Nachträgliche Bemerkungen
Meinungen sind Urteile über die Wirklichkeit. Wer etwas meint, bezieht der Wirklichkeit gegenüber Stellung. Auch Meinungen dienen der Abwehr von Angst.
Meinungen stärken das Ego. Meinungen geben dem Ego Stabilität und Orientierung. Wer zu den Dingen etwas meint, weiß, wo er steht. Und indem er zu seinen Meinungen steht, macht er sich unbeugsam. Wer nicht nachgibt, behauptet sich. Er wächst um eine Kopfeslänge über die Schultern hinaus.
Feste Meinungen sind Festungen. Sie schützen das Innere vor Einflüssen der Außenwelt. Sie hindern ihre Inhaber aber auch daran, ins Freie zu gehen. Um nicht zum Gefangenen seiner Meinungen zu werden, gilt es, Meinungen nicht allzu ernst zu nehmen. Meinungen können Betrüger sein. Sie versprechen Sicherheit. Tatsächlich machen sie nur unfrei. Wenn Sie etwas meinen, machen Sie sich klar: Das ist nur eine Meinung. Stünde ich an einer anderen Stelle im Leben, könnte meine Meinung eine ganz andere sein.
Es macht Sinn, dem Begriff Meinungsfreiheit zwei Inhalte zu geben.
Der Begriff Meinungsfreiheit kann auch anders verstanden werden: als Befreiung des Individuums aus dem beengenden Horizont feststehender Meinungen. Hierbei handelt es sich um eine intrapersonelle Freiheit. Als Fernziel der Spiritualität kann die Befreiung aus dem Horizont persönlicher Meinungen in eine transpersonelle Freiheit führen. Transpersonell ist die Freiheit, wenn sich das Ich aus der Identifikation mit der Person losgelöst hat. Meinungen festigen die Identifikation des Individuums mit seiner Person.
Zwei Arten mit Meinungen umzugehen
Immer heilsam | Meist schädlich |
Meinungsaustausch | Meinungsstreit |
Sich über Meinungen zu streiten ist weit verbreitet. Man spricht sogar von einer Streitkultur und ordnet dem Streit damit einen Wert zu, den er nicht hat.
Ursache des Meinungsstreits ist die Identifizierung der Meinungsträger mit ihren Meinungen. Obwohl das Mein- in Meinung sprachgeschichtlich keineswegs mit dem besitzanzeigenden Fürwort mein verwandt ist, reagieren Meinungsträger auf die Infragestellung ihrer Meinungen oft so, als versuche man ihnen einen wertvollen Besitz oder gar den Kern ihres Wesens zu entreißen. Sie wehren sich verbissen und gehen in der Regel sogar in die Offensive über, als sei Angriff tatsächlich die beste Verteidigung.
Die Identifikation mit der eigenen Meinung ist Ausdruck der Identifikation mit der eigenen Person. Personen ordnen sich Meinungen zu, als seien sie konstituierende Elemente ihrer selbst. Sie machen sich nicht deutlich, im welchem Ausmaß Meinungen zufällig und austauschbar sind.
Annalena ist fest davon überzeugt, die einzig richtigen Sichtweisen auf gesellschaftliche Probleme zu vertreten. Dass andere Leute die Dinge anders sehen, kann sie sich nur durch deren Dumm- und Bosheit erklären. Wäre Annalena aber nicht in den 80er Jahren in einem bürgerlichen Haushalt in Franken geboren, sondern in den 60ern als Bergmannstochter im Donezbecken, könnte es gut sein, dass sie zu den meisten Themen ganz andere Meinungen hätte.
Der Begriff Meinungsträger drückt die Verhältnisse deutlich aus. Meinungen sind Lasten, die ihr Träger zu ertragen hat. Es stimmt schon: Er trägt sie, um sie als Schutzschild und Waffe zu benutzen. Beim Versuch, seine Meinung im Streit auf andere zu übertragen, strebt er nach der Erfüllung einer tiefsitzenden Sehnsucht; nämlich der, sicher im Schoße einer Welt aufgehoben zu sein, die umfassend mit ihm übereinstimmt. Dafür will er kämpfen.
Der Kampf führt aber zum Gegenteil. Er verhärtet die Fronten. Die Welt wird noch kantiger, was noch mehr Streitbereitschaft zu rechtfertigen scheint.
Krieg und Frieden
Friedliche Leute streiten nicht über Meinungen. Sie tauschen sie miteinander aus. Sie anerkennen, dass Meinungen nur Meinungen sind, also unsichere Deutungen einer komplexen Wirklichkeit, die man nur im Ansatz versteht. Beim Austausch von Meinungen wollen sie eher verstehen, wie andere zu ihrer kommen, als dass sie es erzwingen wollten, die eigene zu übertragen.
Was Sie für sich Gutes tun können
Machen sie sich das Leben leichter. Werfen Sie die Last Ihrer Meinungen ab. Sagen Sie sich: Was ich da für richtig halte, ist bloß eine Meinung. Dass ich genau diese Meinung für meine eigene halte, ist nicht mein Werk. Es ist das Resultat einer Kaskade von Erfahrungen, auf deren verursachende Wirkkräfte ich nur wenig Einfluss habe. Nicht ich habe eine Meinung. Meinungen haben und bestimmen über mich. Indem ich sie weniger ernst nehme, mache ich mich frei.