Religion


  1. Religiöse Grundmotive
  2. Grundformen religiöser Praxis
  3. Entbindung und Wiederanbindung
  4. Die Dynamik des religiösen Bewusstseins
  5. Religion und Politik
  6. Liebe und Religion
  7. Religion und Psychopathologie
Zum Absoluten führt die Ablösung vom Konkreten. Wer sich mit etwas Konkretem gleichsetzt, kann das Absolute nicht fin­den. Der religiöse Mensch erkennt, dass er nicht in der Person aufgeht, als die er erscheint. Er weiß: Ich bin dies, aber auch das.

Die Welt ist das Viele. Die Wirklichkeit ist das Eine. Beachten Sie das Eine mehr als das Viele. Dann sind Sie religiös.

Mystische Religion führt zur Entdinglichung des Selbst- und des Gottes­bildes. Sie wendet sich weder Stonehenge noch Jerusalem, Rom, Mekka oder Benares zu. Ihr Ziel ist die Erkenntnis des­sen, was die Wirklichkeit ausmacht.
Niemand kann Spiri­tualität befehlen oder verbieten. Was man befehlen oder verbieten kann, sind Verhaltens­weisen, Versammlungen, Rituale und Zeremonien.

1. Religiöse Motive

Es gibt zwei religiöse Grundmotive:

  1. Das erste ist egozentrisch. Es dient dem Versuch, die Person vor Schaden zu schützen, indem man sich mit den Mächten der Wirklichkeit gutstellt.

  2. Das zweite ist transzendierend (lateinisch trans-scendere = hinüberschreiten). Es dient dem Versuch, das Selbst aus den Grenzen der Person freizusetzen. Das Ich überschreitet die Person auf dem Weg zu sich selbst.

Das egozentrische Bewusstsein verortet den Schwerpunkt des Ich im Ego. Das transzen­dierende sieht ihn jenseits der Person.

Das erste Grundmotiv kann seinerseits in zwei Formen unterteilt werden; je nachdem gegen welche Gefahr sich das Ego vorrangig abzusichern versucht. Bei der heidnischen Variante versucht das Ego sich vor den Bedrohungen der Natur zu schützen. Bei der politisch-konfessionellen geht es um Bedrohungen vonseiten sozialer Gemeinschaften; entweder der eigenen oder anderer. Beide Varianten, die heidnische und die politische, treten meist als Mischformen auf. Konfessionelle Glaubensformen halten heidnische Mo­tive bei. Sie beten um Vulkanausbrüche zu verhindern oder Pandemien einzudämmen.

Das zweite Grundmotiv dient nicht dem Schutz des Egos vor äußeren Gefahren. Das zweite Grundmotiv erkennt das Ego an sich als Problem. Das Ich versucht daher, zu sich selbst zu finden, indem es den Horizont des Egos überschreitet. Das zweite Grundmotiv entspricht dem spirituell-mystischen Religionsverständnis.

Einteilung religiöser Motive

ego­zen­trisch trans­zendie­rend
heid­nisch poli­tisch-konfes­sionell spiri­tuell / mys­tisch
Schutz des Egos vor den Gefahren der natür­lichen Umwelt Schutz des Egos vor der Aggres­sion anderer Befreiung des Selbst aus den Grenzen des Egos
Beschwich­tigung der Götter zur Verhin­derung von Miss­ernten, Unwettern, Krankheit und Tod Beschwich­tigung des Umfelds durch soziale Anpassung
Befrie­dung sozialer Konflikte durch weltan­schauliche Verein­heit­lichung
Rück­bindung des Ich an das Selbst. Auflösung des egozen­trischen Selbst­bilds
Magie, Zauber­formeln, Rituale Unter­werfungs­gesten
Zustimmung zu vorge­gebener Lehr­meinung
demons­trative Konfor­mität
Eigen­verant­wortung
Gewissen­haftig­keit
Fehlende Reflektion des Ego Änderung des Egos durch Anpas­sung an Vorbild Befrei­ung vom Ego durch Erkennt­nis seiner selbst
Ich sollte etwas machen. Ich sollte anders sein als ich bin. Ich will er­kennen, was ich bin.
Opfe­rung von materi­ellen Gegen­ständen, Tieren oder Menschen
Opfert etwas von dem, was er hat.
Opfe­rung der Selbst­bestimmt­heit
Opfert etwas von dem, was er ist.
Opfe­rung des Selbstbilds
Opfert, was er aus Angst oder Eitel­keit zu sein glaubt.
Glaubt spontan. Glaubt vorsätzlich. Glaubt experi­mentell. Sucht Einsicht.
Den Mächten des Jen­seits bin ich eigent­lich egal, aber man kann sie beein­flussen. Gott ist ein Er, der etwas von mir fordert. Man sollte ihm gehorchen. Dann bekommt man was. Das Gött­liche ist ein Es, das sich in mir zum Ausdruck bringt. Man könnte es erkennen. Dann setzt man es frei.
Gott ist ein Gegenüber. Ich bin sein Objekt. Tatsächlich bin ich Sub­jekt. Ich bin, der ich bin.
föderal zentra­listisch indivi­duell
Laie und Priester/Schamane Schüler und Lehrer
hierar­chisch auto­ritär eben­bürtig

Mystik betrachtet den Menschen als Subjekt. Für andere Formen der Religion bleibt er Partikel und Objekt. Nur was den Menschen als Subjekt betrachtet, ist im vollgültigen Sinne religiös. Anderes ist Glaube, der eine Kulturform begründet.

