Psychologische Rollen


  1. Begriffe
  2. Authentischer Ausdruck und Rollenspiel
  3. Kategorien
    1. 3.1. Existenzielle Rolle
    2. 3.2. Soziale Rolle
    3. 3.3. Psychologische Rolle
  4. Klassische psychologische Rollen
    1. 4.1. Armes Opfer
    2. 4.2. Liebes Kind
    3. 4.3. Gutmensch
    4. 4.4. Toller Hecht
    5. 4.5. Schwarzes Schaf
    6. 4.6. Mitläufer
    7. 4.7. Vormund
  5. Klassische Rollenspiele (Kollusionen)
  6. Elternschaft: Vermeidung und Missbrauch
  7. Unterscheidungen
    1. 7.1. Selbstsein und Selbstverwaltung
    2. 7.2. Spontane Wahl oder festes Muster
  8. Kulturelle Besonderheiten
Viele glauben, nur dann in Ordnung zu sein, wenn sie im Leben diese oder jene Rolle spielen. Sie haben keinen Respekt vor dem, was sie sind, sondern nur vor dem, was sie sein könnten.

Je mehr man sich mit einer Rolle gleichsetzt, desto mehr ordnet man sich der Rolle unter.

Man ist nur soweit man selbst, wie man dem Ich-bin nichts hinzufügt.
Man ist nur dann mit sich im Reinen, wenn man die Idee preisgibt, dass es anders hätte kommen sollen.

1. Begriffe

Der Begriff Rolle geht sprachgeschichtlich auf das lateinische rotula = Räd­chen zurück. Zunächst wurde aus der Bezeichnung eines runden Gegen­stands ein Fachbegriff der Theatersprache. Die Sätze, die der Schauspieler auf der Bühne zu sagen hatte, und Anweisungen für sein Verhalten, waren in der Frühzeit des Theaters auf Schriftrollen verzeichnet... Der Schauspieler spielte seine Rolle.

Auch bei der Kontrolle taucht der Begriff Rolle auf. Kontrolle geht auf das französische contre-rôle = Gegenrolle zurück. Wer kontrolliert, spielt eine Rolle, die sich dem entgegenstellt, was er kontrollieren will.

Ausgehend von den Brettern, die die Welt bedeuten, wurde der Begriff auf existenzielle, psychologische bzw. soziale Rollen, die der Mensch auf der Bühne des Lebens spielt, erweitert.

Theaterspiel und Kommunikation

Das Theaterspiel ist ein kontrollierter Ablauf. Es sieht zwar so aus, als kommunizierten die Spieler miteinander, tatsächlich handelt es sich jedoch um keine Kommunikation im wahren Sinne.

Bei der echten Kommunikation geht der eine Sprecher auf das ein, was der andere sagt. Dadurch entsteht eine dialogische Entwicklung, deren Ausgang offen ist. Im Theater ist das, was der Eine sagt, nur Stichwort für die bereits feststehende Aussage des Anderen. Auf der Bühne des Lebens ist es oft ebenso. Nur im wahren Leben ist es anders. Dort trifft nicht Rolle auf Rolle, sondern Sein auf Sein.

2. Authentischer Ausdruck und Rollenspiel

Das Verhalten einer Person ist entweder Ausdruck ihres unverfälschten Seins oder Folge eines Rollenspiels. Während es zu jedem Zeitpunkt nur ein unverfälschtes Sein gibt, sind jederzeit verschiedene Rollenmuster möglich.

In der Regel ist das genannte Entweder-Oder nicht eindeutig. Meist handelt es sich bei einem konkreten Verhalten um eine Mischung aus echtem Ausdruck und aufgesetzter Rolle. Je nach den Erfordernissen der Situation und den Zielen der Person werden zudem unterschiedliche Rollen eingesetzt oder miteinander kombiniert.

Verhalten ist Ausdruck...

eines Rollenspiels oder authentischen Seins

Jede Rolle ist ein Werkzeug. Hinter jedem Rollenspiel steht eine Absicht. Der Rollenspieler handelt aus einem persönlichen Interesse heraus. Durch sein Rollenspiel beabsichtigt er, den Verlauf von Ereignissen zu steuern und die Struktur zukünftiger Situationen im Voraus zu bestimmen. Das Rollenspiel bezieht sich nie nur auf das Hier-und-Jetzt. Es zielt immer auf ein Dort-und-Dann.

Verhalten als Ausdruck authentischen Seins ist entweder ein Werkzeug oder es ist absichtsfrei.

  • Ich achte auf das Rauschen der Blätter im Wind.
Ist es absichtsfrei, zielt es nicht über das unmittelbare Hier-und-Jetzt hinaus. Es reagiert spontan auf das Gegebene ohne etwas anzustreben. Ist authentischer Ausdruck ein Werkzeug, hat er wie das Rollenspiel ein Ziel im Auge. Es schaut vom Hier-und-Jetzt aufs Dort-und-Dann.

Der Schwerpunkt des Rollenspiels liegt in der Beeinflussung anderer Personen. Dabei wird direkte Kommunikation durch die Wirkkräfte des Rollenspiels ersetzt. Eine andere Funktion psychologischer Rollen liegt in der Steuerung des Selbstbilds und der Erwartungen, die ich an mich selbst richte.

Authentisches Verhalten lässt andere Personen unberührt.

  • Ich grabe den Garten um.
Es antwortet spontan auf deren Impulse.
  • Wenn mein Sohn auf mich zuspringt, fange ich ihn auf, oder ich weise ihn zurück, wenn ich gerade mürrisch bin.
Oder es versucht, ihr Verhalten direkt zu beeinflussen. Wenn es das Verhalten anderer beeinflussen will, wählt es als vorrangiges Mittel direkte Kommunikation.
  • Was muss ich machen, damit ich den Führerschein bekomme?

Psychologischen Rollen liegen bestimmte Vorstellungsbilder oder Überzeugungen zugrunde. Das Verhalten wird von diesen Ideen gesteuert.

  • Da ich ein Opfer bin, brauche ich mich nicht um die Lösung der Probleme zu kümmern. Dafür sind die Täter zuständig.
  • Ich muss besser als die anderen sein.
  • Man darf sich nichts gefallen lassen.

Authentisches Verhalten unterliegt keinem gedanklichen Konzept über die Wirklichkeit. Es begegnet ihr nackt.

