Seele


  1. Begriffe
  2. Reihenfolgen
  3. Grenze und Leid
  4. Befreiungen
Seele ist die Wirklichkeit des Ich jenseits der persönlichen Form.

Die Gegenwart ist nicht das Wann des Geistes, sondern die Gegenwart des Geistes ist das Wo und Wann der Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit erscheint in Elemente aufgeteilt, die einander begegnen. Der Begriff Seele benennt die verbindende Gegenwart des Umfassenden im Teil.

Der Mensch hat keine Seele, die als Teil von etwas in ihm wäre. Er ist beseelt. Beseelt sein heißt: als Ausdruck des Ganzen mit dem Ganzen verbunden zu sein.

Ohne Erkenntnis des Unbegrenzten bleibt das Leben von Ängsten durchsetzt. Ohne unbegrenzte Weite bliebe Leben eng.

1. Begriffe

Vier Begriffe beschreiben eine Dimension der Wirklichkeit, ohne die es Wirklichkeit vermutlich gar nicht gäbe:

  1. Seele
  2. Psyche
  3. Geist
  4. Subjekt

Wirklichkeit wird hier nicht bloß als Existenz eines raumzeitlichen Gefüges verstanden. Wirklichkeit ist mehr als ein Dass (... es etwas gibt) und mehr als ein Was, das mal dies und mal das sein kann. Wirklichkeit ist auch ein Urteil; eines, das erst durch den Bezug zu dem möglich wird, was überhaupt ein Urteil fällen kann.

Geurteilt wird über die Frage: Ist die Welt wirklich oder ist sie es nicht? Und urteilen kann nur eine Dimension, auf die man mit einem der vier genannten Begriffe verweist.

Dabei liegt das Wo und Wann der Wirklichkeit in der Gegenwart jener Instanz, die darüber entscheidet, ob sie wirklich ist. Ohne die Urteilskraft des Geistes gäbe es zwischen wirklich und unwirklich keinen Unterschied. Wirklich zu sein ist ein relatives Kriterium. Wirklich ist das, mit dem die urteilende Instanz in Beziehung treten kann; und sie selbst.

1.1. Seele

Sprachgeschichtlich deutet vieles darauf hin, dass der Begriff Seele altgermanischen Ursprungs ist und derselben Quelle entspringt wie der oder die See. Zur germanischen Mythologie gehörte die Vorstellung, dass die Seelen Ungeborener in Gewässern wohnen und die der Verstorbenen dorthin zurückkehren. So gesehen ist Seele der zum oder zur See gehörige Aspekt des Individuums.

Hier ist von Aspekt (lateinisch ad-specere = hinsehen, anschauen) die Rede, also von einer Betrachtungsweise; nicht von einem Teil. Der Begriff ist absichtlich so gewählt. Spräche man von der Seele als von einem Teil, ginge genau das verloren, was ihr Wesen auszumachen scheint: ihr Aufgelöstsein im und ihre ungeteilte Zugehörigkeit zum Mutterschoß der Wasserwelt.

Je tiefer man blickt, desto form­loser, träger und tragender wird das, was man findet. Je ober­flächlicher man bleibt, desto mehr verdichtet sich das Sein in ein bestimmtes Etwas.

Eine Seele zu haben, heißt beteiligt zu sein, aber nicht in dem Sinne, dass sie als abgetrennter Teil anderen gegenüberstünde, sondern dass sich als sie ein Ganzes Ausdruck verschafft, das in ihr enthalten ist.

Seelen und Frösche
Obwohl Seen allerlei entspringt - Frösche, Fische, Kaulquappen, Libellen und die gemeine Wasserpest - bleibt es der Seele vorbehalten, den Familiennamen ihrer Herkunft ohne Beiwerk zu tragen. Ohne Beiwerk soll heißen: Sie heißt nicht analog zur Seeanemone oder zum Seelöwen See-soundso. Das ist kein Zufall.

Das -le darf als Verkleinerungsform gedeutet werden, so wie man sie im Schwaben­land benutzt, sodass die Seele, die das Individuum beseelt, als kleiner Ausdruck des Ozeans verstehbar wird, der als Sinnbild für jenes umfassend Ganze steht, dem alles entspringt und zu dem alles zurückkehrt.

Der Name Seele zeigt an, dass die Seele nicht wie der Frosch als abgetrennter Insasse des Wassers verstanden wird, sondern als dem Wasser wesensgleich und folglich formlos. Wasser hat keine bestimmte Form. Es kann jede Form annehmen, die sich ihm bietet. In der angenommenen Form unterscheidet es sich. In seinem Wesen bleibt es sich gleich. Während Wasser zum Ozean fließt, fließt Seele zum Ganzen.