1.1. Zugehörige Begriffe
Mystische Religion versucht Gefälle auszugleichen. Egozentrische Religion baut Gefälle auf oder behält sie bei.

Eine vertiefte Betrachtung der Begriffe, die die Grundformen der religiösen Aktivität benennen, fördert Zusammenhänge zutage, die uns erlauben, vorläu­fige Formen des religiösen Erlebens von vollgültiger Religiosität abzugrenzen. Den Formen entsprechen spezifische Beziehungsmuster zwischen Laien und Schülern einerseits, Schamanen, Priestern und Lehrern andererseits.

Das heidnische Ego versucht, die Götter durch Geschenke und magischen Zauber auf seine Seite zu ziehen.
1.1.1. Heidnisch

Die Sprachgeschichte des Begriffs heidnisch ist kom­plex. Ein Wurzelstrang lässt sich zum griechischen Wort ethnos (εθνος) = Schar, Haufen, Volk zurück­verfolgen, ein anderer scheint sich im germanischen Begriff haiþio = Heide, Brachland, Wildnis zu verankern.

Beziehung von Schamane und Laie
Das heidnische Verhältnis ist hierarchisch. Der heidnische Priester bzw. Schamane steht durch okkulte Fähigkeiten über dem Laien. Wenn der Laie krank ist, geht er zum Schamanen, weil der Götter und Ahnen um Beistand bitten kann. Er geht nicht zum Schamanen, um dessen Fähigkeiten zu erlernen. Der Schamane übt keinen Zwang auf den Laien aus. Der Schamane macht ein Angebot.

Das durch beide Sprachwurzeln Gemeinte wird durch den lateinischen Begriff für heidnisch = paganus weiter erhellt. Paganus ist von pagus = Dorf, Gegend, Gau, Landstrich abgeleitet.

Alle Wurzeln zusammen beschreiben die Lebensbedingungen jener Menschen, deren religiöse Praxis als heidnisch zu bezeichnen ist. Es sind Menschen, die in kleinen Gruppen leben, in Dörfern oder auf dem freien Land, in einem Umfeld also, in dem der Einzelne den Gefahren der Natur unmittelbar ausgesetzt ist.

Der Heide sieht sich von Hungersnot, Raubtieren, Unwettern, Vulkanen, Sümpfen, Sonnenfinsternissen, dämonischen Lauten aus den Tiefen des Waldes, allgegenwärtiger Verletzungsgefahr, Missgeburt, Krankheit, Steinschlag und Heuschreckenplagen bedroht. Er vermutet, dass hinter all dem Geister und Götter stecken. Er glaubt, dass man Zorn und Gunst solcher Götter und Geister beeinflussen sollte, damit es nicht noch schlimmer kommt, als es sowieso schon ist.

Im Glauben an Zauberspruch und -ritual leugnet das Ego seine Ohnmacht. Es wähnt sich im Besitz magischer Kräfte, womit es sich die Angst vor der Übermacht der Welt vom Halse hält. Oder die Zauberformel ist bloßer Betrug. Nicht umsonst kommt das Wort Magier von griechisch magos (μαγος) = Zauberer, Betrüger. Der weitere Ursprung des Begriffs reicht ins Altpersische zurück, wo er einen Avestapriester bezeichnete. Die Griechen trauten Persern eher Übles zu. Sie hielten nicht viel von der Redlichkeit ihrer Feinde.

Die religiöse Praxis des heidnischen Glaubens besteht aus Opfer­gaben, Zauberformeln und Magie. Mit Hilfe der Opfer versucht der Heide, die Götter zu bestechen.

Ich gebe Euch jeden dritten Fasan. Dafür begünstigt ihr mein Glück bei der Jagd. Wenn es um Wichtigeres als Jagdglück ging, zum Beispiel das eigene Überleben oder das des Stammes, opferte der Heide auch Menschen. Wir geben Leben, damit die Götter uns das eigene belassen.

Mit Hilfe von Zauberformeln glaubt der Heide, die Mächte des Jenseits durch magische Kräfte beeinflussen zu können. Der Glaube an die Kraft der Magie dämpft seine eigenen Ängste und beeindruckt zugleich das staunende Publikum, das Zeuge merkwürdiger Gesten und geheimnisvoller Zauberformeln wird, was seine Achtung vor der hervorgehobenen Stellung des Schamanen steigert.

