Sünde


  1. Begriffsbestimmung
  2. Geschichtlicher Hintergrund
  3. Ausgangspunkt Ursünde
  4. Roter Faden
  5. Konsequenzen
  6. Sünde und Religiosität
Den Griff zum Baum der Erkenntnis als Ursünde zu bezeichnen, war die Ursün­de des abrahamitischen Kulturkreises.

Nur ein Glaube, der weiß, dass er über die Wahrheit irrt, fürchtet Erkenntnis.

Geglaubt werden kann alles, erkannt werden nur eins: die Wahrheit.

1. Begriffsbestimmung

Der Begriff Sünde ist germanischen Ursprungs. Das belegen die ent­sprechenden Ausdrücke im Niederländischen (zonde), Schwedischen (synd) und Englischen (sin). Weitere sprachgeschichtliche Hintergründe sind unklar.

Der deutsche Begriff wurde vom frühen Christentum geprägt. Er bezeich­net einen Verstoß gegen Regeln, die angeblich von Gott persönlich offenbart worden sind. Er dient der Übersetzung entsprechender Begriffe der hebräischen (chat'ah [חטּאת]), griechischen (hamartia [αμαρτια]) bzw. lateinischen Bibel (peccatum).

Die Definition des Begriffs Sünde bedeutet zugleich eine Unterscheidung von Sünde und Schuld. Im Christentum werden beide Begriffe zum Teil synonym verwendet. Es macht aber Sinn, sie voneinander zu unterscheiden.

Schuld

Faktischer Schaden zum Nachteil eines Menschen

Sünde

Verstoß gegen den hypothetischen Willen Gottes


Zur Ermittlung dessen, was schuldhaft ist, bedarf der Mensch keiner göttlichen Offenbarung. Die Anwen­dung der Goldenen Regel genügt.

Da der Mensch Gott keinen faktischen Schaden zufügen kann, sind als sündhaft definierte Verstöße inhaltlich nichts anderes als Verstöße gegen den geforderten Gehorsam. Während es sich bei der Schuld um eine Störung im Verhältnis zweier ebenbürtiger Instanzen handelt, nämlich zweier menschlicher Personen, impliziert der Begriff Sünde eine übergeordnete Instanz, der gegenüber eine vorgebliche Gehorsamspflicht abzuleisten ist, deren Funktion darin besteht, die Bereitschaft zur Unterwerfung anzuzeigen.

2. Geschichtlicher Hintergrund

Die Mythen der abrahamitischen Theologie sind als weltanschauliche Begleiterschei­nungen politischer Ereignisse verstehbar. Die kriegführende Partei hat genau jene Theologie erschaffen, die ihrem militärischen Vorhaben entsprach.

Es heißt, der Krieg sei der Vater aller Dinge. Das ist er gewiss nicht. Aber er ist der Vater der abrahamitischen Mythologie.

Der biblische Sündenbegriff ist der grundlegende Bestandteil der abrahamitischen Theologie. Die Entstehung der abrahamitischen Theologie ist untrennbar mit den militärischen Vorhaben Moses' und seiner Nachfolger verbunden. Dabei ist es nebensächlich, ob es Moses als reale Person gegeben hat oder ob er wie Abraham als bloß mythische Figur dazu diente, die politischen und militärischen Zielsetzungen der hebräischen Führung zu rechtfertigen.

Die Zielsetzung, um die es dabei ging, ist im Alten Testament detailliert beschrieben. Ihr Kern war die Eroberung Kanaans sowie die Vernichtung bzw. Vertreibung der bislang dort ansässigen Bevölkerung. Zu diesem Zweck galt es, die zwölf hebräischen Stämme, die bis dahin als loser Verbund unter ägyptischer Vormundschaft auf deren Boden lebten, zu einer ethnisch geschlossenen Einheit zusammenzuführen, deren Schlagkraft ausreichte, Moses' Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das Altes Testament beschreibt die Vorgänge vom Auszug aus Ägypten bis zur Herrschaft der Makkabäer.

Vier Komponenten eines geschichtlichen Prozesses

  1. Schaffung einer politischen Einheit mit ethnisch definiertem Nationalbewusstsein

    5 Moses 7, 1-5:*
    Der Herr... wird... sieben Völker... vor dir vertreiben. Wenn der Herr... sie dir übergibt... sollst du an ihnen den Bann vollstrecken; du sollst... keine Gnade an ihnen üben! Auch darfst du dich nicht mit ihnen verschwägern...

  2. Errichtung einer theokratisch legitimierten Militärdiktatur

    Josua 1, 16-18:*
    Alles, was du uns befiehlst, wollen wir tun... Jeder, der sich deinem Befehl widersetzt... soll sterben.

  3. Eroberung Kanaans und Beseitigung der dortigen Völker

    5 Moses 7, 20:*
    ... bis die Übriggebliebenen vernichtet sind und auch die, welche sich vor dir versteckt haben...

    Josua 11, 14:*
    Jedoch alle Leute schlugen sie... bis zu ihrer völligen Vernichtung;

  4. Errichtung einer Hegemonialmacht auf dem eroberten Boden zwecks Beherrschung der Nachbarvölker

    Isaias 61, 6:*
    Die Habe der Völker werdet ihr genießen und ihres Reichtums euch rühmen.

    Sacharja 14, 14:*
    Der Besitz aller Völker ringsum wird eingebracht, Gold, Silber und Kleider in großer Menge.

3. Ausgangspunkt Ursünde

Weichensteller des Krieges

  1. Gehorsamspflicht
  2. Entwertung

Der biblische Sündenbegriff postuliert eine imaginäre Schuld. Durch die Furcht vor der imaginären Schuld des Ungehorsams wurde die faktische Schuld, die die Gründerväter des Glau­bens begingen, aus dem Bewusstsein verdrängt.

Die Schuldhaftigkeit ihrer Taten war den Gründern des Glaubens zumindest vorbewusst. Sonst hätten sie den Erwerb der Fähigkeit, das Böse zu erkennen, nicht zu einer Tat erklärt, die angeblich Gott missfiel.

Die Grundvoraussetzungen für das Gelingen der ehrgeizigen Pläne Moses' waren die gleichen wie bei allen Kriegen zuvor und danach.