1.2. Psyche

Was den Germanen die Seele, ist den Griechen die Psyche. Der Begriff geht auf das altgriechische Psyche (ψυχη) = Hauch, Atem zurück. So wie die Grenzen der Seele im See verschwimmen, geht der Atem unabgrenzbar ins Luftmeer über. Offensichtlich setzt auch das griechische Bild voraus, dass die Seele kein abgetrenntes Etwas ist, sondern ein Ineinanderübergehen zeitlich oder vordergründig getrennter Bereiche.

Sprachgebrauch
Im heutigen Sprachgebrauch ist die Verwendung von Seele und Psyche nicht immer deckungs­gleich. Die objektivierende Wissenschaft greift zum Begriff Psyche. Sie begreift Psyche als reflektionsfähige Funktionsebene abgegrenzter Individuen. Sie klammert die Frage nach einer wesensgleichen Verbindung des Ich zum Ganzen aus. Ganzheitliche Weltanschauungen bevorzugen den Begriff Seele. Sie wollen ihn so verstanden wissen, dass Seele auf die Verbindung zum absoluten Selbst verweist.

Die Beschreibung des Todes als ein Aushauchen der Seele, trägt dem Konzept ihrer Unabgrenzbarkeit Rechnung. Die Seele wird wohlgemerkt ausgehaucht, nicht ausgelöscht; was eine zeitliche Begrenzung bedeuten würde. Sie kehrt zu ihrem Ursprung zurück; sei er nun bildlich als Ozean oder als Luftmeer aufgefasst.

1.3. Geist

Auch der Geist ist kein Ding mit eigenen Grenzen. Das macht die Herkunft des Begriffes klar. Geist geht auf indogerma­nisch gheis = erregt sein, schaudern zurück. Eigentlich heißt Geist Ergriffenheit, Erregung; und ist somit nichts, was im Raum konkret zu orten wäre. Geist ist das, was dafür sorgt, dass sich ein Körper regt. Das Erregtsein des Körpers lässt darauf schließen, dass er von einer Kraft ergriffen ist. Was Körper in eine Erregung bringt, die man physikalisch weder erzeugen noch erklären kann, nennen wir Geist.

Aufenthaltsorte
Zur Seele und ihren drei Begriffsverwandten gehört das Fehlen einer festgelegten Form. Da aber nur dem, dessen Form festliegt, ein Wo zugeordnet werden kann, ist davon auszugehen, dass weder der Geist, noch die Seele oder das Subjekt topographisch im Diesseits zu orten sind. Sie können nur an jenem Nicht-Ort sein, den die Sprache als Jenseits bezeichnet. Wenn dem so ist, geht das Ich nicht als Seele ins Jenseits ein. Es hat es nie verlassen; und ist es schließlich selbst. Das Ich mag als Form erscheinen, sein Wesen ist das Jenseits der manifesten Form und kann, da ihm die Form fehlt, nicht zerfallen.

Perspektiven
Die Deutung, dass Materie der Gravitationskraft unterworfen ist, ist eine einseitige Sichtweise des Subjekts. Genauso kann man sagen, dass Materie Gravitationskraft hervorbringt, weil es zu ihrem Wesen gehört, sich wechselseitig anzuziehen, also Zusammenballung anzustreben. So gesehen ist sie nicht Opfer der Gravitationskraft, sondern die Kraft ist ihr Mittel.

Die Unfassbarkeit des Geistes durch physikalische Gesetze deutet darauf hin, dass Geist über den Wirkbereich des Physikalischen hinausreicht und daher durch die Physik nicht umfassend zu erklären ist; es sei denn die Quantenphysik entdeckt eine Tür, deren Zargen eine neue ⇗Unschärferelation begründen: die zwischen Geist und Materie.

Materie wird eine Zeitlang ergriffen. Das bedeutet nicht, dass die jeweils zeitliche Begrenzung ihrer Regsamkeit eine Begrenzung des Geistes anzeigt, sondern eine Begrenzung von dessen Zugriff auf ansonsten unbelebten Stoff.

1.4. Subjekt

Das Subjekt existiert zwischen zwei Polen, deren Wesen sich im Begriff zum Ausdruck bringen. Subjekt entstammt dem lateinischen subicere = darunter werfen, zugrunde legen.

  1. Zum einen ist das Subjekt Grundlage an sich. Es ist der Wirklichkeit dergestalt zugrunde gelegt, dass Wirklichkeit ohne seine Gegenwart bedeutungslos wäre.