Das politisch-religiöse Ego schützt sich vor König, Nachbarn und Priestern, indem es deren Forderungen erfüllt. Oder es glaubt, vom Himmel beauftragt zu sein, sämtliche Rivalen unter seine Herrschaft zu bringen.
1.1.2. Politisch-konfessionell

Mit dem Fortschritt der Kultur wuchs die Bevölkerung. Aus Jägern und Sammlern, die auf die Magie ihrer Schamanen vertrauten, wurden Stadt- und Staatsbürger. Parallel dazu wurde der heidnische Glaube zusätzlich politisch (griechisch: polites [πολιτης] = Stadtbürger).

Das Zusammenleben in Stadt und Staat hatte den Vorteil, dass man vor den Gefahren der freien Natur besser geschützt war.

Beziehung von Priester und Laie
Der politisch-konfessionelle Priester steht durch vermeintlich göttliche Berufung über dem Laien. Das Verhältnis ist aber nicht nur hierarchisch. Es ist autoritär. Der Priester macht kein Angebot. Er bevormundet, fordert und vereinnahmt. Der Laie hat sich der vorgegebenen Weltanschauung zu unterwerfen. Tut er es nicht, wird er vom Priester im vorgeblichen Auftrag Gottes bestraft. Es gibt keinen Ansatz, durch den der Laie das Gefälle zwischen sich und dem Priester selbstbestimmt ausgleichen könnte. Nur durch Ernennung kann er deren Stand erreichen. Priester zementieren er­fundene Gefälle.

Innerhalb der Stadtmauern waren die Raubkatzen ausgerottet. Durch den Betrieb gemeinsamer Bewässerungsanlagen wurde die Versorgung mit Nahrungsmitteln stabilisiert. Der schreckliche Pan ging nachts zwar in den Wäldern um, nicht aber auf der Agora.

Der Schutz hatte allerdings einen hohen Preis: Der soziale Anpassungsdruck stieg. War der andere in den Weiten der Steppe noch Bündnispartner gegen Raubkatzen, wurde er mit wachsender Siedlungsdichte mehr und mehr zu einem Rivalen und potenziellen Feind. Da im komplexen Gefüge des Staatswesens die Gruppenstruktur hierarchischer und Menschen einander zugleich zur Masse wurden, wuchs der Bedarf an Mitteln, komplex strukturierte Massen zu verwalten. Eines davon war die staatlich verordnete Vereinheitlichung von Realitätsdeutung und kulturellem Brauchtum.

Darüber hinaus fürchteten sich die Mächtigen vor dem Aufstand ihrer Untertanen; und noch mehr vor dem Ehrgeiz potenzieller Konkurrenten. Schnell war die Idee geboren, dass Macht kein Resultat von Willkür, Tüchtigkeit, Schläue, Zufall und Unrecht war, sondern gott­gewollt; und damit unumstößlich.

Politik und Bekenntnispflicht

Die Regel cuius regio, eius religio = Wer herrscht, legt fest, was die Untertanen zu glauben haben, ist die Kernidee jeder politischen Religion. Mit den oben genannten Worten wurde sie 1555 im Augsburger Religionsfrieden bestätigt. Es ist nicht so, dass Konfessionen politisch vereinnahmt werden. Sie sind von Anfang an nichts anderes als Werkzeuge der Politik. Konfession ist Fahneneid.

Die Mächtigen, oder alle, die es werden wollten, propagierten einen verbindlichen Glauben, der auf den eigenen Anspruch zugeschnitten war. Sie verkündeten: Hinter meiner Macht steht eine moralische Instanz, der auf keinen Fall widersprochen werden darf. Die Untertanen taten gut daran, sich diesem Glauben anzuschließen, wollten sie nicht riskieren, als gottverhasste Frevler, Abweichler und Lästerzungen umgebracht zu werden.

Psalm 7, 13-14:*
... wenn einer sich nicht bekehrt, spannt er seinen Bogen und zielt mit ihm. Er richtet auf ihn die Todeswaffen...

Psalm 17, 14*
Dein Schwert möge sie töten... Ohne Lebensdauer sei ihr Anteil am Dasein! Was du [an Plagen] aufbewahrt hast, damit fülle ihren Leib, daß ihre Söhne noch satt werden und den Rest ihren Kindern hinterlassen!

Psalm 101, 8:*
Jeden Morgen will ich alle Frevler im Land vernichten...

Mystische Religion nimmt Angst. Politische Religion setzt sie ein.

Angst und Bekehrung

Die Bibel benennt das zentrale Motiv, sich einer politischen Religion anzu­schließen oder ihr treu zu bleiben: Die Angst vor den anderen.

Ester 8, 17:*
Viele aus den Heidenvölkern bekannten sich zum Judentum, denn die Furcht vor den Juden hatte sie befallen.

Esra 10, 3-19:*
Man ließ nun allen... verkünden, sie sollten sich in Jerusalem einfinden. Wer... gemäß dem Beschluß der Obersten... nicht komme, dem drohe Bannung seines gesamten Besitzes und Ausschluß aus der Heimkehrer­gemeinde. So versammelten sich alle Männer... in Jerusalem... zitternd wegen des Anlasses [des Befehls, alle fremdländischen Frauen zu verstoßen]...