  1. Um im Krieg erfolgreich zu sein, bedarf es des Gehorsams all jener, die man zum Militärdienst verpflichtet.
  2. Da in jedem Angriffskrieg Verbrechen zu begehen sind, muss im Krieg das Verbot, Verbrechen zu begehen, aufgehoben werden.

  3. Unvermeidbar wird im Krieg gegen grundlegende Regeln der Menschlichkeit verstoßen. Das ist umso leichter, je mehr man den Wert des Gegners herabsetzt. Da auch die Unterwerfung der eigenen Bevölkerung unter eine Befehlshierarchie und die damit verbundenen Zwangsmaßnahmen entwertend sind, relativiert jede Instanz, die Kriege plant oder führt, auch den Wert der eigenen Soldaten; besonders, wenn sie von sich aus zum Angriff übergeht. Im Interesse des Kriegsziels setzt sie den Wert des Menschen an sich herab.

Die Beschreibung des Sündenfalls von Adam und Eva, mit der die mora­lische Botschaft der Bibel anhebt, dient der theologischen Rechtfertigung dieser Zwecke. Die Beschreibung enthält zwei metaphorische Aussagen, die den genannten Grundvoraussetzungen entsprechen:

1 Moses 3, 5 - 6:*
Vielmehr weiß Gott, daß euch, sobald ihr davon eßt, die Augen aufgehen und ihr... Gutes und Böses erkennt... Da sah die Frau, daß der Baum gut sei... um weise zu werden.

1 Moses 3, 22:*
Dann sprach er:" Ja, der Mensch ist jetzt wie einer von uns geworden, da er Gutes und Böses erkennt. Nun geht es darum, daß er nicht noch seine Hand ausstrecke, sich am Baum des Lebens vergreife, davon esse und ewig lebe."

3.1. Lob des Gehorsams
Ein Glaube, zu dem man sich bekennen muss, ist nichts anderes als ein Gehorsam, zu dem man gezwungen wird. Glaubenspflicht und Gehorsam sind eins. Es ist die Bereitschaft, zu unterwerfen: sich selbst und von dort aus den Gegner, zu dessen Unterwerfung man sich gehorsam zusammenschließt.

Der Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies nennt als seine Ursache Ungehorsam. Der Mensch habe getan, was ihm angeblich verboten war. Das sei die Ursache all seines Leids. Im Umkehr­schluss heißt das: Das Heil ist durch Gehorsam wiederzugewinnen. Die militärische Führung der Hebräer versprach ihrem Volk ein paradiesisches Leben in einem Land, wo Milch und Honig fließen, wenn es der Sünde des Ungehorsams abschwört und sich bedingungslos dem Kriegsziel verschreibt.

Der gleichen Botschaft dient der Mythos um Abrahams Bereitschaft, Isaac zu opfern (1 Moses 22, 2-17). Wer sich an Abrahams Gehorsam ein Beispiel nimmt und bereit ist, seine Söhne für den Krieg um Kanaan zu opfern, hat Anspruch auf seinen Teil am eroberten Land (Joschua 14-17).

3.2. Erkenntnisverbot

Der Mythos des sündhaften Griffs zum Baum der Erkenntnis erklärt die eigenständige Unterscheidung von Gut und Böse zur Sünde. Da der Krieg und die Ausrottung anderer Völker Böses vollstreckt und die Erkenntnis, Böses zu tun, die Entschlossenheit der Truppe schwächen könnte, wird sie zur Erbsünde erklärt.

Schuldfähigkeit
Vom Baum der Erkenntnis zu essen, kann keine Schuld gewesen sein, weil man ohne die Kenntnis des Unterschieds von Gut und Böse nicht schuldfähig ist. Wenn tatsächlich ein Verbot bestand, nach dem Apfel zu greifen, hätten Adam und Eva erst im Nachhinein erkennen können, dass die Überschreitung des Verbots böse ist. Zum Tatzeitpunkt waren sie damit schuld­unfähig. Also ist der biblische Mythos von der Ursünde bar jeden religiösen Sinns. Er dient der Blendung Gläubiger durch politische Macht.
Wenn im Umgang mit Erkenntnis überhaupt etwas als schuldhaft zu betrachten ist, dann das Gegenteil dessen, was die Bibel als Ursünde bezeichnet. Nicht Erkenntnis ist schuldhaft, sondern die Weigerung, sie anzunehmen, obwohl das Erkennbare offenkundig ist.

Die Fähigkeit, das Böse zu erkennen, das jeden Angriffskrieg begleitet, ist im Menschen angelegt. Der Mensch weiß von jeher, dass der Mord an seinesgleichen böse ist. Das war den Autoren der Bibel bekannt. Da die Anwendung dieser Fähigkeit das Erreichen des Kriegsziels zu gefährden droht, hat der Gläubige die Pflicht, das offensichtliche Unrecht, das die militärischen Führung begeht, zu verleugnen. Hand in Hand mit der Vererbung der Erkenntnisfähigkeit, wird die Pflicht vererbt, sie nicht anzuwenden, damit der Glaube an die Rechtmäßigkeit des Glaubens bestehen bleibt.

Um das biblische Tabu der eigenständigen Unterscheidung von Gut und Böse besser einzuordnen, macht es Sinn, sich die grundlegende Bedeutung des Gegensatzpaares ins Gedächtnis zu rufen.

3.2.1. Das Gute

Der Begriff gut geht auf die indoeuropäische Wurzel ghedh- = umklammern, zusammenfügen, zupassen zurück. Gut ist der, der einem anderen so begegnet, dass es zum Wesen des anderen passt und so dessen Wohl fördert. Die gute Absicht fügt Bestehendes in eine gemeinsame Einheit zusammen.

Gut

Wir wollen unser Potenzial in Eure Gemeinschaft einbringen.

Böse

Wir wollen euch verdrängen.

3.2.2. Das Böse

Im Gegensatz zum Guten, das sich bejahend in Bestehendes einfügt, ist das Böse verdrängend. Das Böse versucht, sich auf Kosten anderer auszudehnen. Dazu wertet es andere ab, raubt ihnen die Ressourcen und vernichtet sie. Die böse Absicht erhebt Anspruch. Sie entwertet, grenzt ab und vernichtet das Ausgegrenzte.