Das Grundprinzip des psychologischen Rollenspiels ist fremdbestimmend und manipulativ.

Das Grundprinzip authentischen Verhaltens ist selbstbestimmt und kommunikativ.


3. Kategorien

Rollenmuster können drei Kategorien zugeordnet werden. Rollen sind...

  1. existenziell
  2. sozial definiert
  3. psychologisch angestrebt
3.1. Existenzielle Rollen

Existenzielle Rollen sind unausweichlich. Sie werden durch das Leben vorgegeben. Daher kann ihre Erfüllung zwar verweigert, die Rollenposition selbst kann aber nicht aufgegeben werden. Zu den existenziellen Rollen gehören die leiblichen Verwandt­schaftsverhältnisse. Man ist Kind, Mutter, Vater, Opa, Enkel, Bruder, Schwester, Neffe, Tante... ohne dass man wählen könnte, wem gegenüber man diese Positionen einnimmt.

3.2. Soziale Rollen

Soziale Rollen kommen der Person durch biologische Vorgaben, ihre Position im sozialen Umfeld und durch ihre Fähigkeiten spontan zu; oder sie sind Folge zwischenmenschlicher Absprachen. Zu den sozialen Rollen gehören Partnerschaften, Berufsrollen, freundschaft­liche Beziehungen, Nachbarschaften.

Typische soziale Rollen

Partner, Freund, Busfahrer, Polizist, Verkäuferin, Nachbar, Lehrerin, Schüler, Geliebte, Elektriker, Betriebsratsmitglied, Elternobmann, Gemeindevorsteher, Kindermädchen, Vereinsmitglied, Vorgesetzte, Azubi, Wahlhelfer, Datenschutzbeauftragte, Praktikant...

Die Grundmuster aller existenziellen Rollen können vollgültig als soziale Rollen ausgeführt werden. Man kann Vater eines nicht-leiblichen Kindes sein. Man kann die Partnerin des Vaters als Mutter und seine Tochter aus erster Ehe als Schwester betrachten. Im Unterschied zum existenziellen Verhältnis kann die Übernahme solcher Rollen frei gewählt oder zurückgewiesen werden.

3.3. Psychologische Rollen

Psychologische Rollen werden bewusst oder unbewusst gespielt um durch ihre jeweils spezifische Wirkung Effekte zu erzielen. Dabei wird nicht offen mitgeteilt, was der Rollenspieler beim Gegenüber bewirken will, sodass dessen bewusste Selbstbe­stimmung, inwieweit er die Erwartungen des Rollenspielers erfüllt, ausgehebelt wird; es sei denn, das Rollenspiel wird klar durchschaut, sodass man sich seiner manipulativen Kraft entziehen kann.

Klassische psychologische Rollen

Armes Opfer, unschuldig Verfolgter, Streber, verkanntes Genie, liebes Kind, guter Mensch, böser Bube, schwarzes Schaf, toller Hecht, Mitläufer, Partylöwe, Hans Dampf in allen Gassen, Königin Mutter, Frau Wichtig, Prinzessin auf der Erbse, graue Eminenz, Bollwerk der Vernunft, Gralshüter der Moral, verführerisches Weib, Lolita, Kratzbürste, Beauftragter Gottes, Provokateur, Hofnarr, Zentrum des Interesses, Klassenclown, Don Juan, Enfant terrible, Wüterich...

Ziel psychologischer Rollen sind persönliche Vorteile. Man kann sie drei Themen zuordnen:

  1. unmittelbare materielle Vorteile
  2. Schutz, Verschonung, Mitleid, Zuwendung
  3. Bestätigung, Bewunderung, Anerkennung

4. Klassische psychologische Rollen

Psychologische Rollen können mit voller Absicht gespielt werden, um andere bewusst zu beeinflussen.

Werden psychologische Rollen mit vollem Bewusstsein gespielt, um andere Leute auszunutzen, ist das im Grunde Betrug. Der betrügerische Rollenspieler erkennt den Unterschied zwischen seiner wahren Identität und der Rolle, in die er schlüpft.

Meist ist es Rollenspielern aber nicht bewusst, dass sie überhaupt eine Rolle spielen und oft besteht kein Interesse, das eigene Verhalten als ein Rollenspiel zu sehen. Vielmehr sind sie mit der Rolle so identifiziert, dass sie das Echte übersehen, das unter der Rolle verborgen liegt. Dann kommt zum Schaden, der durch die Manipulation des Anderen entsteht, ein weiterer hinzu: Der Rollenspieler verliert sein wahres Selbst beim Spielen aus dem Auge.

Gespenster
Oben hieß es: Die Person führt Regie beim Einsatz ihrer Rollen. Der Normale meint, er sei das Spektrum seiner Rollen. Untersuchen wir den Begriff Spektrum, erkennen wir Grundsätzliches. Spektrum geht auf lateinisch spectrum = Bild, Erscheinung, Gespenst zurück. Wie das Spektakel entspringt der Begriff dem lateinischen Verb spectare = schauen.

Die Person an sich, also die Regisseurin beim Einsatz der Rollen, ist ebenfalls eine Rolle: die primäre Rolle der Existenz. Das Ich tritt als eine Erscheinung auf. Es erscheint als eine Person, die im Zeitverlauf in sekundäre Rollen schlüpft, die im Spektrum ihres persönlichen Repertoires fluktuierend ineinander übergehen. Solange es sich mit dem Spektrum seiner Rollen verwechselt, tritt das Ich nur als Gespenst seiner selbst in Erscheinung.

4.1. Armes Opfer

Eine sekundäre Rolle, die gerne eingenommen wird, ist die des armen Opfers. Die Opferrolle bietet psychologische Vorteile, die viele Menschen dazu verleiten, ihre Nachteile in Kauf zu nehmen.

Zwei Varianten

  • demonstrativ leidend
  • aggressiv fordernd

Egal ob man leise anklagt oder lautstark fordert, immer besteht die Gefahr, dass man damit das Umfeld verprellt.