Die Angst vor den anderen ist ein wesentlicher Mechanismus, der politischen Glaubenssystemen Anhänger zuführt oder sie bei der Stange hält. Es gibt keine politische Religion ohne wechselseitige Überwachung, Gesinnungs­kontrolle und Sanktionsdrohung. Politische Religion missioniert und rekrutiert.

Ester 8, 17 beschreibt einen typischen Abwehrmechanismus ohne den die Ausbreitung konfessioneller Glaubenslehren kaum erfolgreich wäre: die Identifikation mit dem Aggressor. Als Aggressoren tauchen entweder die Repräsentanten des Glaubens auf, oder der drohende Gott, in dessen Auftrag sie angeblich handeln. Je furchteinflößender die Drohung ist, desto mehr Grund gibt es, sich den Aggressoren anzuschließen.

Egal aus welcher Perspektive man es betrachtet, sei es aus der der Mächtigen, sei es aus der der Unterworfenen, das Grundmotiv der politischen Religionsauffassung liegt im Schutz des Egos vor der Aggression seiner Mitmenschen. Zugleich nutzt sie genau diese Aggression, um sich selbst als Monopolmacht durchzusetzen.

Die angebliche Aggression des jeweils propagierten Gottes ist Drohkulisse derer, die in seinem Namen andere beherrschen. Da politischer Religion Beweise dafür fehlen, dass ein solcher Gott tatsächlich existiert, betont sie die Pflicht, daran zu glauben. Bloßen Unglauben erklärt sie zur schweren Sünde, die für sich allein genügt, harte Strafen zu begründen.

Politischer Glaube ist heidnischer Glaube mit fortentwickelter Opferpraxis + Allein­vertretungs­anspruch.
Kontinuität
Politischer Glaube blickt voll Verachtung auf das schamanistische Heidentum. Auch das ist politischer Vorsatz. Er gehört zum Versuch, konkurrierende Vorgänger aus der Welt zu schaffen. Tatsächlich brachte das politische Element zwar einen organisatorischen, aber keinen religiösen Fortschritt gegenüber dem heidnischen. Es ging aus ihm hervor, als das bislang föderale Dasein verstreuter Menschen­gruppen in zentralistisch geführte Machtstrukturen überging. Je übergreifender Mächtige dachten, desto politischer wurde ihr Ansatz.

Das Wesen des heidnischen Glaubens ist, dass der Heide mit dem Jenseits Geschäfte macht und es durch Opfer und Rituale zu seinem Vorteil lenken will. Nichts davon hat der politische Glaube aufgegeben. Stattdessen hat er den heidnischen Ansatz fortentwickelt. Wir erinnern uns: Für die Gunst seines Gottes ist Abraham bereit, seinen Sohn zu opfern. Das ist ein heidnischer Ansatz; wenn auch um die politische Dimension erweitert, den Herrschaftsanspruch seiner Vertreter zu rechtfertigen.

Das Neue am politischen Glauben war seine erweiterte politische Funktion. Durch die Propagierung eines fordernden Gottes, der durch den Mund Berufener Gesell­schaften in seinem Sinn vereinheitlicht, wurde die Lenkbarkeit des Einzelnen durch Machthaber von Gottes Gnaden verbessert. Der politische Erfolg vereinheitlichter Kulturen ging mit der Ausbreitung der Glaubenslehren Hand in Hand. Vereinheit­lichte Gesellschaften waren im Inneren besser zu befrieden und beim Erobern effektiver.

Alleinvertretungsanspruch und Menschenopfer

Dem Alleinvertretungsanspruch des politischen Glaubens entspringt grundsätzlich Gewaltbereitschaft: gegen all jene, die sich nicht freiwillig beugen. Das zufällige Menschenopfer des unpolitischen Heiden, das uns heute noch Moorleichen liefert, wurde vom politisch-konfessionellen Glauben syste­matisiert und auf die Zielgruppe der Andersdenkenden ausgerichtet. Bibel und Koran fordern Menschenblut.

Jeremias 48, 10:*
... verflucht, wer sein Schwert zurückhält vom Blut!

Sura 9, 5:**
... tötet die Götzendiener, wo ihr sie auch findet...

Beide Schriften fordern, dass Gläubige zu Ehren ihres Gottes Ungläubige töten. Bis ins 17. Jahrhundert hinein hat das Christentum auf den Scheiter­haufen der Inqui­sition dem biblischen Gott Menschenopfer dargebracht. Wo der Glaube mächtig ist, wird der Auftrag der Propheten auch heute noch vollstreckt.

1.1.3. Spirituell-mystisch
Das spirituelle Ich erkennt, dass sein Ego nur Teil seiner selbst und sein Selbst Ausdruck des Ganzen ist.