Schuld oder bloß Sünde

Erst indem er Gut und Böse voneinander unterscheidet, wird der Mensch zum Menschen. Ohne das wäre er eine künstliche Intelligenz oder ein intelligentes Tier. Erst wenn er Gut und Böse voneinander unterscheiden kann, wird eine eigentlich menschliche Gemeinschaft möglich. Bis dahin ist er nur fähig, eine Horde zu bilden.

Die Unterscheidung von Gut und Böse schadet niemandem. Im Gegenteil: Sie ermöglicht, das tatsächlich Gute zu tun, sich nämlich zum Vorteil aller einzu­passen. Deshalb lädt der, der zu unterscheiden lernt, keine Schuld auf sich. Er sorgt vielmehr dafür, dass er in Zukunft schuldhafte Taten vermeiden kann.

Da der militärische Plan der mosaischen Partei vorsah, schuldhaft Böses zu vollstrecken, galt die Fähigkeit, Böses als böse zu erkennen, als Sünde wider den Willen ihres Gottes. Sie entwarfen ihn als einen Kriegsgott und nannten ihn folgerichtig den Herren der Heerscharen (Jeremias 31, 35).

3.3. Leugnung unbedingten Werts

Unsterblichkeit

Alles Sterbliche ist Objekt. Es ist Erscheinung und geformte Sache, die zerfallen wird. Nur was der Erscheinung unvergänglich inneliegt, ist wahrhaft wirklich. Sterbliches ist Aufscheinen dessen, worin es hinter dem Erscheinen eingebettet ist.


Gottes angebliche Absicht, den Menschen daran zu hindern, nach dem Baum des Lebens zu greifen, verschlüsselt die dritte Komponente des Konzeptes der Ursünde. Das ewige Leben ist gleichbedeutend mit unbedingtem Wert. Nur wessen Dasein nicht von Bedingungen abhängt, die von jenseits seiner selbst über ihn bestimmen, hat unbedingten Wert.

Tatsächlich ist es aber nicht so, dass der Mensch erst durch den Diebstahl göttlicher Äpfel unbedingten Wert bekäme, er ist ihm vielmehr durch die Subjektivität, die in ihm zum Ausdruck kommt, von je her eingeboren. Die Metapher benennt daher nicht Gottes Furcht, der Mensch könne unbedingten Wert verkörpern, sondern die Furcht der militärischen Führung, er könnte seinen unbedingten Wert erkennen: denn welche Kriegsgräuel wäre der Mensch noch bereit zu begehen, wenn er im Menschsein an sich einen unbe­dingten Wert erkennen würde, den jeder Mensch, also auch der Feind, mit Gott gemeinsam hat?

Ich bin, der ich bin
Offensichtlich ist in den biblischen Text ein Wissen um das eigentliche Wesen Gottes eingeflossen; um schließlich unter dem Druck abweichender politischer Deutungen begraben zu werden.

2 Moses 3, 13-14:*
Moses sprach zu Gott: "Wenn ich nun zu den Kindern Israels komme und zu ihnen spreche: 'Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt', und sie mich dann fragen werden: 'Wie heißt er?', was soll ich ihnen dann antworten?" Gott entgegnete dem Moses: "Ich bin, der ich bin!"

So heißt es in der Thora. Das Ich bin, der ich bin ist eine Übersetzung des hebrä­ischen Tetragramms JHWH [יהוה]. Hier wird Gott als das mit sich identische Subjekt dargestellt. Als Verwirklichung der höchsten Ebene ist das Selbstsein erkannt. Statt Religion aber als Ermutigung zu definieren, das Höchste genau dadurch zu ehren, indem man seinem Wesen nacheifert und der Treue zu sich selbst den Vortritt vor anderem lässt, verleitet der militärische Vorsatz des Ursprungs den Einzelnen zum Gegenteil: sich in blindem Gehorsam zu verraten.

4. Roter Faden

Die Ersetzung der eigenständigen Erkenntnisfähigkeit durch Gehorsam und Glaubens­pflicht ist das zentrale Anliegen der abrahamitischen Religion. Das Alte Testament beschreibt ein jahrhundertelanges Ringen zwischen zwei hebräischen Lagern. Auf der einen Seite standen die Mitstreiter und geistigen Erben Moses'. Sie fochten für einen monolithischen Gottesstaat unter ihrer Herrschaft. Auf der anderen Seite standen liberale Kräfte, die für individuelle Eigenständigkeit, kulturellen Pluralismus und die Vermischung mit anderen Völkern eintraten.

Weltanschaulicher Pluralismus

Die Fähigkeit zur eigenständigen Unterschei­dung von Gut und Böse ist dem Individuum in Form eigener Verstandesfähigkeit beigelegt. Da die Blickwinkel von Individuen unterschiedlich sind, entwickelt sich bei ungestörter Verstandestätigkeit ein weltanschaulicher Pluralismus. Das läuft den Absichten jeder Diktatur zuwider. Deshalb wirken Diktaturen darauf hin, dass der Mensch den Anspruch aufgibt, eigenständig über Gut und Böse zu entscheiden und stattdessen Urteile nachspricht, die von außen vorgegeben werden.

Je mehr sich Menschen mit autoritären Weltbildern identifizieren, desto lauter pochen sie auf die vorgegebene Moral. Das sieht so aus, als ob sie Gut und Böse unterscheiden und als würden sie deshalb so laut pochen, weil sie den Unterschied so deutlich sehen. Tatsächlich pochen sie aber nicht aus Einsicht, sondern um mitzulaufen.

Parallel zum Ringen um die Vorherrschaft entstand das Alte Testament als Manifest und Logbuch der mosaischen Partei. Im Verlauf seiner Entstehung wurde das Erkenntnis­verbot in immer neuen Varianten wiederholt:

1 Moses 9, 18-26:*
Die Söhne Noes... waren Sem, Cham und Japhet... von ihnen stammt das ganze Menschengeschlecht ab. Noe... trank von dem Weine, ward berauscht und lag entblößt in seinem Zelte. Cham, der Vater Kanaans, sah die Blöße seines Vaters, und er teilte es seinen beiden Brüdern draußen mit. Sem und Japhet aber nahmen einen Überwurf, ... gingen rückwärts hinein und bedeckten die Blöße ihres Vaters. Ihr Gesicht war rückwärts gerichtet, sodaß sie die Blöße ihres Vaters nicht sahen. Als Noe aus seinem Rausch erwachte, erfuhr er, was sein jüngerer Sohn ihm angetan hatte. Er sprach: "Verflucht sei Kanaan; ein Knecht der Knechte sei er seinen Brüdern!"

