoch Opfer. Auch Leid, das von anderen ausgelöst wird, kann ein Hebel sein, der stärkt und zur Verantwortung ruft.

Wer Leid braucht, um es anderen vorzuwerfen, kann es nicht aufgeben. So mancher verwandelt sein Leben in einen schmerzhaften Vorwurf gegen andere oder gegen die ganze Welt; weil ihm das Rechthaben wichtiger ist als sein Wohlbefinden.

Hinter jeder Schuldzuweisung steckt die Erwartung, dass sich Menschen so zu verhalten haben, wie es einem imaginären Kodex oder einem vermeintlichen Konsens entspricht. Da Menschen weder dazu verpflichtet sind, es zu tun, noch es tatsächlich machen, ist die Schuldzuweisung zwecks Verdrängung leidvoller Gefühle oft einer der nutzlosesten Maßnahmen, die man sich denken kann. Nützlicher als gegen Schuldige im Geiste zu wüten, ist es, zu prüfen, ob die Erwartungen, gegen die sie verstoßen, realitätsgerecht sind. Im Übrigen gilt es, das Erlebnis der Ohnmacht und des Ausge­setztseins in der Willkür des Daseins zuzulassen, ohne von der Ebene des Erlebens auf die des Urteilens und Argumentierens zu wechseln.

4.3. Pathogene Bindungen

Leid wird nicht nur erduldet oder vermieden, es wird auch aufgesucht; oder es wird daran festgehalten. Das bekannteste Beispiel mag der sexuelle Masochismus sein. Er hat aber weniger Bedeutung als verdeckte Formen. Während der sexuelle Masochismus unmittelbar auf Lustgewinn abzielt und nur solange praktiziert wird, wie er sein Ziel erreicht, fixieren die verdeckten Formen Leidende oft in eine tragische Verstrickung, deren Gewinn ausbleibt. Zwei psychodynamische Varianten stehen im Vordergrund:

  1. Richtig ist: Das Leben belohnt das Erdulden von Leid. Es belohnt allerdings nur das Erdulden notwendigen Leids, nicht jedes beliebigen. Nicht jeder macht diese Unterscheidung und glaubt in der Folge, je mehr Leid er erduldet, desto mehr Lohn wird er bekommen. Das klassische Beispiel dafür ist der strebsame Asket. Er fügt sich aktiv Leid zu, damit der Himmel ihn bevorzugt.

    Während Asketen, die das Glück mit Stachelkronen, Peitschenhieben, Nagel­brettern und Hungerqualen erzwingen wollen, die Ausnahme sind, sind ihre kleinen Brüder im Geiste gar nicht so selten. Viele Menschen folgen unbewussten Vorstellungen, die Leid und Heilserwartung so eng miteinander verknüpfen, dass sie allfälliges Leid nicht nur willfährig erdulden, sondern es sich bei Gelegenheit sogar an Land ziehen. Sie sind überwertig bereit, Opferpositionen einzunehmen und ziehen daraus psychologischen Gewinn:

    • die Hoffnung auf späteren Lohn,
    • die Überzeugung, dass ihnen als Leidende bis dahin besonderer Respekt zusteht.

    Gehäuft sind solche Mechanismen bei Menschen mit depressiver Verhaltens­struktur zu beobachten.

Eine sinnvolle Unterscheidung

Es macht Sinn, Mitgefühl und Mitleid von einer pathogenen Variante des Mitleidens zu unterscheiden.

Mitgefühl und Mitleid entlasten den Leidenden. Wer dem Leidenden verständnisvoll beisteht oder ihm Mitleid entgegenbringt, muss jedoch nicht mit ihm gemeinsam leiden.

Pathogen, also leidbringend, ist eine Identifikation mit dem Leidenden, die den, der sich identifiziert, tatsächlich mitleiden lässt. Steht der Leidende dem Mitleidenden persönlich nahe, ist diese Form des Mitleidens schlüssig und braucht nicht hinterfragt zu werden.

Derselbe Mechanismus kann aber auch missbraucht werden. Es gibt Menschen, die so mit einer eigenen Leidensposition identifiziert sind, dass sie allfälliges Leid aus ihrem Umfeld auf sich übertragen.

Ein derartiges Mitleiden entlastet den ursprünglich Leidenden oftmals nicht. Im Gegenteil: Der Mitleidende riskiert, sein eigenes Leid derart zu betonen, dass es um den ursprünglich Leidenden gar nicht mehr geht.

  1. Die zweite Variante pathogener Bindung an leidvolle Erfahrungen ist eine Folge des Bedürfnisses nach Beachtung. Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich. So heißt es in Tolstois Roman Anna Karenina. Dieses Prinzip gilt nicht nur für Familien, es gilt auch für Individuen. Während sich der Glückliche vergisst und seine Person in den Genuss des Daseins einfließt, hebt Leid die Person des Unglücklichen sichtbar in den Vordergrund. Es macht ihn für ihn selbst erkennbar.