Spirituelle oder mystische Religion ist grundsätzlich anders als die bisher Genann­ten. Nur sie ist wahrhaft religiös im ungetrübten Sinn. Sie glaubt nicht nur, Verbin­dung herzustellen. Sie tut es mit Gewissheit. Sie erkennt die Verbindung, die sie schafft und weiß daher, was sie wirklich tut. Erkenntnis ist die Verbindung des Geistes zu sich selbst.

Spiritualität ist von lateinisch spiritus = Geist, Seele, Hauch, Atem abgeleitet. Der Begriff weist auf eine formlose Ebene der Wirklichkeit hin, die jenseits konkreter Interessen, Personen, Götterbilder und Rituale liegt.

Beziehung Lehrer und Schüler
Lehrer und Schüler sind im Grundsatz ebenbür­tig. Der Lehrer hat einen Wissensvorsprung, den der Schüler einholen kann. Was der Schüler beim Lehrer sucht, ist eigene Befähigung. Der Schüler betrachtet den Lehrer als Autorität, bis er gelernt hat, selbst eine zu sein. Dann bleibt er ihm ein Freund. Ein unüberbrückbares Gefälle im Rang gibt es nicht. Gemeinsames Ziel von Lehrer und Schü­ler ist es, das Gefälle auszugleichen. Der Lehrer hebt den Schüler zu seinem Wissensstand hinauf.

Mystik entstammt dem griechischen Wort mystos (μυστος) = verschwiegen. Mystos entspringt seinerseits dem Verb myein (μυειν) = sich schließen. Während sich heidnischer Glaube in Zaubersprüchen verlautbar macht und politischer angeblich offenbarte Gesetze predigt, erschließt sich die mystische Erfahrung im schweigenden Blick nach innen. Das mystische Ich will weder Gott zum eigenen Vorteil lenken, noch steuert es Vorteile an, indem es andere bevormundet.

Das mystische Ich entbindet sich aus der Enge egozen­trischer Betriebsamkeit in die Ungebundenheit des Geistigen. Politik als Tummelplatz rivalisierender Egoismen ist in seinen Augen niemals konkreter Auftrag des Himmels. Politik ist eine nüchterne Notwendigkeit sozialer Gemeinschaften. Es ist dem Menschen überlassen, sie auszuhandeln. Er kann Hierarchien errichten, die auf Mythen und Gewalt beruhen oder die Gleichberechtigung der Individuen anerkennen.

Der Belohnungsglaube überträgt kindliche Überlebens­strategien ins Theologische. Folgsame Kinder bekommen Bonbons, eigensinnige kriegen Schläge. Damit fixiert er die seelische Entwicklung auf unreife Muster. Psychologisch gesehen ist er als Ab­wehrmechanismus ge­gen die Komplexität des Daseins zu erkennen.
Identität oder Identifikation
Jeder Variante der beiden Religionsauffassungen liegt ein spezifischer Umgang des Ich mit Identifikationen zugrunde:

Während Vorstellungen, mit denen sich das Ich identifizieren könnte, austausch­bar sind und ihr Angebot geographischen und geschichtlichen Wechselfällen unterliegt, gibt es nur eine Identität. Religion als Identifikationsbemühen mit einem Soll ist verdeckte Vielgötterei, weil Identifikation bereits den Plural der Wahlmöglichkeiten mitdenkt. Das macht die Suche nach der Identität, also die Suche des Ich nach seinem Selbst, nicht. Nur Mystik ist fundamental monotheistisch. Konfessionell-politische Religion verwechselt Monotheismus mit dem Anspruch ihrer Priester­schaft auf ein Monopol in kulturellen Fragen.

Indem man ein Bild aus vielen auswählt, hat man die abgewählten bereits als wählbar anerkannt. Echter Monotheismus heißt daher: sich für kein Bild zu entscheiden.

Anhänger konfessioneller Glaubens­lehren werden oft als tiefgläubig bezeichnet. Die Wortwahl scheint misslungen. Man kann tief blicken, aber nur fest an etwas glauben. Was im Glauben tiefsitzt, ist die Angst, die man durch ihn abwehrt.

Getrennte Seelen

Die Bibel glaubt, dass die Seelen im Himmel Glück empfinden, wenn sie die Gequälten in der Hölle sehen.

Offenbarung 19, 3:*
Und abermals riefen sie: "Alleluja"! Ihr Rauch steigt auf in alle Ewigkeit.

Laut Koran trennt ein Vorhang das Paradies von der Hölle, sodass sich die Insassen beider Lager miteinan­der unterhalten können.

Sura 7,42:**
Und die Genossen des Paradieses rufen jenen des Fegefeuers zu: ...

Der Anblick ewig Gequälter verleidet den ewig Glückseligen die Glückse­ligkeit nicht.

Jeder Identifikationsglaube ist oberflächlich. Er lenkt den Blick des Ich nach außen, wo ihm das Modell vorgehalten wird, dem es sich anzugleichen hat. Er ist ein So-zu-tun-als-ob. Mystik schaut nach innen. Tief geht der Blick nur dann, wenn er jedes Soll verwirft und die Identität des Gläubigen mit seinem wahren Selbst ins Auge fasst.