Die Sünde Chams, die ihn der Vernichtung und Knechtschaft preisgab, lag darin, die Blöße des Vaters zu sehen. Die Botschaft heißt: Die Blöße der Väter, sei es die Unrechtmäßigkeit des Glaubens oder das Böse, das sie im Rausch der Eroberung Kanaans begingen, darf nicht erkannt werden.

4 Moses 4, 19-20:*
... Aaron und seine Söhne sollen... Mann für Mann anweisen, was sie zu tun... haben, damit sie nicht etwa hineingehen und das Heiligste auch nur einen Augenblick sehen, sonst müssten sie sterben.

Durch das Erkenntnisverbot wird nicht der gepredigte Glaube gestärkt, son­dern der Glaube, dass man glaubt oder tunlichst glauben sollte. Das Verbot führt zur Verdrängung aller Indizien, die am Glauben Zweifel begründen.

Erkenntnis versucht das Wahre zu ermitteln. Sie versucht herauszufinden, was man für wahr halten kann. Glaube ersetzt die Suche nach Wahrheit durch Dogmen. Er gibt vor, was man für wahr zu halten hat. Niemals wird es einen Dogmenglauben geben, der nicht fürchtet, dass die Wahrheit ihn entmachtet.

Alle abrahamitischen Religionen sind im Irrtum gefangen, die Suche nach Er­kenntnis könne eine Sünde wider Gott sein. Die Behauptung einer solchen Sünde war ein Angriff der Macht auf den Geist. Jede Glaubenspflicht begründet das Tabu, ihr Unrecht zu erkennen. Dafür ist sie da.

Den Kehatiten, die am sogenannten Offenbarungszelt, das die Bundes­lade enthielt, Dienst verrichteten, war es bei Todesstrafe verboten, sich durch eigene Anschauung Erkenntnisse über den tatsächlichen Inhalt der Wohnstätte des Herren zu verschaffen.

5 Moses 18, 15-18:*
Einen Propheten... wird der Herr... entstehen lassen; auf ihn sollt ihr hören. In diesem Sinne... hast du (das Volk)... es gefordert, als du sprachst: "Nicht mehr will ich die Stimme des Herrn... vernehmen und dieses gewaltige Feuer nicht mehr sehen, damit ich nicht sterbe... Da sprach der Herr zu mir: "... meine Worte will ich in seinen Mund (des Propheten) legen..."

Laut Bibel forderten die Hebräer von Gott, dass der Einzelne das Wahre nicht mehr persönlich erkennen kann, sondern darauf angewiesen ist, zu glauben, was man ihm zu glauben vorgibt.

Matthäus 5, 29-30:*
Wenn dein rechtes Auge dir zum Ärgernis wird, so reiß es aus und wirf es von dir; denn es ist besser für dich, daß eines deiner Glieder verlorengehe, als daß dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde.

Auch Jesus betont: Sobald ein Auge etwas wahrnimmt, was es nicht erkennen sollte, ist es besser, man reißt es sich selber aus, als dass man in der Hölle landet, weil das Erkannte den Glauben an Gehorsam, Glaubenspflicht und Erkenntnisverbot erschüttert.

Galater 1, 8:*
Doch wenn selbst wir oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündeten, als wir euch verkündet haben, so sei er verflucht!...

Nicht einmal Erkenntnisse, die ein Engel vom Himmel bringt, dürfen die von Paulus verkündeten Dogmen jemals in Frage stellen. Paulus hat sich über Gott gewähnt und daraus keinen Hehl gemacht; aber die Augen, die das sehen könnten, sind bereits herausgerissen.

5. Konsequenzen

Die Konsequenzen, die die fehlerhafte Definition der eigenständigen Erkenntnisfähigkeit als sündhaft nach sich zog, waren für die geistige Entwicklung Europas, insbesondere auf spirituellem und religiösem Gebiet eine schwere Belastung. Sie erzeugte kognitive Dissonanzen und in deren Folge...

Jeder kann für sich entscheiden, was er für wahrscheinlicher hält:

Unrecht nicht Unrecht zu nennen, heißt Unrecht zu tun. Wer tatsächlich an einen Gott glaubt, der Sünden bestraft, tut gut daran, bei der Entscheidung vorsichtig zu sein.

  1. Störungen der religiösen und moralischen Orientierung
  2. individualpsychologische Verwerfungen
  3. gesellschaftliche Konsequenzen

2 + 2 = 5

Man stelle sich vor: Der Begründer der Mathematik - nennen wir ihn einmal Thales - hätte festgelegt, dass als Summe von zwei plus zwei fünf zu gelten hat. Man stelle sich außerdem vor, Thales wäre es unter Einsatz militärischer Macht gelungen, den Griechen und danach dem Rest Europas eine Weltan­schauung aufzuzwingen, die den Zweifel an der unverrückbaren Richtigkeit seiner Aussage zu einer Todsünde erklärt und jahrhundertelang entsprechend bestraft.

Welche Konsequenzen hätte das für zig Generationen von Mathematikern gehabt, die in den Jahrhunderten nach der Verkündung des Dogmas ihre Wissenschaft betrieben hätten? Die Antwort ist klar: Sie hätten komplizierte Theorien und paradoxe Aussagen in die Welt gesetzt, um ausgehend vom Urirrtum eine höhere Mathematik zu entwickeln, die die Fragestellungen der Algebra und der Geometrie erklärt. Die gesammelten Werke dieser Mathema­tiker hätten im Laufe der Zeit das babylonische Ausmaß einer vatikanischen Bibliothek und eines jüdischen Talmuds in einem erreicht; um die Widersprü­che, die der Urirrtum erzeugt, wegzuerklären oder aus der Welt zu glauben.

5.1. Störung der moralischen Orientierung
Wer den Gott sehen will, der sagt Du sollst nicht töten, wird von den Priestern des Gottes getötet, der sagt, dass man nicht töten soll.