    Als pathologische Zuspitzung kennt man diesen Mechanismus bei der körperlichen Selbstverletzung. Sie wird vor allem von Borderline-Persönlichkeiten praktiziert um sich selbst zu spüren. Zu leiden ist für viele eher akzeptabel als bedeutungslos und unsichtbar zu sein.

Sucht nach Leid und Linderung
Süchtige suchen mit Hilfe ihrer Mittel Linderung von den Leiden des Daseins. Oft suchen sie aber nicht nur nach der Linderung, die das Suchtmittel verschafft, sondern auch nach dem Leid, das es verursacht. Diese Ebene ist fast immer unbewusst. Auch Suchtmittelkonsum kann als Variante der Selbstverletzungstendenz wirksam sein. Das konkret erlebbare Leid eines tüchtigen Katers oder eines heftigen Suchtdrucks ist für manchen besser zu ertragen, als eine unbestimmte Daseinsangst. Besser ich sehe mich leiden, als dass ich mich aus den Augen verliere.

Da das absolute Selbst nicht in Erscheinung tritt, neigen selbstunsichere Personen dazu, ihr Dasein durch Schmerz zu konkreti­sieren. Wer sich seiner selbst ungewiss ist, fürchtet verlorenzugehen. Leid zeigt ihm an, wo und dass er da ist.

Wer Leid benutzt um sich erkennbar zu machen, leidet auf lange Sicht noch mehr, selbst wenn es ihm momentan das Leid erspart, übersehen zu werden.

Es liegt auf der Hand: Da es hier um Sichtbarkeit und Beachtung geht, fallen dem Anna-Karenina-Prinzip vor allem Menschen anheim, die wenig Beachtung erfahren haben. In mehr oder wenig starker Ausprägung ist deren Zahl Legion.

Kultiviertes Leid
Eine wesentliche Triebfeder christlichen Handelns entspringt dem Leiden Christi am Kreuz. Das Bild hat einerseits Gläubige dazu ermutigt, Leidenden selbstlos zu helfen. Damit hat es eine Haltung gefördert, die im Kontext einer menschlichen Gemeinschaft unentbehrlich ist. Ohne dass der Einzelne bereit ist, sich gegebenen­falls zum Wohle anderer zurückzustellen, kann er nicht als menschlich gelten. Er bliebe inhuman.

Die Betonung des Leidens in der christlichen Mythologie hat aber auch zu seiner Verklärung geführt. Unter der Vorstellung, man werde von Gott als einer der seinen bevorzugt, wenn man möglichst viel Leid auf sich lädt und auf irdische Freuden verzichtet, haben Gläubige Leid funktionalisiert. Leid wurde nicht mehr nur als eine Herausforderung betrachtet, der es sich zu stellen gilt, sondern es wurde als Mittel zum Zweck religiösen Ausdrucks kultiviert. Was aber kultiviert wird, wird nicht beseitigt und überwunden, sondern bewahrt und vermehrt.

Zur Verklärung des Leidens gehört der Kult des Gehorsams. Gehorsam ist nichts anderes als die Bereitschaft, ein Leid zu erdulden, weil es von oben angeordnet wird. Der Gehorsame verzichtet darauf, das zu tun, was seinem momentanen Wohlbefinden entspräche. Stattdessen trägt er die Last, die ihm auferlegt wird. Die biblische Ideenwelt fördert die Leidensbereitschaft im Diesseits, indem sie eine fürstliche Entschädigung im Jenseits verspricht.

Die Verklärung des Leidens förderte asymmetrische Gesellschaftsstrukturen, denen ihrerseits neues Leid entsprang, weil sie den Einzelnen daran hinderten, für sein Wohl zu sorgen. Dem Leid, das die christliche Caritas behoben hat, steht das Leid gegenüber, das sie durch seine Verklärung erzeugte. Es ist schwer zu entscheiden, welche Waagschale überwiegt.

4.4. Erkennen / durchleben / bewältigen
Sie sind die Wirklichkeit. Keine Vorstellung hat das Recht, über Sie zu herrschen. Selbst Ideale sind Bilder. Es sind Bilder, die man ausdrücklich über sich stellt. Dort gehören Bilder nicht hin.

Wer Leid weder vermeidet, betäubt, verdrängt oder verklärt, hat jene letzte Möglichkeit, damit umzugehen. Er kann sich dem Erleben stellen und sein Leid als einen Teil des Lebens anerkennen, bis er darüber hinausgewachsen ist. Wenn Sie sich zu dieser Möglichkeit entscheiden, können Sie Folgendes tun:


  1. Das Herkunftswörterbuch, Duden-Verlag
  2. DWDS / Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (https://www.dwds.de/wb/Leiden); Abruf 20.10.2019