Nachteil der Opferrolle ist, dass man tatsächlich Opfer wird. Die Opferrolle führt zu Passivität, da man die Aufgabe, Missstände zu beseitigen, anderen zuschreibt. Wer in der Opferrolle bleibt, unterliegt daher regelmäßig mehr Missständen als jemand, der die Verantwortung für das eigene Wohl und Leid übernimmt. So wird der Opferrollenspieler tatsächlich Opfer: Opfer seiner eigenen Fehlhaltung; aber auch Opfer anderer Leute Aggression, die auf das ständige Ich-war's-nicht des Opferrollenspielers gereizt reagieren und ihn gegebenenfalls zur Zielscheibe ihres eigenen Missmuts machen.

4.2. Liebes Kind

Das liebe Kind ist eine Rolle, die zum Repertoire fast jedes Menschen zählt; denn jeder war einmal ein Kind und fast jedes Kind hat ausprobiert, wie man das Umfeld durch betontes Liebsein steuert. Sobald es aussichtsreich erscheint oder wenn er Konflikte vermeiden will, schlüpft auch der normale Erwachsene von Fall zu Fall in die bewährte Rolle. Dann tut er arglos so, als sei er keine Konkurrenz, als sei er absichtslos, als müsse niemand auf der Welt sich vor ihm fürchten.

Anpassungsprobleme
Das Selbst ist größer, als jede Rolle, in die es schlüpfen könnte. Je mehr man sich mit einer Rolle gleichsetzt, desto mehr wird man versuchen, sich hinein zu quetschen. Der Teil von einem selbst, der nicht zur Rolle passt, bleibt dabei auf der Strecke.

Das liebe Kind ist scheinbar ohne Ego. Nie würde es von sich aus nach den Hähnchen­schenkeln greifen. Da es aber lieb ist, appelliert es an Beschützer aller Art, die an seiner Statt für einen vollen Teller sorgen.

Leider ist auf die meisten Beschützer auf Dauer kein Verlass; entweder weil der Beschützer ein Wolf im Schafspelz ist, der das Schaf nur beschützt, bis er es fressen kann oder weil auch ein wohlmeinender Beschützer die Geduld verliert, wenn sich die Hilflosigkeit des lieben Kindes als Lebensstrategie erweist, die ihn verärgert. Dann besteht das Risiko, dass aus dem lieben Kind ein armes Opfer wird.

Neben den Gelegenheitstätern gibt es eine Menge Spezialisten, die sich so mit der Rolle verwechseln, dass sie nach außen hin ständig wie liebe Kinder wirken. Wie sehr sie dabei mit einer bloßen Rolle verhaftet sind, ist ihnen nicht bewusst. Sie halten Anpas­sung und Liebsein für selbstverständlich.

4.3. Gutmensch

Das Wichtigste vorweg:
Vom Gutmenschen ist der gute Mensch zu unterscheiden. Der gute Mensch spielt nachgerade keine Rolle. Er stimmt mit sich selbst überein. Der gute Mensch ist nicht gut, weil er gut sein will, sondern weil er gut sein kann. Der gute Mensch glaubt nicht, dass ihn sein Gutsein zu etwas Besserem als den Bösen macht. Er glaubt, dass er das Glück hat, gut sein zu können und dass die Bosheit des Bösen auch dessen Unglück ist.

Im Gegensatz dazu ist das Gutsein beim Gutmenschen Vorsatz oder Pflichterfüllung. Es spielt eine Rolle bei der Regulation seines Selbstbilds. Der Gutmensch ist vorsätzlich gut oder erfüllt als liebes Kind seine Pflicht, um Zweifel an seinem Wert zu zerstreuen. Wüsste das Gutmensch, dass er auch dann seinen Wert behielte, wenn er böse wäre, könnte er gut sein, ohne das Gutsein gegen Kräfte in seinem Inneren erzwingen zu wollen.

Der Gutmensch zwingt sich zur Tu­gend. Der gute Mensch verkörpert sie. Sich zur Tugend zu zwingen, kann Tugend sein. Ohne Zwang kommt Tugend besser zum Ziel.

Der gute Mensch ist dankbar, dass er gut sein kann. Der Gutmensch verspricht sich Lob dafür.

Sich für Leidende einzusetzen, ist lobenswert. Da aber nicht jeder Leidende, bloß weil er gerade leidet, ein armes Opfer ist, fördert der Gutmensch durch seine Taten auch schwarze Schafe und den Verzicht Leidender, sich auf die eigene Tatkraft zu besinnen.

Dient das Gute eigenem Wohlgefallen, ist es oft kein Gutes mehr, sondern Maske und Werkzeug.

Vielen, die sich für das Wohl anderer aussprechen, ist das Wohl anderer ziemlich egal. Was für sie zählt, ist vor sich selbst als tugendhaft dazustehen.

Der Gutmensch ist stets bereit, sich zum Wohle Leidender zu verwenden; vor allem, wenn es ihn selbst nicht mehr als ein Bekenntnis zum Guten kostet und die Übereinkunft zwischen ihm und dem Vorteilsempfänger ein Vertrag zu Lasten Dritter ist.

Um seinem Eifer für das Gute freie Bahn zu bieten, entbindet der Gutmensch jeden Leidenden umfassend von der Verantwortung für sein gesamtes Leid. Er schreibt sie Übeltätern zu, die sich durch Merkmale oder Machenschaften als Adressaten aller Schuld verwendbar machen und vor denen man den Leidenden zu retten hat.

Adressaten der Schuld

Daran gibt es keinen Zweifel: Menschen leiden nicht nur an sich selbst. Sie leiden auch unter äußeren Missständen, denen sie schuldlos ausgesetzt sind. Und das nicht zu knapp! Schuld kann man daher vielen Adressaten zuweisen: der Gesellschaft, dem Schul- und Weltwirtschaftssystem, Politikern, der Kirche, der Industrie, dem Großkapital, Hedgefonds, traumatischen Kindheitserlebnissen, mobbenden Kollegen, Nachbarn, falschen Freunden, lieblosen Eltern, treulosen Ehegatten, der Schwiegermutter, der Justiz und der Ungerechtigkeit der Welt an sich...

Doch wohlgemerkt

Natürlich geht von den genannten Kräften auch Übles aus. Wer das Gutsein aber als psychologische Rolle spielt, missbraucht die Übeltäter gerne über ihre tatsächliche Schuld hinaus als Sündenbock für alles. Auf der Suche nach dem Bündnis mit dem, dem er hilft, besticht der Rollenspieler sein Gegenüber durch die Entbindung von aller eigenen Schuld. Der Lohn dafür ist doppelte Dankbarkeit und die Anerkennung als "wirklich guter Mensch".