Offenkundig sind die Dissonanzen sowohl im Alten als auch im Neuen Testament.

2 Moses 20, 13:*
Du sollst nicht töten!

2 Moses 32, 27:*
"... es töte ein jeder selbst den Bruder, Freund und Nächsten!"

4 Moses 17, 17 -28:*
Wer der Wohnstätte des Herrn sich nur nähert, muss sterben!

Von 2 Moses 20, 13 bis 2 Moses 32, 27 sind es 400 Verszeilen. Der gesamte biblische Text ist von Aussagen durchsetzt, die einander unvereinbar widersprechen. Einerseits wird von Nächsten- oder gar Feindesliebe gesprochen und es wird die Goldene Regel (siehe oben) als Werkzeug empfohlen, um Schuld zu vermeiden...

Das Konzept einer Feindesliebe, durch die man angeblich die Haltung Gottes über­nimmt, wird zu einer unverstehbaren Phrase, wenn man zugleich von unver­zeihbarer Sünde und unauslöschlichem Feuer spricht, in dem die vermeintlich geliebten Feinde dieses Gottes dereinst für bloßen Unglauben zu quälen sind.

Das biblische Konzept der Feindesliebe ließ ihren Verkündern freie Hand, jeden den sie zum Feind erklärten, ihrem Hass zu unterziehen. Sie haben es ausgiebig getan. Die Dissonanz der Lehre ist so groß, dass man unter dem Etikett der von ihr propagierten Liebe jede Grausamkeit begehen kann.

Matthäus 12, 30-32 (siehe oben) ist eine Lizenz zum Töten. Jedem, der zu wissen beschloss, was eine Rede wider den Heiligen Geist ist, wurde sie im Zeitalter des Glaubens ausgestellt.

Matthäus 5, 43-48*
Ihr habt gehört, daß gesagt wurde: 'Du sollst deinen Nächsten lieben' (3 Moses 19, 18: ...trage den Söhnen deines Volkes nichts nach, sondern liebe deinen Nächsten wie dich selbst.). Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde... denn er (der Vater) läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute... Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr?... Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!

Dann heißt es aber:

Matthäus 3, 12:*
Die Wurfschaufel hat er in seiner Hand, und säubern wird er seine Tenne; seinen Weizen wird er sammeln in den Speicher, die Spreu aber verbrennen in unauslöschlichem Feuer.

Matthäus 7, 19:*
Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird herausgehauen und ins Feuer geworfen.

Matthäus 13, 40-49:*
Wie man nun das Unkraut sammelt und im Feuer verbrennt, so wird es sein bei Vollendung der Welt. Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden zusammenholen... alle Ärgernisse und alle, die das Böse tun und sie hineinwerfen in den Feuerofen...

Johannes 15, 6:*
Bleibt einer nicht in mir, wird er hinausgeworfen... man trägt sie zusammen und wirft sie ins Feuer.

Lukas 21, 20-24:*
Wenn ihr aber Jerusalem von Kriegsheeren umlagert seht... das sind die Tage der Rache zur Erfüllung all dessen, was geschrieben steht. Wehe den Schwangeren und Stillenden in jenen Tagen!

Weitere Textstellen

2 Thessalonicher 1, 6-10:*
... wenn... Jesus sich offenbaren wird... in Feuerflammen und Vergeltung übt an denen, die... sich nicht beugen dem Evangelium... Sie werden bestraft werden mit ewigem Verderben... wenn er kommt, um... verherrlicht... und bewundert zu werden...

Wie sollte ein Mensch, der in der Bibel nach moralischer oder religiöser Orientierung sucht, in diesen Widersprüchen Klarheit finden? Das geht nur, wenn er den Verstoß wider den Geist fortsetzt und den Unfug verleugnet, den die Autoren der Bibel zu verkünden gezwungen waren, weil auch ihnen der Einsatz ihres Verstandes durch den Glauben an die Gehorsamspflicht gegenüber dem Erkenntnisverbot untersagt war.

Weisheit und Unfug

Wohlgemerkt: Das Neue Testament und die Bibel insgesamt enthalten nicht nur Unfug. Im Neuen Testament finden sich viele Aussagen, die Jesus' Ringen um Wahrheit, Moralität und tatsächliche Religiosität bekunden. Sie zeigen ihn als einen Menschen, der neben anderen als Vorbild aus der Geistesgeschichte herausragt.

Zugleich ist aber erkennbar, dass es auch Jesus nicht gelungen ist, seine Sichtweisen aus den Denkverboten der alttestamentarischen Tradition zu befreien.

Lukas 16, 29:*
Sie haben Moses und die Propheten, auf die sollen sie hören.

Das führt dazu, dass neben seinen spirituellen Einsichten Aussagen zu finden sind, die der von Anfang an politisch motivierten Einfärbung der biblischen Religion entspringen. Wegweisende spirituelle Einsichten treffen von daher unvereinbar auf das Erbgut politischer Absichten, sodass die Weisheit des Neuen Testaments schwer unter dem Unfug zu leiden hat, die es als Folge des Erkenntnisverbots parallel dazu verkündet. Und die Heiligsprechung der biblischen Texte macht den religiösen Unfug, den sie auch enthalten, sakro­sankt.

Der Begriff Unfug geht auf das Verb fügen zurück. Treffen zwei Sätze aufein­ander, die sich nicht zu einer sinnvoll verbundenen Aussage zusammenfügen lassen, muss mindestens einer der Sätze Unfug sein. Insofern ist belegbar, dass die theologischen Aussagen der Bibel in Teilen unsinnig sind.

Es ist davon auszugehen, dass nicht nur Jesus Aussagen von sich gab, deren Widersinnigkeit er nicht aufzulösen im Stande war, oder deren Widersprüch­lichkeit er gar nicht erkannte, sondern dass auch die Autoren der Evangelien das Gleiche taten.

Es bleibt daher unklar, ob die Aussage unter Markus 4, dass Jesus nämlich in Gleichnissen sprach, damit die Zuhörer nicht verstehen... und sich nicht be­kehren und nicht Vergebung finden... tatsäch­lich Jesus' Absichten wiedergibt oder der eingeschränkten Urteilsfähigkeit gläubiger Autoren entspringt.

