Scham


  1. Begriffe
  2. Psychologie des Schamgefühls
    1. 2.1. Natürliche Entwicklungen
    2. 2.2. Kulturelle Vorgaben
  3. Umgang mit Schamgefühlen
    1. 3.1. Schamfreiheit
    2. 3.2. Schamlosigkeit
  4. Pathologische Entwicklungen
    1. 4.1. Narzisstische Persönlichkeit
    2. 4.2. Schizophrenie
    3. 4.3. Soziale Phobie
Damit Schamgefühle nicht schaden, muss man sie zu Ende erleben oder sie als pathologisch erkennen.

Wie kein anderes Gefühl zeigt Scham auf den, der sie fühlt.

Je mehr man aus Scham in Verstecke flieht, desto mehr schämt man sich dafür, dass man es tut. Jedes Dasein ist auch die Aufgabe, zu dem zu stehen, was man tatsächlich ist.

Scham ist keine Schande, sondern die Neuausrichtung einer Verhaltensbereitschaft.

1. Begriffe

Der etymologische Ursprung des Wortes Scham ist nicht endgültig geklärt. Etliche Autoren (Quellen) sehen ihn im althochdeutschen scama, das seinerseits auf die indoeuropäische Wurzel kâm bzw. kêm = verbergen, verhüllen, verdecken zurückzuführen ist. Das vorangestellte "s" ist dabei als verkürztes Reflexivpronomen zu erkennen, sodass sich schämen folglich sich verbergen heißt. Scham ist ein Impuls zur Selbstverbergung. So mancher, der sich schämt, würde demgemäß am liebsten im Erdboden versinken.

Auf die gleiche Wurzel geht das englische skin = Haut zurück. Die Haut ist die Hülle, die den darunter­liegenden Rest des Körpers verbirgt. Sobald wir an die Schamesröte denken, wird der Sinn­zusammenhang zwischen den Begriffen offenbar. Mit dem Aufkommen der Schamesröte wird die verdeckende Hülle mit Blut, also Nährstoffen, versorgt.

2. Psychologie des Schamgefühls

Schamgefühle haben großen Einfluss auf die Steuerung des Verhaltens. Ursächlich hängen sie mit dem psychologischen Grundkonflikt zusammen. Somit sind sie mit den Bedürfnissen nach Selbst­bestimmung und Zugehörigkeit sowie dem Selbstwertempfinden vernetzt. Verdrängte Scham­gefühle können ganze Biographien nachhaltig belasten.

Sosein und Selbstbild

Als was man gerne gälte Wie man womöglich ist
unabhängig von Anerkennung hungrig danach
selbstsicher unsicher
großzügig kleinlich
mutig ängstlich
wissend ahnungslos
entschlossen zwiespältig
autonom fremd­bestimmt
bescheiden eitel

Schamgefühle tauchen auf, sobald sich zeigt, dass das tatsächliche Sosein hinter dem Selbstbild zurückbleibt. Da das Selbstbild weitgehend dem entspricht, wie man in den Augen anderer erscheinen möchte, schmerzt das Schamgefühl besonders, wenn auch andere Zeugen der Lücke geworden sind.

Da das Bild, das wir und andere von uns haben, den Rang bestimmt, auf den wir in der Gemein­schaft Anspruch erheben, gefährdet jedes Ereignis, das Lücken offenbart, unsere Zugehörigkeit. Das erzeugt unterschwellig Existenz­angst.

Die Regulation des Schamgefühls ist nicht statisch. Sie unterliegt entwicklungspsychologischen Gesetzen und kulturellen Vorgaben. Je größer der Anpassungs­druck kultureller Vorgaben ist, desto mehr wird die spontane Entwicklungsdynamik der reifenden Person verzerrt.

Was man als Schande empfindet

Thema Jung / unreif Alt / reif
Mangel an Zuge­hörigkeit ++ +
Schei­tern der Selbst­bestim­mung + ++
Leit­angst Ich bin Außenseiter und werde nicht geliebt. Ich bin zu schwach, um über mich selbst zu be­stim­men.