Der Vorteil dieser Rolle ist offensichtlich: Als Gutmensch ist man grund­sätzlicher Zweifel an sich selbst enthoben. Man steht stets auf der richtigen Seite. Was immer passiert, es war zumindest gut gemeint.

So verhindert man, als Egoist verdächtigt oder ausgegrenzt zu werden. Gutmensch zu sein ist bindungsfördernd. Es befriedigt das Bedürf­nis nach Zugehörigkeit; nicht nur bei dem, der das Gute empfängt, sondern auch bei dem, der es gibt.

Griffige Begriffe
Der Begriff Gutmensch ist umstritten. Die einen üben damit Kritik an einer welt­anschaulichen Position, die sie für bedenklich halten, andere glauben, der Begriff werte das Gute im Menschen ab. Richtig ist, dass Begriffe, die auffällige Eigenschaften einzelner Menschen benennen, das Bild stets vereinfachen. Sie werden dem Wesen des so bezeichneten Menschen niemals gerecht. Das gilt aber nicht nur für den Gutmenschen, sondern ebenso für zahllose andere Begriffe, die die Sprache in ihrem verspielten Reichtum fraglos akzeptiert: Heulsuse, Muttersöhnchen, Pummel­chen, Lesbe, Transe, Tunte, Sexyhexy, Halbstarker, Klugscheißer, Oberlehrer, Prinzipienreiter, Saufnase, Schnorrer, Gammler, Hippie, Bürohengst, Populist, Emanze, Quasselstrippe, Junkie, Kiffer etc.

Auch (halb-)wissenschaftliche Begriffe wie Neurotiker, Borderliner, Narzisst, Hyste­riker, Sozialphobiker, Psychotiker reduzieren die so Bezeichneten auf einen Ausschnitt ihres Wesens.

Die Darstellung von Menschen anhand hervorgehobener Merkmale nennt man Karika­tur (italienisch caricare = übertreiben, überzeichnen). Die oben genannten Begriffe sind verbale Karikaturen. Karikatur ist provokant (lateinisch provocare = hervorrufen). Genau das soll sie sein. Sie hat die Aufgabe, bestimm­te Merkmale durch Einseitigkeit zu verdeutlichen; und dadurch Reaktionen hervor­zurufen. Durch die Überzeichnung ist Karikatur ungerecht. Sie kann zur Abwertung missbraucht werden.

Schon immer hat es Bestrebungen gegeben, Karikaturen zu verbieten; vor allem von jenen, die sich davon provoziert fühlten.

Bei den Provozierten könnte eine Reflektion über die Widersprüche des eigenen Verhaltens hervorgerufen werden. Wenn Inge erfährt, dass sie als Quasselstrippe bezeichnet wird, könnte das dazu führen, dass sie das Volumen ihrer Sprachproduktion überdenkt. Hört Erwin den Begriff Saufnase, könnte die Provokation, wenn er sie zu seinen Gunsten zu nutzen weiß, ihm und seiner Leber Ungemach ersparen. Karikie­rende Provokationen sind für den Karikierten nicht grundsätzlich schädlich. Es kommt darauf an, wie er damit umgeht.

Abwertende Karikaturen beziehen sich oft auf unveränderliche Merkmale, die als Indizien vermeintlicher Minderwertigkeit überzeichnet werden: zum Beispiel Rassenmerkmale. Solche Karikaturen sind grundsätzlich zurückzuweisen.

Soll sich der Streit über gesellschaftliche Themen das Mittel der Karikatur aber aus der Hand nehmen lassen; noch dazu von jenen, die beim Einsatz ebenso einseitiger Begriffe zur Bezeichnung ihrer Gegner keineswegs zimperlich sind? Was würde Charlie Hebdo dazu sagen?

Wer die Rolle des Gutmenschen spielt, lässt es nur selten auf einem Lippenbekenn­tnis beruhen. Je vollständiger er sich mit seiner Rolle gleichsetzt, desto mehr Kraft verwendet er dazu, Bedürftigen zu einem besseren Leben zu verhelfen. Nicht selten erfolgt die Berufswahl im Sozialbereich und wirkt dort mit Vernunft und Maß betrieben durchaus segensreich; oder aber der Gutmensch will politisch durch betontes Gutsein punkten.

Je mehr der Gutmensch seinen altruistischen Eifer aber verklärt, desto leichter wird er selbst zu einem Opfer; und zwar derer, die die passenden Rollen für ihn spielen: vor allem liebe Kinder und arme Opfer, aber auch schwarze Schafe, die der Gutmensch gerne zu armen Opfern erklärt. Dann leidet er an dreierlei: sich selbst, den anderen und einem Helfersyndrom.

Die Tat des selbstlos guten Menschen passt zu ihm selbst.

Die Tat des programmatisch guten Menschen passt zu seinem Vorsatz, gut zu sein.

Fußnote
Vom guten Sein und vom Gutseinwollen
Um Gutes zu tun, braucht man nicht Gutmensch zu sein. Wer mit sich selbst übereinstimmt, tut auch anderen Gutes; aber nicht um jeden Preis, sondern bloß dort, wo das Gute Chancen hat, nachhaltig gut zu tun und nicht Gefahr läuft, sich für Dritte oder den Gutmenschen selbst als Übles zu erweisen.

Beim Gutmenschen ist Gutsein Programm. Es dient der Abwehr von Selbstwertzweifeln. Es ist ein narzisstisches Manöver und somit egozentrisch. Ohne sich um die langfristigen Folgen seiner Moral zu kümmern, plädiert der Gutmensch durch Ereignis und Erfahrung unbelehrbar für das vorder­gründig Gute. Sein Gutsein wird bedenkenlos. Der Gutmensch, der jedem Zweifel am Segen seiner Taten Bosheit unterstellt, tut das sogenannte Gute nicht um des Guten Willen, sondern um des Gutseins.

Während das Gute an sich auf eigenen Beinen steht, ist programmatisch Gutes auf Böses angewiesen. Nur wenn es genügend Böse gibt, die dem Eifer des pro­grammatisch Guten Grenzen setzen, kann der Gutmensch im Wolkenkuckucksheim bleiben, ohne dass ihn die Wirklichkeit aus seinen Illusionen schüttelt.