1.1.4. Egozentrisch / transzendierend

Ob man eine heidnisch-politische oder die mystisch-spirituelle Religiosität wählt, hängt davon ab, ob man sich mit einem Selbstbild identifiziert oder zu sich selbst finden will.

Bei der heidnischen und politischen Religiosität identifiziert sich das Ich mit dem Ego. Es geht von der Existenz einer separaten Einzelseele aus, deren transzendentes Schicksal vom Schicksal anderer Einzelseelen abgetrennt betrachtet werden kann. Es glaubt an die Aufteilung des Jenseits in Himmel und Hölle. Es versucht, Lohn zu bekommen und Strafe zu umgehen. Das grundlegende Motiv seines Handelns bleibt in der Folge egozentrisch... selbst dann, wenn es altruistisch handelt, um das eigene Wohl durch Selbstverleugnung zu bewirken.

Der mystisch-spirituell Religiöse geht von der Wesensgleichheit seiner selbst und des Ganzen aus. Er sieht sich nicht als Person, sondern als Ausdruck des Ganzen, das als Ungeteiltes jenseits liegt und sich in alle Formen des Diesseits ergießt. Sein Selbstverständnis überschreitet das Bild vom abgetrennten Etwas, das den Himmel dazu bewegen muss, ihm eine glückliche Ewigkeit zuzugestehen.

Der mystisch-spirituelle Mensch geht davon aus, dass das jenseitige Heil durch kein eigennütziges Streben zu verdienen oder endgültig zu verlieren ist, sondern erkannt wird, sobald man den bloßen Eigennutz überwindet.

2. Grundformen religiöser Praxis

Vier Grundmuster prägen die religiöse Praxis:

  1. Gebete und magische Ritualhandlungen

    Gebete und magische Ritualhandlungen dienen der Beeinflussung jenseitiger Mächte durch gezielte Einflussnahme. Sie sollen dafür sorgen, dass die Sonne aufgeht, Regen kommt, die Ernte üppig ausfällt oder ein individueller Wunsch in Erfüllung geht.

  2. Lobpreisung, Anbetung, Huldigung, Unterwerfung

    Durch lobpreisende Anbetung signalisiert der Gläubige Gott und dessen irdischen Vertretern, dass er loyal und gehorsam ist. Er geht davon aus, dass er zum Lohn generell unter dem Schutz höherer Mächte steht.

  3. Gute Taten

    Als gute Taten gelten:

    1. Korrekt ausgeführte Ritualhandlungen, die der jeweilige Glaube zum Beispiel als spezifische Liturgie (griechisch leitos [λειτος] = Volk und ergon [εργον] = Werk, Dienst) zur Führung der Menge vorschreibt; oder Gebete des Individuums.
    2. Selbstloses Handeln anderen gegenüber.
      Der Hypothese, dass selbstloses Handeln das eigene Wohl fördert, liegt eine Ansicht zugrunde, die allen einflussreichen Religionen gemeinsam ist: dass zur Ausrichtung auf das Heilige die Preisgabe selbstsüchtigen Handelns erforderlich ist.

  4. Suche nach mystischer Selbst- und Gotteserkenntnis

    Zur Suche nach mystischer Selbst- und Gotteserkenntnis gehören das Studium religiöser Schriften und vor allem die Meditation. Wer den Schwerpunkt seiner religiösen Praxis auf den Erwerb fundamentaler Einsichten legt, versucht sich selbst und seinen Bezug zu Gott zu verstehen.

Schwerpunkte religiöser Praxis

Ge­bet
Ritu­al
An­bet­ung
Un­ter­wer­fung
Gute Taten Mys­tische Er­kennt­nis
ritu­ell litur­gisch altru­istisch
Chris­ten­tum ++ ++ ++ +++
Juden­tum ++ ++ +++ +
Islam ++ +++ ++ +
Hindu­ismus Bhakti Yoga Karma Yoga Jnana Yoga
Bud­dhis­mus ++ +++

Den abrahamitischen Religionen wird keine Komponente mystischer Selbsterkenntnis zugeord­net. Das ist folgerichtig. Zwar hat es in den entsprechenden Kulturkreisen eine einflussreiche Mystik gegeben, diese entspricht aber nicht den orthodoxen Konzepten, wie sie Bibel und Koran als religiöse Praxis vorschreiben. Vielmehr ist das Interesse an mystischer Selbst- und Gottes­erkenntnis Wesenskern eigentlicher Spiritualität an sich. Es entspringt spontan der seeli­schen Dynamik jener, die nach ihrem Platz im Kosmos fragen und bedarf keiner mythologischen Ermu­tigung. Im Gegenteil: Mythologien, und genau darauf gründen Bibel und Koran, waren von je her eher Hemmschuh und Verfälscher als Förderer mystischer Selbsterkenntnis.