2.1. Natürliche Entwicklungen

Im Laufe des Lebens wandelt sich das Selbstbild spontan. Der Wandel hängt von persönlichen Ansprüchen und gesellschaftlichen Erwartungen im Rahmen der natürlichen Gruppendynamik ab. Während sich ein Säugling kaum schämt, wenn er in die Hose macht, ist das bei einem Dreikäsehoch bereits anders.

Generell gilt: Die Hauptquelle des spontanen Schamgefühls verschiebt sich mit zuneh­mendem Alter vom Mangel an Zugehörigkeit zum Scheitern der Selbstbestimmung. Das ist logisch: Für einen Erwachsenen ist die Fähigkeit, sich selbst zu steuern und autonom über sich zu bestimmen, von größerem Nutzen als die Geborgenheit im Schoß der Gemeinschaft; ... was wohlgemerkt situativ ganz anders sein kann. Die Regel ist also statistisch.

2.2. Kulturelle Vorgaben

Abhängig von Zeit und Ort beruht ein großer Teil des Schamerlebens nicht auf natürlicher Gruppendynamik, sondern ist Resultat kultureller Vorgaben. Dann sind sie Folge pathogener Introjekte. Beispielhaft sei auf das Schamerleben hingewiesen, das um die Sichtbarkeit nackter Hautpartien kreist. Es ist fast vollständig kulturell bedingt und verweist auf Bekleidungsvorschriften, die Macht- und Besitzverhältnisse zum Ausdruck bringen.

Frauen haben ihre Körper zu verbergen, weil Männer sie besitzen wollen. Ein unverborgener Frauenkörper signalisiert angeblich, dass er allen zur Verfügung steht; und die Frau folglich als Hure zu verachten ist. In der patriarchalischen Kultur wird Frauen ein Schamgefühl induziert, das sie dazu bringen soll, ihre Körper zu verstecken. Männern erspart das die Angst, ihre Frauen an andere zu verlieren.

Kultur ist ein zwiespältiger Wert. Zuweilen ist sie zugleich Kerker, Missbrauch und Neurose. Als ungetrübten Wert erweist sich Kultur nur dann, wenn sie die Men­schen, die sie prägt, nicht einschüchtert, sondern ermutigt, ihre jeweils individuellen Möglichkeiten zu verwirklichen.

Während die spontane Regulation des Schamerlebens nur dann seelischen Schaden stiftet, wenn ihre Abläufe behindert werden, können kulturell bedingte Schamgefühle bestimmenden Einfluss auf Mentalität und Verhalten ganzer Völker haben.

Scham und Macht
Scham treibt den Beschämten dazu, sich zu verstecken. Er zieht sich zurück. Er macht sich klein. Dieser Mechanismus wird auch zur Durchsetzung gesellschaft­licher Machtverhältnisse eingesetzt.

3. Umgang mit Schamgefühlen

Wie es die Etymologie des Begriffs bereits ankündigt, drängen Schamgefühle dazu, sich schamhaft zu verbergen. Der Sinn des Verbergens ist offensichtlich: Verbirgt man sich, wird auch das peinliche Defizit für andere unsichtbar. Die Gefahr sinkt, wegen schändlicher Mängel und Verfehlungen aus der Gemeinschaft verbannt zu werden.

Zeitgleich schwächt sich das Schamgefühl im Bewusstsein ab; oder es wird unbewusst. Unbewusst heißt aber nicht, dass es nicht mehr existierte. Aus dem Verborgenen heraus steuert es vielmehr das Verhalten. Aus dem bewussten Gefühlserlebnis droht ein Vermeidungsverhalten zu werden.

Vermeidungsverhalten bei Schamangst

Schamgefühle sind unangenehm. Dementsprechend wird viel getan, um sie zu vermeiden. Im Grundsatz ist es richtig, sich so zu verhalten, dass man sich für sich selbst nicht schämen muss. Es liegt aber auch auf der Hand: Je mehr Situationen man grundsätzlich vermeidet, weil dort ein Defizit sichtbar werden könnte, das man lieber schamhaft verbirgt, desto enger wird es auf der Welt.

Vorgehensweise
Nehmen Sie Schamgefühle vollständig wahr. Überprüfen Sie, ob das Gefühl Folge pathogener Introjekte ist, die Sie in die Irre führen. Wenn ja: Verwerfen Sie es. Wenn nein: Seien Sie solange beschämt, bis das Gefühl von allein verschwindet.