Können gute Taten schaden? Gewiss: wenn das Gute, das man dem einen tut, zu Lasten Dritter geht. Das Gewissen ist der Anwalt anderer. Es achtet darauf, dass deren Interessen berücksichtigt werden. Das Gewissen ist aber nur dann vollgültig gewissenhaft, wenn es das gesamte Wissen bei seiner Entscheidung versammelt; und somit die Interessen aller sieht.

Wer nichts davon wissen will, dass die guten Taten, die für die einen vollbringt, Dritten nicht guttun, hat sein Gewissen im Eifer für vorsätzliches Gutsein entmündigt. Das Gute, das er durchaus tut, wird durch Schaden gemindert, den es für andere mit sich bringt.

4.4. Toller Hecht

Der tolle Hecht tut so, als habe er nur Stärken. Stets hat er Anekdoten aus seinem Leben zur Hand, die Mut, Entschlusskraft und Erlebnisfähigkeit beweisen. Oft ist er auch zu riskanten Taten bereit, deren glücklicher Vollzug eine neue Anekdote liefert, oder er spornt sich zu Höchstleistungen an, die zwar an den Akkus zehren, zugleich aber Belege dafür sind, dass er als Hecht im Karpfenteich zu gelten hat.

Es sieht so aus, als sei der tolle Hecht dank seiner Stärke auf nichts und niemanden angewiesen. Die Bewunderung derer, die gerne bewundern, nimmt er scheinbar beiläufig in Kauf. Tatsächlich ist die Bewunderung, die der tolle Hecht im Umfeld bewirkt, jedoch ein mächtiges Motiv, das seine Rollenwahl bestimmt.

Die Anerkennung, die dem Bild zukommt, das er sich und anderen zeigt, hält Selbst­wertzweifel, die Furcht vor anderen, vor Leben und Tod in Schach.

4.5. Schwarzes Schaf
Niemand sieht mich, ist für manchen schwerer zu ertragen, als der Missmut, den er als Störenfried auf sich zieht.

Manchem ist es lieber, bestraft, geprügelt oder verachtet, als übersehen zu werden. So jemand übernimmt womöglich die Rolle des schwarzen Schafs und die Prügel, die er dafür bezieht, treiben ihn noch tiefer in Trotz, Zerstörungswut und Rebellion; was seine Rolle als Verfemter verfestigt.

Das schwarze Schaf findet stets etwas Neues, was den Zorn des Umfelds erregt. Es räumt nicht auf, macht Sachen kaputt, hinterlässt unerfreuliche Spuren, hält Absprachen nicht ein, verstößt gegen Regeln, Konventionen und Gesetze, vertritt Meinungen, die niemand teilen mag. Die vordergründige Botschaft des schwarzen Schafs an andere lautet: Ihr seid mir scheißegal. Tatsächlich aber sagt es: Nehmt mich endlich zur Kenntnis.

Auch hier ist ein Bedürfnis nach Beachtung am Werk. Wenn man im Guten nicht auffällt, wie man es gerne täte oder wenn man erfahren hat, dass man für Gutes keine Anerkennung bekommt, ist die Rolle des schwarzen Schafs attraktiver als der Gang in die gefürchtete Unauffälligkeit.

4.6. Mitläufer

Was das schwarze Schaf fürchtet - übersehen zu werden - ist dem Mitläufer gerade recht. Er taucht in der Anonymität des jeweils Normalen unter. So findet er formelle Zugehörigkeit und schützt sich vor den Gefahren der Exposition.

Der Mitläufer orientiert sich am Zeitgeist, den Sichtweisen des Umfelds, der jeweiligen Mode und wenn alle Fußball kucken, dann kuckt er eben auch; selbst wenn ihm der Sport nicht wirklich wichtig ist.

Vordergründig sieht es so aus, als verzichte der Mitläufer auf die Beeinflussung des Umfelds. Tatsächlich manipuliert aber auch er durch sein Rollenspiel. Vorbeugend lähmt er jeden Impuls, ihn als unzugehörig einzustufen und ihn folglich aus dem Schutz der Gemeinschaft auszuschließen. Lieber als im kalten Wind zu stehen, verhüllt er sich in heimatlicher Tracht.

4.7. Vormund

Zur Rolle des Vormunds gehört die Überzeugung, unverrückbar zu wissen, was richtig und falsch ist; und zwar in jeder Lebenslage, in die er selbst oder ein umstehendes Mündel gerät. Die Erwägung, dass zwischen dem, was er für wahr hält und dem, was wahr ist, ein hauchbreit Abstand klaffen könnte, gilt ihm als Spekulation, die nur jemand anstellt, dem es an seiner Weitsicht mangelt.

Zum Wesen des Vormunds gehört aber nicht nur der Glaube, dass das eigene Bild von den Dingen nahtlos ihrem tiefsten Wesen entspricht. Es gehört auch der Eifer dazu, aus der vom Himmel verliehenen Gewissheit heraus, über das Leben eines jeden zu bestimmen, dessen er habhaft werden kann.

Im Kleinen lenken Vormünder das Leben ihrer Liebsten durch verschiedene Mittel:

Was niemanden ernsthaft verwundert: Ehrgeizige Vormünder treibt es an die Schalt­stellen der Macht. Gelingt Ihnen der Aufstieg in gesellschaftliche Positionen, leiten sie Abteilungen, kommandieren Einsatzgruppen, machen Politik, reagieren in Diskussionen aufs passende Stichwort, um klarzustellen, was jedermann klar sein sollte, sind empört, wenn irgendwer anders denkt, gießen Flutwellen von Verwaltungsvorschriften aus und gründen Sekten, die sich im vermeintlichen Auftrag Gottes über Kontinente verbreiten.