3. Entbindung und Wiederanbindung

Entbindungen

Man kann zweimal entbunden werden:

  1. in die Willkür des Egos hinein
  2. aus der Willkür des Egos heraus

Die erste Entbindung ist die psychologische Geburt der Person. Die zweite ist die religiöse Geburt des Selbst. Die Person befreit sich aus dem Kontext und gerät in die Gefangenschaft ihres Horizonts. Das Selbst überschreitet den Horizont und erlebt Frei­heit als seine Identität.

Individualität ist die Entbindung des Einzelnen in die Freiheit der bewussten Entscheidung. Die Entbindung erfolgt durch die Macht des Bewusstseins, sich durch Erzeugung gedanklicher Bilder aus der tatsächlich wahrnehmbaren Realität des Hier-und-Jetzt zu lösen. Das entbundene Bewusstsein kann mit Wörtern, Zahlen und Bildern spielen. Es kann die Produkte seiner Phantasie als Simula­tion verwenden, um den Erfolg zukünftiger Handlungen im Voraus abzuschätzen und Gefahren aus dem Weg zu gehen. Dieser Entbindung entspringt der Impuls zur Rückbindung an das, dem das Entbundensein entspringt. Religare ist das lateinische Wort für wiederanbinden, zurückbinden.

Vom Ursprung des Begriffs

Er ist alt: der Streit um den Ursprung des Begriffs Religion...

Dass der Streit um den Ursprung des Begriffs bislang unent­schieden blieb, braucht uns nicht zu verdrießen. Im Gegenteil: Wir machen uns die Unentschiedenheit zu­nutze und sammeln ein, was uns an den drei Ansätzen plausibel erscheint. Dann wird klar: Auch wenn mindestens zwei der Verben sprachgenetisch kaum mit Religion verwandt sein dürften, ergibt sich aus den Bedeutungen aller drei eine sinnvolle Definition.

Die Wiederanbindung an das Wesentliche bedarf achtsamer Sammlung zielfüh­render Erkenntnis. Nach dem Wesentlichen zu suchen oder Beliebigem zu folgen... Das ist die grundlegende Wahl.

Als Folge der Freiheit, sich Bilder auszudenken, gewinnt das Indivi­duum nicht nur Einfluss auf den Lauf der Dinge. Es läuft auch Gefahr, sich zu verirren, indem es sich ins Gespinst seiner Vorstellungen einwebt.

Vier Bausteine des Selbstbilds

  1. Das, was ich von mir weiß
  2. Das, was ich zu sein vermute
  3. Das, was ich gerne wäre
  4. Das, wovon ich glaube, dass ich es sein sollte

Bei der Gefahr der Verirrung spielt das Selbstbild eine ausschlag­gebende Rolle. Normalerweise entspricht das Bild, das der Mensch von sich macht, dem eines Egos, das dem Umfeld gegenübersteht und mit dem Rest der Welt einen Kampf um Sein oder Nichtsein zu führen hat. Ich bin ich. Der Rest der Wirklichkeit ist es nicht. Inhaltlich ist das egozentrische Selbstbild ein virtuelles Konstrukt aus verschiedenen Elementen.

Da das egozentrische Ich der Wirklichkeit gegenüberzustehen meint, fürchtet es den Tod als Gefahr der Vernichtung. In seiner Angst sucht es nach einer Macht, die es aus dieser Gefahr zu erretten verspricht.

Vernichtung und Verbindung
Der Tod ist nicht nur drohende Vernichtung. Er ist Abriss von Verbindung. Das seiner Existenz bewusste Ich erkennt, dass mit dem Tod die Verbindung zu den Lebenden verlorengeht. Neben der Entbindung in die Individualität der bewussten Entscheidung ist der Tod als drohender Verlust der Verbindung zur Wirklichkeit das zweite Motiv, dem das religiöse Interesse an der Wiederanbindung entspringt. Vernichtung und Unverbundenheit sind Kehrseiten einer Medaille. Jedes Dasein existiert nur in Verbindung. Unverbundenheit heißt Inexistenz. Alles, was eine Verbindung zu ihm hat, ist für den Beobachter existent.

Gemäß dualistischer Vorstellung sind Tod und Leben Gegensätze. Der Tod folgt dem Leben. Daher strebt dualistische Religion ewige Dauer an. Sie appelliert an eine göttliche Macht, dem Endlichen Ewigkeit zu gewähren, indem sie Bindung zu sich zulässt. Gemäß mystisch-monistischer Vorstellung sind Tod und Leben ineinander verflochten. Ihr Ziel ist daher keine ewige Dauer, die einer endlichen folgt, sondern das Zeit- und Formlose, das sich über den Gegensatz von Tod und Leben, also von Struktur und Zerfall, erhebt.

Jede Form ist begrenzt. Sonst wäre sie keine. Das Formlose ist unbegrenzt. Sonst wäre es Form. Egal, wie groß eine Form daher ist, der Abstand zwischen ihr und dem Formlosen bleibt immer unendlich. Da sich das Unbegrenzte in jede Form erstreckt, um unbegrenzt zu sein, ist der Abstand zugleich null.