Es ist unmöglich, der Bibel widerspruchsfreie moralische Leitlinien zu entnehmen, wenn man sie als Ganzes zur Kenntnis nimmt. Das hat im Zeitalter des Glaubens zu verschiedenen Lösungen geführt:

Unverfälschte Religion bekämpft nichts. Sie erkennt und verbindet.

Glaube kann religiöse Erkenntnis vorbereiten. Aber nur, wenn er sich nicht für deren Ersatz und Vormund hält.

Die Widersprüche am Gebot des blinden Glaubens aufzulösen, ist wie die Quadratur des Kreises. Es sei denn man gibt die selbstgewählte Blindheit auf und durchschlägt befreit den Knoten, der Sinn und Unsinn tragisch verbindet.

Für die Armen im Geiste (Matthäus 5, 3) waren die Widersprüche leicht zu verkraften. Sie gaben sich mit der Ausführung von Ritualen zufrieden und stellten weder sich selbst noch dem Klerus komplizierte Fragen. Ihnen genügte es, sich an ein überschaubares Repertoire moralischer Grundsätze zu halten, die Dank der Goldenen Regel leicht zu verstehen sind.

Die Moralität der "Reichen im Geiste" wurde durch die Dissonanzen der Lehre auf eine schwere Probe gestellt, an der das Glück vieler zerbrach. Das Zeitalter des Glaubens wird nicht umsonst dunkel genannt.

5.2. Individualpsychologische Verwerfungen

Auf der innerseelischen Ebene verursacht das biblische Weltbild eine Verdrehung der existenziellen Ordnung. In den Augen der Bibel ist der Mensch etwas bloß Gemachtes, dem kein eigenständiger Wert zukommt. Er ist ein abgegrenztes Objekt und damit zurecht Sterblichkeit und Vernichtung überstellt.

Kopfstand
In der ursprünglichen Ordnung steht das, was man ist, über dem, was man glaubt.

Im abrahamitischen Weltbild steht das, was man glaubt, über dem, was man ist.

Durch einen Willkürakt, das Bekenntnis zu Glaubensdogmen, kann er angeblich Wert und Lebensrecht erlangen.

Johannes 3, 18:*
Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt ist schon gerichtet, weil er nicht geglaubt hat an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.

Diese Weltsicht setzt das auf seinen Bestand bedachte Ego über sein tatsächliches Selbst, was die Tendenz zur egozen­trischen Selbstdeutung, in die der Mensch stets zu verfallen droht, durch eine theologische Rechtfertigung verstärkt.

Die Wirklichkeit besteht aus zwei Polen.

  1. das Erkennbare bzw. das Erkannte; also die Objekte der Erkenntnis
  2. das Erkennende; also das Subjekt der Erkenntnis

Der entrückte Gott

Die fehlerhafte Interpretation des Bezugs zwischen Subjekt und Objekt führt zum Konzept des entrückten Gottes. Der entrückte Gott wirkt von außen auf seine Objekte ein, ohne die Folgen dieser Einwirkungen als Ausdrucksträger der leidenden Objekte selbst zu erfahren. Das Bild vom gekreuzigten Gott hat den ursprünglichen Irrtum erahnt und die Spaltung zu überwinden versucht. Den Begründern des Christentums fehlte aber der Wille, die Vereinnahmung der Religiosität für politische Zwecke zu beenden.

Während die Eigenschaften der Objekte im Grundsatz erkennbar sind, kann man das Wesen des Subjekts in der Regel nur durch Denkakte näherungsweise ermitteln. Eine Ausnahme mag das mystische Erleuchtungserlebnis sein, das aber nicht systematisch wiederholbar ist. Durch eigene Anschauung erworbene Einblicke in das Wesen des Subjekts sind nicht vermittelbar.

Objekte sind geformt, begrenzt, bestimmt, verstehbar, einander gegen­überstehend, unterworfen, platziert, handlungsunfähig, nicht-erkennend, veränderlich und dem Untergang geweiht.

All diese Eigenschaften können den subjektiven Pol der Wirklichkeit nicht beschreiben, da er sonst ebenfalls ein Objekt wäre. Wenn der subjektive Pol aber nicht wie ein Objekt begrenzt ist, muss er in jedem Objekt zu finden sein. In der Folge ist davon auszugehen, dass jedes Objekt nicht nur abgespaltenes Produkt, sondern Erscheinungs­form des einen Subjekts ist, dessen Wandlungsfreiheit sich im geform­ten Objekt zum Ausdruck bringt und dem als bestimmender Instanz Formlosigkeit und damit Unveränderlichkeit zukommt.

Konfessionelle Religion ist eine Abwehr­strategie des egozen­trischen Ich gegen das gefürch­tete Potenzial seiner selbst. Angst und konfessionelle Religion wollen Einheitlichkeit, um sich vor der Vielfalt der Wirklichkeit zu schützen.

Zu den grundsätzlichen Irrwegen des Menschen gehört die Verdinglichung seiner selbst. Er will aus sich eine Sache machen, weil er sich fürchtet, als Subjekt nackt in der Wirklichkeit zu stehen. Der Bruch mit dem Göttlichen besteht in der Preisgabe der Subjektivität zu Gunsten festgefügter Rollen.

Genau dieser Umstand stellt die Rechtmäßigkeit jeder autokratischen Gesell­schaftsordnung grundsätzlich in Frage; denn die Befehlsstruktur einer solchen Ordnung muss durch eine Entwertung der Untertanen zu reinen Objekten ohne subjektive Eigenständigkeit rechtfertigt werden. Der biblische Sündenbegriff, der die Anwendung des menschlichen Potenzials, erkennendes und urteilsfähiges Subjekt zu sein, als Verstoß gegen die grundsätzliche Ordnung Gottes bezeichnet, ist nur im Zusammenhang mit den politischen und militärischen Vorhaben seiner Begründer erklärbar.

Die Unterscheidung zweier Aspekte der Subjektivität ermöglicht weiteren Einblick in die Struktur der Wirklichkeit. Sie erklärt, warum das Subjekt das Schicksal des Objekts erfahren kann, ohne durch dessen Untergang geschmälert zu werden. Oder: Warum der Schöpfer Geschöpf sein kann, ohne sich im Geschöpf zu erschöpfen.