Um verschlossene Türen zu öffnen, kann man zum Glück etwas tun.

  1. Es gilt, von der Vermeidung zum Erlebnis zurückzukehren. Es gilt, sich an die Tatsache zu gewöhnen, dass man anders ist, als man erscheinen mag. Es gilt auch dann zu sich zu stehen, wenn man (noch) nicht so ist, wie man es gerne wäre.

  2. Es gilt, verinnerlichte Normen dahingehend zu überprüfen, ob sie dem Leben dienen oder Resultat gesellschaftlicher Machtstrukturen sind.

Schamfreiheit ist eine seltene Tugend, Schamlosigkeit ein häufiges Laster. Der Unterschied zwischen beiden liegt im Verhältnis zwischen Selbst und Selbstbild, sowie in der Art, wie man auf Schamgefühle reagiert.

3.1. Schamfreiheit

Oben haben wir gesehen, wie Scham durch Vermeidung aus dem Bewusstsein verschwindet. Schamfrei wird man durch Vermei­dung jedoch nicht. Im Gegenteil: Je mehr man Schamgefühle vermeidet, desto dicker schmiert das Leben sie aufs Brot.

Sich ganz von Schamgefühlen zu befreien, ist im Grundsatz aber möglich. Da jedes Schamgefühl auf einer Lücke zwischen dem Selbst, also dem tatsächlichen Sosein und dem Selbstbild beruht, kann Schamfreiheit erreicht werden, wenn man Selbst und Selbstbild einander anpasst. Schamfrei wird, wer unbefangen so ist, wie er ist; ohne dass er darauf Wert legt, immer frei von Scham zu sein.

Zwei Wege zur Schamfreiheit

  1. Passen Sie sich Ihrem Selbstbild an:
    Wenn es zu Ihrem Selbstverständnis gehört, Italienisch zu sprechen, dann lernen Sie es.

  2. Passen Sie Ihr Selbstbild dem Selbst an:
    Richten Sie Ihre Achtsamkeit nach innen. Erforschen Sie, wie Sie tatsächlich sind. Seien Sie so weise, sich in Liebe anzuneh­men. Verwerfen Sie alles, was ihr Selbst missachtet.
3.2. Schamlosigkeit

Es gibt Leute, die scheinbar von keinem Schamgefühl belastet werden. Tatsächlich ist es bei ihnen aber anders; was daran liegt, dass es neben der Fusion von Selbst und Selbstbild sowie dem Vermeidungsverhalten noch eine weitere Möglichkeit gibt, Schamgefühlen zu begegnen: die Verleugnung mit nachfolgender Reaktionsbildung. Dabei wird nach außen hin ein gegenläufiges Verhalten praktiziert, das über die tatsächliche Scham hinwegtäuscht. Hinter der Fassade scheinbar schamloser Menschen, verbirgt sich oft ein brüchiges Selbstwertgefühl, das durch unverarbeitete Demütigungen aufrechterhalten wird.

Hier sind Reaktionsbildungen am Werk: Ich tue erst recht, was als schändlich gilt und verachte die, die sich dafür schämen würden.

Aber auch viele, die bloß der üblichen Lieblosigkeit anheimgefallen sind, versuchen durch scheinbar scham­freies Gebaren die Aufmerksamkeit des Umfelds auf sich zu ziehen. Sie steigern ihr Selbstwertgefühl, indem sie sich so verhalten, als stünden sie jenseits jeder Konvention. Ohne diese Abwehrstrategie wäre so mancher private Fernsehsender ohne durchgehendes Programm.

Abwehrmechanismen beim Umgang mit Scham

Muster Abwehrmechanismus
Vermeidungs­verhalten Regression, Fixierung, Verdrängung
Schamlosigkeit Verleugnung, Reaktions­bildung
Fusion von Selbst und Selbstbild Sublimation, Affektakzeptanz
Ablehnung des Selbstseins Des-Identifikation vom Selbst

Eigentlich ist Affektakzeptanz kein Abwehrmechanismus, sondern ein Aufgeben der Abwehr.