Typische psychologische Rollen im Überblick

Rolle Motive Abwehrmechanismen Pathologische Formen
Armes Opfer Anspruch auf Entschädigung, Entlastung von Schuldgefühlen, Abgabe der Verantwortung Autoaggression
Projektive Identifikation
Projektive Des-Identifikation
Verdrängung aggressiver Impulse
Spaltung
Depressive Persönlichkeit
Paranoide Persönlichkeit
Liebes Kind Abgabe der Verantwortung, Vermeidung von Konkurrenz- und Progressionsangst, Schutz Regression
Fixierung
Verdrängung expansiver Impulse
Abhängige Persönlichkeit
Ängstlich-vermeidende Persönlichkeit
Gutmensch moralische Überlegenheit, Zugehörigkeit, Bedürfnis geliebt zu werden Altruistische Abtretung
Projektive Des-Identifikation
Depressive Persönlichkeit
Helfersyndrom
Toller Hecht Bestätigung, Entbindung von sozialen Fesseln Verleugnung regressiver Impulse
Idealisierung des eigenen Ego
Abwertung anderer
Narzisstische Persönlichkeit
Schwarzes Schaf Beachtung, Betonung der Unabhängigkeit, Protest gegen Bezugspersonen Verleugnung oknophiler Bedürfnisse (oknophil = Bindung suchend, anklammernd)
Reaktionsbildung
Verantwortungslosigkeit
Dissoziale Persönlichkeit, Delinquenz, Biographisches Scheitern, verkrachte Existenz
Mitläufer Zugehörigkeit, Konfliktvermeidung Verleugnung autonomer Impulse
Konfluenz
Normopath
Vormund Vereinnahmung von Bezugspersonen für eigene Zwecke, Streben nach sozialer Dominanz Verleugnung von Selbstwertzweifeln
Abwertung
Projektive Identifikation
Cholerischer Haustyrann, Führerfigur mit hoher Fremdaggression

Normopath ist ein karikierender Begriff für Menschen mit einer überschießenden Anpassungsbereitschaft an soziale Normen. Er gehört nicht zum offiziellen Wortschatz der Psychopathologie. Er weist aber auf den Umstand hin, dass das seelisch Krankhafte nicht zwangsläufig normabweichend ist. Auch dem ganz Normalen haftet Krankhaftes, also Verkrümmtes an.

5. Klassische Rollenspiele (Kollusionen)

Rollenspiel ist ein Verhalten, das sich auf andere ausrichtet; und eins, das das Selbst­bild bedient. Lauscht man im Wald dem Hämmern des Spechts, spielt man keine Rolle. Man ist, was man ist: ein Lauscher im Wald. Da sich jedes Rollenspiel, selbst wenn es nur als Phantasie im Kopf vonstattengeht, auf andere bezieht, ist klar, dass es typi­sche Interaktionsmuster gibt, die sich aus der wechselseitigen Wahl entsprechender Rollenspieler ergeben. Folgende Tabelle zeigt Kollusionen (lateinisch co = miteinander und ludere = spielen), die sich gehäuft aufeinander einspielen.

Typische Kollusionen

AO LK GM TH SS M V
A. Opfer ++ +
L. Kind + ++
Gutmensch ++ +
T. Hecht + ++
Sch. Schaf + ++
Mitläufer ++ ++
Vormund + ++ ++ ++

Abkürzungen:
AO = armes Opfer
LK = liebes Kind
GM = Gutmensch
TH = toller Hecht
SS = schwarzes Schaf
M = Mitläufer
V = Vormund

Typische Beziehungskollusionen entzünden sich an existenziellen Grundthemen des Daseins. Die Psychologie benennt diese Themen mit vier Begriffen:

  1. oral
  2. anal
  3. narzisstisch
  4. phallisch-ödipal

Psychologische Bedürftigkeiten

Typ Grundmuster
oral Ich will gefüttert werden.
anal Ich will machen können.
regressiv Ich will nicht in die Pflicht genommen werden.
narzisstisch Ich will bewundert und bestätigt werden.

Parentifizierung

Eltern weisen Kindern Elternrollen zu... entweder als emotionale Versorger ihrer selbst oder als Ersatzeltern für jüngere Geschwister.

Dem entsprechend kann eine orale, eine anale, eine phallisch-ödipale und eine narzisstische Kollusion unterschieden werden, bei denen jeweils ein progressiver und ein regressiver Partner in Verbindung stehen.

6. Elternschaft: Vermeidung und Missbrauch

Das Wesen der Elternrolle ist Fürsorge. Da das Menschenkind unreif zur Welt kommt, drohen ihm Gefahren, denen es nicht gewachsen ist. Inhalt der Elternrolle ist es, diese Gefahren vorauszusehen und abzuwehren; damit das Kind ein Umfeld findet, in dem es aus seiner persönlichen Dynamik heraus gedeihen kann.

Fürsorge für andere bedeutet oft Zurückstellung eigener Wünsche. Deshalb ist Eltern­schaft nicht nur Glück und Segen. Sie ist auch Herausforderung, Einschränkung, Zumutung und Strapaze.

Gewiss: Manche Bindungen sind unzumutbar. Dann sind sie im Interesse aller zu sprengen. Manche Bindung wird aber auch gesprengt, weil Ansprüche unrealistisch sind. Dann gibt es Opfer und Täter.

Man kann Kinder missbrauchen, indem man sich nicht eingesteht, dass sie keine Kinder mehr sind. Wer längst Erwachsene noch wie Kleinkinder behandelt, drängt sie in eine Rolle, die ihrem Wesen nicht entspricht.

Gleichzeitig beinhaltet die Elternrolle soziale und psychologische Vorteile. Sie wertet auf und gibt dem Leben einen klaren Rahmen. Wer Vater oder Mutter ist, hat eine Position. Gegebenenfalls wird er von anderen Pflichten entbunden. Soweit er sich vor Freiheit fürchtet, findet er im Kerker der Pflichterfüllung Geborgenheit.

Das kann zu Problemen führen:

  1. Besteht eine hohe psychologische Bedürftigkeit der Eltern, bewundert, gefüttert oder verwöhnt zu werden, droht die Gefahr, dass sie ihre Rolle inhaltlich vermeiden.

    • Wenn sie unglücklich sind, suchen sie sich einen neuen Partner. Sie lassen die Kinder unversorgt zurück, entziehen ihnen ungefragt den anderen Elternteil oder muten ihnen Stiefväter oder -mütter zu.
    • Statt Eltern zu sein und aus der überlegenen Position heraus Pflichten zu erfüllen, betrachten sich andere als Freunde ihrer Kinder. Oft tun sie so, als ob es nicht Aufgabe von Eltern wäre, Kindersorgen aus der Welt zu schaffen, sondern umgekehrt. Sie beklagen die Schlechtigkeit des jeweils anderen Elternteils und heischen Bestätigung. Sie überfordern ihre Kinder durch die Zuweisung einer Rolle als persönliche Vertraute.