Subjektiv geht auf lateinisch sub-iacere = unterwerfen zurück. Das Unterworfene ist auch das Zugrundeliegende bzw. das Grundlegende. Da das Selbst des Subjekts nicht begrenzt sein kann, ohne dadurch zum Objekt zu werden, erstreckt es sich in jedes Objekt hinein und durch jedes Objekt hindurch. Dergestalt ist das Objekt eine unterworfene Erscheinungsform des Subjekts, das im Objekt Formen des Unter­worfenseins erfährt; also des Begrenzt- und Bedingtseins.

Als grundlegender Aspekt ist das Subjekt unbedingte Möglichkeit. Das Selbst des Subjekts drückt sich im Objekt zwar aus, wird davon aber nicht umfasst. Das wahrhaft mit sich selbst Identische bleibt unerschienen. Das Objekt erscheint als Form des Unterworfenseins. Der grundlegende Aspekt des Subjektiven bleibt unerschie­nen, weil er sich als Erscheinung nicht umfasst.

Das relative Selbst wird als Objekt durch Erfahrung verändert. Es erfährt die Erfahrung und zeigt deren Folgen. Das absolute Selbst bezeugt die Er­fahrung, ohne deren Folgen unter­worfen zu sein. Das absolute Selbst macht die Erfahrung, das relative ist ihr ausgesetzt.

Das Selbst aller Objekte ist das eine Subjekt. Daher erfährt das Subjekt zwar das Leid eines jeden Objekts, es erleidet dabei aber nicht dessen Untergang. Es bleibt nach der Vernichtung intakt. Der grundlegende Aspekt des Subjekts ist unantastbar. Es steht über Leben, Tod und Vernichtung, auch dann, wenn es jede Vernichtung erfährt, die Objekten zustößt. Die Vernichtung geht mit dem Objekt zu Ende. Im Subjekt hat sie niemals stattgefunden. Ihm war sie nur Erscheinung.

5.3. Gesellschaftliche Konsequenzen

Auf der politisch-sozialen Ebene legt die abrahamitische Kosmologie eine feudale, absolutistische Gesellschaftsordnung fest. Den Herrschenden kommt durch den vorgeblichen Auftrag Gottes unbegrenzte Machtbefugnis zu. Am anderen Pol stehen Unter­tanen als steuerbare Objekte. Für die bereitwillige Übernahme der entwerteten Rolle wird dem Gläubigen eine Aufwertung jenseits der Apokalypse in Aussicht gestellt oder er wird durch die Behauptung getröstet, als Mitglied einer vermeintlich auser­wählten Gruppe über anderen zu stehen.

Unschwer ist die Auserwähltheitsphantasie als pathologische Überkompensation eines Minderwertigkeitsgefühls erkennbar. Die Kompensation ist pathologisch, weil sie darauf angewiesen ist, andere abzuwerten. Ihre Abwertungstendenz hat in der Geschichte einen Kreislauf weiterer Abwertungen gefördert, die bis in die Neuzeit hinein schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach sich zogen.

Rangordnungen

Ein Merkmal der biblischen Weltsicht ist die Festlegung eines unverrückbaren Ranggefüges. Dabei sind fünf Stufen festgeschrieben, zwischen denen es klare Trennlinien gibt:

  1. Die Gottesperson steht über allem.
  2. Der Mensch steht über dem Rest der Schöpfung, die er sich untertan machen soll.
  3. Das auserwählte Volk bzw. die Konfessionsgemeinschaft steht über den übrigen Völkern bzw. den übrigen weltanschaulichen Gruppen.
  4. Der Klerus steht über den Laien.
  5. Die Glaubenspflicht des Egos steht über ihm selbst.

Die Bestätigung dieser Rangordnung durch das Bekenntnis erheben abrahami­tische Konfessionen zum Kernmotiv erlaubter Religiosität. Dem Einzelnen kommt darin nur soweit sekundärer Wert zu, wie er seinen vermeintlich primä­ren Unwert durch die Bereitschaft anerkennt, sich vollständig zu unterwerfen.

Im Umkehrschluss bezeichnen abra­hamitische Religionen all das als Sünde, was dem propagierten Ranggefälle widerspricht. Dazu gehört in erster Linie: aus der Autorität der eigenen Subjektivität heraus die Richtigkeit dieser Weltanschauung anzuzweifeln.

Das biblische Konzept der Glaubenspflicht hat die Entwicklung republikanischer und demokratischer Ordnungen, die im Altertum streckenweise verwirklicht wurden, für anderthalb Jahrtausende ausgesetzt.

Römer 13, 1-7:*
Jedermann unterwerfe sich den vorgesetzten Obrigkeiten; denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott, und die bestehenden sind von Gott angeordnet. Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, der widersetzt sich der Anordnung Gottes und die sich widersetzen, werden sich selber das Gericht zuziehen... Daraus folgt, daß man sich unterordnen muß, nicht nur um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen.

Vereinbarkeit von Religionsauffassung und Gesellschaftsform

Während sich Religion mit dem Verhältnis des Einzelnen zur Wahrheit befasst, befasst sich Politik mit dem Verhältnis Einzelner zueinander. Politische Organisationen sind Bündnisse Einzelner. Ihr Ziel ist die Beschaffung und Sicherung innerweltlicher Vorteile in bewusster Abgrenzung gegenüber anderen und zu Lasten Dritter. Religion ist vertikal, Politik horizontal. Beides sind verschiedene Kategorien.

Politische Religionen errichten hierarchische Systeme. Sie sind im Grundsatz antidemokratisch. Demokratie ist der politische Ausdruck eines Menschen­bilds, das der mystischen Religionsauffassung entspricht. Die Einführung von Demokratie geht mit der Entmachtung der politischen Religionen Hand in Hand.

Demokratie ist die einzige Gesellschaftsform, die beide Kategorien stimmig verbindet. Demokratie respektiert das Subjekt als Entscheidungsträger. Sie öffnet damit das Tor, durch das die Gewissensentscheidung des Einzelnen unmittelbar ins politische Leben eingreifen kann.