  2. Zum anderen erscheint das Subjekt in belebten Objek­ten, wodurch es dann der Begrenzung des Objektes unterworfen ist. Unterworfen kann nur sein, was sein Wesen erst durch Selbstbestimmung verwirklicht. Deshalb ist das Subjekt, das sich im Objekt gefangen sieht, ständig neuer Leiden gegenwärtig; und es ist vom Drang beseelt, sein Unterworfensein zu überwinden.

Existenz

Eben hieß es: Das Subjekt existiert zwischen zwei Polen. Der Begriff Existenz bedarf einer Erklärung. Er geht auf das lateinische ex-sistere = heraustreten zurück. Jedem Heraustreten eines existierenden Etwas entspricht sein Eintreten in das Feld, in dem es existierend auf andere Existenzformen trifft. Existenz ist stets ein Erscheinen in Dualität, also die Begegnung mit etwas jeweils anderem, dem gegenüber das Existierende entblößt wird.

Zum üblichen Denkmuster gehört, den Wirklichkeitscharakter des Existieren­den zu bejahen und den des Inexistenten zu verneinen. Das ist zu kurz gedacht. Tatsächlich kann das Subjekt als Existenzform in Erscheinung treten... und es tut das tausendfältig. Im anderen Pol seines Wesens existiert es jedoch nicht. Es ruht in sich, ohne aus sich selbst herauszutreten... und steht gerade deshalb über allen Formen entblößter Existenz.

Nichtexistentes kann zweierlei sein: unwirklich oder überwirklich.

Als nicht existent im Sinne von unwirk­lich können grüne Steinadler mit sechs Augen auf Madagaskar gelten. Zumin­dest wurden noch keine entdeckt und es gibt nur wenige Biologen, die von einer baldigen Entdeckung ausgehen.

Als Überwirkliches ist das Subjekt unbegrenztes Potenzial, als Wirkliches ist es existente Form, als in der Existenz Verwirklichtes ist es aus der Form entbunden. Auf eine Grenze, die ihm tatsächlich Grenzen setzt, trifft es dabei nicht.

2. Reihenfolgen

Die Kernfrage des menschlichen Selbst­verständnisses lautet: Ist der Mensch beseelt oder ist er es nicht? Ist er Teil oder Ausdruck?

Man kann die Begriffe untersuchen und glauben, die Sache sei durch das Ergebnis erledigt. Das ist sie nicht. Die Kernfrage ist ungeklärt. Sie lautet...

Liegt dem, was als Seele, Psyche, Geist oder Subjekt genannt wird, ein eigenständiges Selbst zugrunde, oder verhält sich die Seele zum Körper wie die Fahrt zum Auto?

Die Existenz einer psychischen Dimension nehmen wir als gegeben hin. Wir erleben ein virtuelles Gefüge formbarer Muster... und nennen es Psyche. Gleiches gilt für den Geist. Wir berechnen die Wurzel aus zwei, bezeichnen das als einen geistigen Akt und schlie­ßen von dort aus auf die Existenz eines Geistes, der rechnen kann. Und schließlich erkennen wir Gedanken, die mit Ich beginnen, und denken: Ich denke, also bin ich. Oder: Ich bin die Instanz, die den Gedanken erkennt.

Ob die Existenz psychischer und geistiger Vorgänge jedoch das eigenständige Selbst eines erlebenden Subjekts belegt, das mehr ist als die vorübergehende Funktion eines hinfälligen Körpers, ist unbewiesen. Sobald man den Begriff Seele wählt, hat man sich jedoch dazu entschieden, vom Sein eines absoluten Selbst auszugehen, mit dem die Erscheinungsform Mensch verbunden ist.

Mögliche Reihenfolgen

Die Dimension des Geistes...
ist eine Funktion der Komplexität materieller Strukturen. ist eine Kraft, die materielle Bausteine zu komplexen Strukturen verzahnt.
ist den Gesetzen der Materie untergeordnet. Ihr Streben nach Selbstbestimmung ist ein heroischer Versuch, der ihren Rang in der Wirklichkeit verkennt und letztendlich scheitern muss. ist der Begrenztheit materieller Strukturen nur soweit ausgeliefert, wie es ihrer Erfahrung dualer Gegensätze entspricht.

Im ersten Falle wäre das Erlebnis der Begrenzung Ausdruck der Begrenztheit. Im zweiten Falle wäre es Ausdruck einer Unbegrenztheit; weil Unbegrenztheit begrenzt wäre, wenn sie nicht auch das Erleben der Begrenzung umfasste.