  2. Finden Eltern nicht den Mut, die sozialen und psychologischen Vorteile der Elternrolle aufzugeben, klammern sie sich daran fest.

    • Statt ihren erwachsenen Kindern die Ebenbürtigkeit Erwachsener zuzugestehen, versteifen sie sich auf die Elternrolle. Sie tun so, als ob ihre Kinder nicht eigenständig wären, sondern stets ermahnt, bevormundet, belehrt, versorgt oder behütet werden müssten. Wann immer ihre Kinder die Welt anders sehen als sie, werden sie als unreif belächelt. Dadurch missbrauchen sie ihre Kinder als Statisten einer biographischen Epoche, die in Wirklichkeit beendet ist. Sie wollen immer Vormund bleiben.

    • Andere Eltern verlangen von ihren Kindern lebenslangen Ehrensold. Sie bahnen Schuldgefühle, indem sie von ihren entwachsenen Kindern Zuwendung erwarten.

Im ersten Fall ist das Rollenverhältnis unangemessen symmetrisch, im zweiten ist es unangemessen asymmetrisch.

7. Unterscheidungen

Nachdem so viel von Rollen die Rede war, bleibt zu fragen, wie man Rollenspiel von echtem Ausdruck unterscheidet. In der Praxis ist das schwer. Zum einen kann auf einen grundsätzlichen Gegensatz verwiesen werden: den zwischen Selbstsein und Selbstverwaltung. Andererseits ist zu bedenken, dass sich die konkrete Handlungs­abfolge eines Rollenspiels nicht von der eines authentischen Handelns unterscheiden muss. Nicht das konkrete Verhalten zeigt Rollenspiel an, sondern das Unvermögen des Rollenspielers aus stereotypen Mustern auszusteigen.

7.1. Selbstsein und Selbstverwaltung

Es gibt zwei Möglichkeiten:

Oft lebt man das Leben nicht, sondern man plant, steuert und verwaltet es.
Statt man selbst zu sein, spielt man die Rolle eines Ego, das sich selbst bestärkt.
  1. Ich kann zulassen, dass sich mein Sosein unbeschnitten auswirkt.
  2. Ich kann festlegen, wie ich sein soll und mein Verhalten dem Plan gemäß ausrichten. Die Festlegung kann bewusst oder unbewusst vonstattengehen.

Echtes Sosein, das sich unbeschnitten zum Ausdruck bringt, entspricht keiner psycho­logischen Rolle. Das absichtliche Anstreben einer ausgewählten Persönlichkeits­gestalt beinhaltet zweierlei Rollen.

  1. Die Rolle, die ich meinem Selbstbild gemäß im Leben spielen will.
  2. Die Rolle, die ich spielen muss, um das besondere Selbstbild zu verwirklichen.

    Das zu verwirklichende Selbstbild kann auch als Ich-Ideal bezeichnet werden. Abzugrenzen vom Ich-Ideal (Ich glaube, dass ich so und so sein sollte.) ist das angenommene Selbstbild (Ich glaube, dass ich so und so bin.)

Während die Rolle, die man im Leben spielen will, von Person zu Person unterschiedlich ist, kann die Rolle, die man spielen muss, um ein Selbstbild zu verwirklichen, einheitlich benannt werden: Es ist die Rolle eines Verwalters in einem inszenierten Leben, in dem man die Rolle darzustellen versucht, die man glaubt, darstellen zu müssen.

Säuglinge sind authentisch. Sie bringen ihr Wesen ohne planende Absicht zum Ausdruck. Sind sie froh, lachen sie. Sind sie traurig, weinen sie. Sind sie wütend, brüllen sie. Sind sie müde, schlafen sie. Zwischen ihnen und der Welt gibt es ein ungestörtes Wechselspiel.

Bei Erwachsenen ist das anders. Der Erwachsene hat eine Idee von dem entworfen, was er ist und wie er sein will.

Um das Ich-Ideal zu verwirklichen, übernimmt der Erwachsene die Rolle des Selbstverwalters. Man könnte sie auch als Karriereplaner oder als Regisseur der eigenen Biographie bezeichnen. Der Erwachsene identifiziert sich mit seiner Person und versucht, Kontrolle über sich und sein Umfeld zu erringen.

Typische Tätigkeiten des Selbstverwalters

  • beurteilen
  • planen
  • vergleichen
  • überprüfen
  • kontrollieren
  • festhalten
  • anpassen
  • zensieren
  • denken
  • erzwingen
  • fordern
  • verzichten
  • vermeiden
  • ausweichen
  • rechtfertigen
  • verhandeln

Wie bei allen Rollen geht es auch bei der des Selbstverwalters um den Erwerb von Vorteilen und die Vermeidung von Nachteilen. Nur die wenigsten Menschen haben den Mut, auf eine umfassende Berechnung ihrer Vor- und Nachteile zu verzichten. Der normale Mensch spielt die Rolle des Selbstverwalters beharrlich. Bei allem, was er tut, beurteilt und steuert er sein Verhalten gemäß den Vorgaben seines Selbstbilds. Meist sind ihm die Vorgaben nur schemenhaft bewusst, ebenso die Tatsache, dass er ihr Werkzeug ist, wenn er sie nicht erkennt.

Prioritäten
Setzt man den Begriff des Seins dem der Verwaltung entgegen, schwingt nahtlos eine Bewertung mit: Sein ist mehr als Verwaltung. Dass es so ist, kann voreilig missverstanden werden. In der Begeisterung für das reine Sein, könnten Schwärmer meinen, auf die Verwaltung sollte man gleich ganz verzichten. Davon wird hier abgeraten. Nur eine verschwindend kleine Zahl könnte von einem Verzicht auf die planende Steuerung ihrer Biographie profitieren, ohne dass sie irgendwann eine Reue packt, der sie nicht gewachsen sind.

Bei der Gegenüberstellung geht es daher nicht um ein Entweder-Oder. Es geht um die Bestimmung einer Reihenfolge.

Problematisch wird die Rolle des Selbstverwalters, wenn sie überwertig wird. Statt zu leben, werden Absichten vollstreckt. Das führt oft ins Unglück. Das eigentliche Ziel, glücklich zu sein, wird im Bemühen darum verfehlt. Während der Selbstverwalter glaubt, das Glück hänge von äußeren Bedingungen ab, die er durch seine Mühen verwirklichen kann, ist wahres Glück bedingungslos. Wahres Glück heißt stets, man selbst zu sein. Jedes andere Glück ist bedingt und wird von der Angst begleitet verlorenzugehen.