4. Pathologische Entwicklungen

Bei vielen psychiatrischen Krankheitsbildern spielen Schamgefühle eine ausschlag­gebende Rolle. Scham ist ein besonderes Gefühl. Sie zeigt in abwertender Weise unmittelbar auf den, der sie fühlt. Deshalb sind Schamgefühle besonders bei solchen psychiatrischen Erkrankungen weichenstellend, bei denen es um das Thema des Gesehenwerdens geht.

4.1. Narzisstische Persönlichkeit

Die narzisstische Persönlichkeit legt großen Wert darauf, als wertvoll anerkannt zu werden. Wäre sie selbst bereits zur Gänze von ihrem Wert überzeugt, erschiene ihr die Bestätigung durch andere kaum je so verlockend, als dass sie sich ständig darum bemühen würde.

Nicht selten wirken narzisstische Persönlichkeiten so, als seien sie unerschütterlich von sich selbst überzeugt. Tatsächlich schlummern hinter hochmütigen Fassaden meist verleugnete Schamgefühle, die durch die Reaktionsbildung einer triumphalen Selbstbildpflege schamhaft übertüncht werden.

4.2. Schizophrenie

Im Gegensatz zum Narzissten, der zwecks Beseitigung unerwünschter Schamgefühle die Flucht nach vorne antritt, macht der Schizophrene einen radikalen Rückzieher. Er sagt sich von sich selbst los; und damit von jener Instanz, auf die das Schamgefühl mit dem Finger zeigt, um ihren Unwert bekannt zu machen.

Während die Strategie des Narzissten nicht selten psychologisch und sozial erfolgreich ist, stürzt sein Abwehrmuster den Schizophrenen erst recht ins Desaster.

Schamgefühl und Größenwahn

Eine pathologische Lösung des schizophrenen Schamproblems kann im Größenwahn gesehen werden. Der eigenen Person wahnhaft eine herausragende Bedeutung zuzuschreiben übertönt einerseits jedes Schamgefühl, das Eingeständnis der Verirrung eines solchen Selbstbilds droht andererseits erst recht Schamgefühle auf den Plan zu rufen. Die Psychodynamik eines solchen Zwiespalts kann den Wahn unauflösbar werden lassen.

Sich durch Verrücktheit aus der Mitte der menschlichen Mitwelt herauszurücken, um Schamgefühle abzuwehren, erweist sich als Methode, die erst recht zu Minderwertig­keitsgefühlen führt. Dass so mancher partout nicht aus seinem Wahn auf den Boden der Tatsachen zurückkehrt, kann daran liegen, dass er sich dort Schamgefühlen stellen müsste, die er für unannehmbar hält. Lieber versteigt er sich in die Einsamkeit von Sichtweisen, die niemand mit ihm teilt.

4.3. Soziale Phobie

Auch der Sozialphobiker fürchtet Momente, in denen er ins Blickfeld anderer tritt. Wer das tut, wird gesehen und wer gesehen wird, unterliegt samt seinen Eigenschaften dem Urteil anderer.

Gewiss: Am liebsten hätte der Sozialphobiker ein stabiles Selbstwertgefühl. Wäre jedoch garantiert, dass er in den Köpfen anderer ein Bild erzeugen könnte, das keinen Anlass böte, sich zu schämen, würde so mancher Betroffene - lieber als unter Lampenfieber zu leiden - ersatzweise die Rolle eines Narzissten oder Hysterikers spielen, der seine Freude daran hätte, sich zu zeigen. Allein: An diese Gewissheit glaubt der Phobiker nicht. Seine Strategie heißt daher Vermeidung.

Da sich Schamangst oft durch vegetative Reaktionen (Erröten, Zittern) oder das Unvermögen bemerkbar macht, gelassen logische Sätze auszusprechen, fürchtet der sozialphobische Mensch, dass genau diese Signale verborgene Makel verraten. Wo Rauch ist, ist auch Feuer, denkt der Phobiker. Und er denkt, dass andere das genauso sehen. Der Sozialphobiker schämt sich nicht nur für irgendwelche Mängel, die offen­sichtlich werden könnten. Er schämt sich auch dafür, dass man erkennt, dass er sich schämt. Der Sozialphobiker schämt sich dafür, sich nicht schamfrei zeigen zu können.


Quellen:

Köbler, Gerhard: Althochdeutsches Wörterbuch.
Baer, Udo und Frick-Baer, Gabriele: Vom Schämen und Beschämtwerden.