3. Grenze und Leid

Die Dimension des Unbegrenzten, auf die die beschriebenen Begriffe verweisen, kommt in der Person nur gebrochen zum Ausdruck. Die Person ist durchaus begrenzt: zeitlich durch Geburt und Tod, räumlich durch den Horizont ihres Zugriffs auf die Wirklichkeit, biologisch, politisch und sozial durch die Grenzen ihres Machen- und Bewirkenkönnens, intellektuell durch die physiologische Dummheit des Menschen. Dem entspringt das seelische Leid. Seelisches Leid entsteht durch die Begrenzung dessen, dem Unbegrenztheit wesensnäher als Begrenzung ist.

Freudlose Roboter

Seelisches Leid ist stets Folge einer Begrenzung. Letztendlich wird Begrenzung nur deshalb leidvoll erlebt, weil sie nicht dem Wesen des Beseelten entspricht. Im Umkehrschluss kann man vermuten, dass ein Roboter nicht unter seinen Begrenzungen leidet. Dem Wesen des Roboters fehlt die Dimension der Unbegrenztheit. Er ist unbeseelt. Seelisches Leid entspringt der Eingrenzung der unbegrenzten Dimension des Selbst durch die Grenzen der Person. Es ist Folge der Erscheinung des Unbegrenzten in begrenzter Form.

Daher gilt: Freude ist das Erlebnis der Freiheit. Freude wird nur dem zuteil, der in der Lage ist, zu leiden.

3.1. Alltägliche Begrenzungen

Leidvolle Erfahrungen finden täglich statt. Die Spannbreite reicht vom kleinen Ärgernis bis zum tiefem Kummer.

Normales Leid entsteht an jenen Stellen, wo der Impuls spontaner Lebendigkeit auf Grenzen trifft.

3.2. Psychopathologie

Während das Leiden an den Grenzen des Alltags kommt und geht, wird es als psycho­pathologisches Symptom zu einem festen Muster, das sich stereotyp wiederholt.

Seelisches Leid entsteht durch eine Begrenzung der Seele. Seelisches Leid heißt nicht, dass die Seele durch die Begrenzung in ihrem Wesen Schaden nähme.

Begriffliche Verwirrung
Häufig sprechen Menschen von ihren seelischen Verletzungen. Die Wendung ist unglücklich gewählt. Sie stiftet Verwirrung und untergräbt das Selbstwertgefühl. Das Wort Verletzung wird analog zur Schädigung körperlicher Strukturen durch Gewalt verwendet und auf seelische Zustände übertragen. Das passt nicht, weil die Seele keine objektivierbare Struktur hat, die geschädigt werden könnte.

Seele, so haben wir gesehen, kann sinnbildlich als Verbindung zum Ozean verstan­den werden. Ebenso wenig wie Wasser einen Schaden erleidet, wenn man es mit Steinen bewirft, erleidet die Seele eine Verletzung, wenn der Person Widrigkeiten begegnen; auch nicht, wenn diese grob missachtend oder feindselig sein sollten. Durchschlägt ein Stein die Wasseroberfläche, mag es spritzen. Kein Stein kann das Wasser aber je in eine Form zwingen, die seinem Wesen widerspricht; erst recht nicht auf Dauer. Es bleibt intakt.

So ist es auch mit der Seele. Die Person mag bittere Erfahrungen machen. Sie kann darauf mit Angst, Wut oder tiefsitzendem Misstrauen reagieren. Überlässt man die Seele aber wie Wasser sich selbst, findet jede Turbulenz zu einer Stille zurück, auf der ebenso wenig wie auf Wasser eine Narbe bleibt.

Wer nicht versteht, dass sein Wesenskern unverletzbar ist, liefert sein Selbstwert­gefühl willkürlichen Urteilen über äußere Ereignisse aus. Den unverbrüchlichen Wert, den sein Kern hat, erkennt aber nur, wer versteht, dass sein Kern durch keine Macht der Welt beschädigt werden kann.

3.3. Todesängste

Die ergiebigste Quelle seelischen Leids ist das Wissen um die Sterblichkeit. Die zeitliche Begrenzung der persönlichen Existenz ist die radikalste Grenze, auf die ein bewusstes Wesen stoßen kann. Dementsprechend sind Bedrohungen der leiblichen Existenz gege­benenfalls von massiven Ängsten begleitet, die alle übrigen Inhalte aus dem Bewusst­sein verdrängen. Sich nicht als Person, sondern als Unbegrenztes zu verstehen, ist ein Mittel, um die Todesangst zu relativieren.

4. Befreiungen

Da seelisches Leid Begrenzung bedeutet, wird das Ende des Leidens als Befreiung erlebt. Das gilt im Großen wie im Kleinen.