7.2. Spontane Wahl oder festes Muster

Verhält sich eine Person authentisch, kann es sein, dass sich ihr konkretes Verhalten in einer bestimmten Situation nicht von dem eines reinen Rollenspielers unterscheidet. Wenn es stimmig erscheint, verhält sich auch der authentische Mensch mal wie ein Mitläufer, mal wie ein Vormund, mal setzt er sich für das Wohl anderer ein und ein weiteres Mal genießt er es, im Mittelpunkt zu stehen.

Authentizität

Authentizität geht auf das griechische auth-entes (αυθεντες) = Urheber, Ausführender zurück. Man handelt authentisch, wenn man als Urheber des eigenen Handelns im Handeln sichtbar bleibt.

Beim Rollenspiel tritt der Urheber des Han­delns hinter der Rolle zurück. Das Handeln drückt nicht das eigentliche Wesen des Urhebers aus. Es verdeckt es. Die Rolle wird zu einem falschen Ich.

Je mehr das authentische Wesen des Ein­zelnen einer politisch erwünschten Moral untergeordnet wird, desto mehr verschwin­det er in seinen Rollen.

Im Gegensatz zum pathologischen Rollenspieler ist ein authentischer Mensch aber nicht an bestimmte Muster gebunden. Das Muster selbst hat für ihn keine psychologische Bedeutung. Es ist lediglich Werkzeug. Es wird je nach Lage der Dinge und momentaner Befindlichkeit zweckdienlich angewandt. Das führt zu zweierlei:

8. Kulturelle Besonderheiten

Wer sich selbst nicht sieht, ist sich selbst nichts wert. Es bleibt ihm nur der Wert von Status und Rolle.

Eine Menge groben Unfugs könnte die Mensch­heit verhindern, wären ihre Glaubenssätze vom Respekt vor dem Einzelnen geprägt.

Zwischen gespielter Rolle und Authentizität können Welten klaffen. Welche Rolle dem Rollenspiel zukommt und welche Bedeutung dem authentischen Ausdruck des Individuums, hängt zu einem großen Teil von der kulturellen Prägung ab. Kulturkreise, die dem Indivi­duum Bedeutung zugestehen, ermutigen autonomen Selbstaus­druck. Kulturkreise, deren oberstes Ziel in der Anpassung des Einzelnen an gesellschaftliche Normen liegt, fördern Rollenspiele.

Die Anpassung des Einzelnen an vorgegebene Denk- und Verhal­tensmuster ist ein zentrales Anliegen politischer und konfes­sioneller Weltanschauungen. Der nachhaltigste Einfluss geht von politisch-religiösen Glaubenslehren aus. Dabei gilt folgende Regel:

In Europa gab es die Aufklärung. Ihre Nachwirkungen schützen das Individuum vor pseudoreligiöser Willkür und Verfügbarkeit. Hätte die Aufklärung die Macht der biblischen Tradition nicht eingeschränkt, wäre es für den Einzelnen auch heute noch gefährlich, aus verordneten Rollen auszubrechen und er selbst zu sein. Er stünde vor der Herausforderung, Konformität zu heucheln, sich mit der Lehre gleichzusetzen oder sich, unter Gefahr für Leib und Leben, ihrer Feindseligkeit zu stellen.

Im Orient hinkt die Aufklärung hinterher. Dort ist die Mehrheit so tief ins Gefüge sozialer Rollenspiele eingewoben, dass für das Individuum an sich nur wenig Spielraum bleibt. Selbstverständlich gilt das ebenso für jene Bereiche des Christen- und des Judentums, die sich mehr als nur verbal zum dogmatischen Kern ihres Glaubens bekennen. Im orientalischen Kulturkreis ist der Geist in Dogma und Angst gefangen. Die Mehrheit schützt sich durch ein Mitläufertum, das die Macht, von der sie beherrscht wird, verteidigt, sobald deren Anspruch bezweifelt wird. Zum Selbstschutz identifizieren sie sich mit dem Aggressor.

Raja und Mehmet

Raja ist die Tochter ihres Vaters und die Enkelin ihres Großvaters. Sie ist die Schwester ihrer sämtlichen Brüder, die kleine Schwester ihrer großen Schwestern und die große Schwester ihrer kleinen Schwester. Außerdem ist sie die große Cousine ihrer kleinen Cousinen, die Cousine ihrer Cousins und die Nichte ihrer Onkel.

Wenn Raja's Vater nach Hause kommt, nimmt er auf dem Diwan Platz. Raja kniet vor ihm nieder, zieht ihm die Schuhe aus und bietet ihm Pantoffeln an. Hinter Raja's Vater steht eine alte Tradition. Raja's Vater sieht seinen höchsten Wert darin, Gefolgsmann dieser Tradition zu sein. Das ist die wichtigste Rolle, die er im Leben spielt. Wer der Tradition nicht folgt, ist in seinen Augen minderwertig. So hat sie ihn geprägt.

Mehmet ist Enkel seines Großvaters und Sohn seines Vaters. Er ist der große Bruder seiner kleinen Brüder, der Bruder sämtlicher Schwestern und der kleine Bruder seines großen Bruders. Außerdem ist er der Neffe seiner Onkel und Tanten väterlicherseits und seiner Onkel mütterlicherseits. Er ist der kleine Cousin von vier großen Cousins ersten Grades und zwei großen Cousins zweiten Grades, außerdem der Großcousin der Nichte seines Großvaters väterlicherseits.

Wenn Raja und Mehmet sich fragen, was sie jenseits dieser Rollen sind, wissen sie keine Antwort darauf. Fragt man sie, welcher Stimmung sie sind, blicken sie einem fragend ins Gesicht. Sich selbst nehmen sie kaum wahr, das Umfeld, das Erwartungen an sie stellt, dafür umso mehr. Manchmal hat man den Eindruck, sie wissen nicht, dass es sie jenseits ihrer Rollen tatsächlich gibt.


Fußnote 1
Vergleiche dazu: Bateson, C. Daniel, Dyke, Janine L. et al: Five studies testing two new egoistic alternatives to the empathy-altruism hypothesis; Journal of Personality and Social Psychology, 1988, vol 55