6. Sünde und Religiosität

Es gibt nur einen Gott. Mystiker nennen sie Wahrheit. Die Wege, die zur Wahrheit führen, heißen Erkenntnis, Glaube und Zweifel. Der Wahrheit dient der Glaube, dass jeder Hinweis zu ihr führt und der Zweifel, dass sie bereits gefunden ist.

Wahres ist in jedem ausgedrückt. Wahrheit schließt niemanden aus. Der Weg zu ihr bleibt immer offen. Wenn es eine Heilsgeschichte gibt, ist sie erst dann am Ziel, wenn jeder Teil im Ganzen angekommen ist.

Während Schuld ein tatsächlich religiöses Thema ist, ist der biblische Sündenbegriff ein Artefakt der politischen Überfrach­tung der abrahamitischen Religion. Er spiegelt nichts anderes wider als die Gehorsamspflicht, die die mosaischen Begründer des Glaubens ihrem Volk im Zuge militärischer Pläne aufzwangen.

In der mystischen Religionspraxis, die den eigentlichen Kern der Religiosität verkörpert, hat der Sündenbegriff keine Bedeutung. In der Mystik gibt es Irrtum und fehlende Erkenntnis, aber weder Sünde noch Hölle oder Verdammnis. Der Sündenbegriff, der das Verbot zweier fundamentaler Erkenntnisse beinhaltet, begründet zugleich den Widerstand konfessioneller Glaubens­führer gegen die Ausführung mystischer Religiosität.

Johannes 14, 6:*
Niemand kommt zum Vater außer durch mich.

Mystik ist reine Religion. Reine Religion ist individuell. Sie befasst sich mit der Verbindung des ungeteilten Gottes mit dem ungeteilten Individuum. Die Verbindung kann nicht vermittelt werden, weil sie von je her besteht und unverbrüchlich ist. Sie wird in der Regel übersehen und im besten Fall erkannt. Wer sich als Vermittler einer Verbindung zum Absoluten betrachtet, wird sich für Mystik kaum je erwärmen. Sie entzieht ihm die Rolle, in der er sich wichtig nimmt.

Gegenüberstellung

Was als schädlich erkannt wird oder als sündig gilt
mystische Auffassung konfessionelle Auffassung
nicht dem zu vertrauen, was erkennbar ist nicht zu glauben, was vorgegeben wird
sich und andere als Objekte zu betrachten die Rechte eigener Subjektivität nicht abzutreten
sich und andere zu unterwerfen die Unterwerfung seiner selbst und anderer zu verweigern
Bilder über die Wirklichkeit zu stellen das Gottesbild nicht anzubeten
sich mit Bedingtem gleichzusetzen Bedingtsein zu verweigern

Glaubenspflicht trennt von der Wahrheit. Das Eingeständnis des Unwissens bindet dorthin zurück.

Entsprechend des politischen Ursprungs der abrahamitischen Religionen unterscheidet sich das Menschenbild, das sie ihren Gläubigen nahelegen, grundsätzlich vom Menschenbild erkenntnisorientierter Religion.

Religiöse Menschenbilder

mystisch konfessionell
Das Gute ist in Dir. Du kannst es entdecken. Das Böse ist in dir. Du musst es bekämpfen.

Geist ist nackt. Er ertastet die Wirklichkeit, die er selbst ist. Glaube versteckt seine Blöße hinter Bildern, die man nicht entfernen darf.

Zur Weichenstellung, die das Primat des Gehorsams über die Erkenntnis begründete, gehörte das symbolische Verbot, vom Baum des Lebens zu essen; dem Menschen also Teilhabe am Göttlichen und somit einen unbedingten Wert zuzusprechen. Wie das mystische Menschenbild dem konfessionellen unterlag, ist in der Bibel nachzulesen:

4 Moses 16, 1 - Moses 17, 14:*
Es empörten sich Korach,... Datan und Abiram... mit zweihundertfünfzig israelitischen Männern, Fürsten der Gemeinde, Vertretern des Volkes, Männern von höchstem Ansehen... Wider Moses und Aaron scharten sie sich und sprachen...: "... alle insgesamt sind heilig und der Herr ist in ihrer Mitte. Warum erhebt ihr euch über die Gemeinde des Herrn?" Moses... antwortete...: "Morgen wird der Herr kundtun, wer zu ihm gehört, und wer der Heilige ist, den er zu sich herantreten läßt"... Moses sprach zu Korach: "Hört, ihr Söhne Levis!... Gegen den Herrn habt ihr euch also zusammengerottet, du und dein ganzes Gefolge... Da sprach der Herr zu Moses: "Weise die Gemeinde an: Zieht euch zurück aus dem Umkreis der Wohnung Korachs, Datans und Abirams!"... Sie fuhren mit allem was ihnen gehörte, lebendig ins Totenreich hinab... So verschwanden sie mitten aus der Gemeinde... Die ganze Gemeinde... murrte am anderen Morgen wider Moses und... sprach: "Ihr habt das Volk des Herrn ermordet!"... die Herrlichkeit des Herrn erschien... und... redete: "... Ich will sie jäh vertilgen!... Moses sprach zu Aaron: vom Herrn ist der Zorn bereits ausgegangen, die Plage hat angefangen... Die Anzahl der Toten belief sich auf 14700, abgesehen von denen, die Korachs wegen umgekommen waren.

Alle insgesamt sind heilig und der Herr ist in ihrer Mitte. Genau das entspricht dem mystischen Gottesbild. Da dieser religiöse Denkansatz Moses' Diktatur und seinem Feldzug gegen Kanaan im Wege stand, hat er ihre Vertreter beseitigt und den Grund­stein dafür gelegt, dass wahre Religiosität über ein ganzes Zeitalter hinweg nur im Schatten ihres politischen Plagiats existieren konnte.

Mit einer Theologie, die aus der Absicht heraus entworfen wurde, Krieg zu führen, kann man keinen wahren Frieden stiften, egal wie sehr man sich darum bemüht. Wäre die religiöse Praxis Europas der Idee gefolgt, dass jeder das Gute in sich entdecken kann, statt dass er das zu bekämpfen hat, was der Glaube als seinen Feind benennt, wäre die kulturelle Entwicklung anders verlaufen. Wahrscheinlich wären der Welt viele Ver­brechen gegen die Menschlichkeit erspart geblieben.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.