Bei der heidnisch-politischen Religionsauffassung wendet sich das Ego an trans­zendente Mächte, die es jenseits von sich selbst vermutet. Bei der Suche nach potenziellen Beschützern, an die es sich binden könnte, blickt es nach außen und damit weg von sich selbst. Es glaubt, dass die Beachtung Gottes von diesem belohnt wird, indem Gott den, der ihn beachtet, nicht außer Acht lässt; und ihm, sobald die Verbindung zu den Lebenden abreißt, die Hand reichen wird.

Der Heide will gesehen werden. Der Mystiker will sehen. Der eine macht auf sich aufmerksam. Der andere merkt auf.

Bei der mystisch-spirituellen Religionsauffassung fragt das Ich, ob das Bild vom abge­trennten Ego überhaupt zutrifft. Statt zur Linderung der Angst einen Beschützer zu suchen, der ihm Dauer verleiht, versucht es zu erkennen, ob sein Dasein nicht von jeher bereits in einer zeitlosen Wirklichkeit verankert ist.

Indem es sich zu erkennen versucht, übernimmt das mystische Ich die Verant­wortung für die Freiheit, die ihm durch die Entbindung des Egos zufiel. Durch die Rück­bindung an sich selbst mindert es das Risiko, das jede Freiheit mit sich bringt. Dazu gehört auch die Freiheit, mutwillig zu glauben, was durch nichts beweisbar ist. Das religiöse Inter­esse ist eine geistige Disziplin, die individueller Bewusstheit wesenhaft innewohnt und die an das Nichts nicht glauben kann.

4. Die Dynamik des religiösen Bewusstseins

Das gesunde Bewusstsein ist nicht ständig religiös. Erkenntnis und Respekt vor dem, was wirklich ist, gelten ihm grundsätzlich aber mehr als die Macht, zum eigenen Vorteil auf die Wirklichkeit einzuwirken.

Das Bewusstsein hat vier Möglichkeiten: Es kann wahrnehmen, denken, urteilen und eingreifen. Der Unterschied zwischen einem profanen und einem religiösen Bewusstsein liegt im Wert, den es den vier Möglichkeiten zumisst.

Das profane Bewusstsein richtet sich einseitig am Vorteil aus, den es der Person durch Denken, Urteilen und Eingreifen zu sichern versucht. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist ihm kein Wert an sich. Es nutzt sie, um sich geeignete Informationen zu verschaffen. Da sein Wahrnehmen stets von Absichten geleitet wird, sieht es beim Wahrnehmen von allem ab, was ihm unnütz erscheint. Das profane Bewusstsein nimmt die Wirklichkeit nur schemenhaft wahr.

Wirklichkeit oder Vorstellung

Der Mensch ist Ausdruck der Wirklichkeit. In ihr ist er verankert. Zugleich macht er sich ein Bild von ihr. Aus Erfahrungen zieht er Schlüsse. Aus den Schlüssen entsteht eine Vorstellung, wie er selbst und die Welt zu betrachten sind.

Mystische Religiosität bahnt die Freiheit zu einem spontanen Handeln, dessen Lebendigkeit nicht durch egozentrische Vorteilsberechnungen ausgebremst wird. Nach Vorsatz, Plan, Regel und Verbot zu leben wird überflüssig, wenn alles Handeln voller Erkenntnis entspringt. Auf dem Weg zu voller Erkenntnis reift das Ich vom Ego zum Selbst.
Das wichtigste Werkzeug der Religion ist nicht der Glaube, sondern der Zweifel; der Zweifel, ob das Wahre tatsächlich bereits gefunden ist.

Da der Mensch persönliche Bedürfnisse zu besorgen hat, ist die Vorstellung, die er sich von den Dingen macht, auf Vor- und Nachteil eingeengt. In der ständigen Frage nach Nutzen und Schaden für die eigene Person wirkt sich sein Ego aus.

Jede Vorstellung erfasst nur einen Teil der Wirklichkeit. Zudem ist sie subjektiv verzerrt. Daher birgt sie selbst Gefahr. Indem das egozentrische Denken den Blick auf die Wirklichkeit durch Vorstellungen versperrt, hindert es das Ich daran, seinen Platz in der Wirklichkeit zu finden.

Konsequente Religiosität bedeutet daher immer zweierlei:

  1. Die Bindung an egozentrische Ziele zu lockern... und wenn möglich aufzugeben.
  2. Dogmatische Lehren als störende Bilder und Vorstellungen zu verwerfen.

Heidnischer und politisch-religiöser Glaube bleibt vom Grundmotiv her egozen­trischen Zielen treu. Insofern bleibt seine Zielsetzung profan. Er versucht nicht, ins Heilige überzugehen. Er versucht, dessen Macht für sich zu nutzen.

Das religiöse Bewusstsein legt den Schwerpunkt auf die Wahrnehmung dessen, was wirklich ist. Im Wirklichen sieht es nicht nur den Hebel zum persönlichen Vorteil, son­dern den Ausdruck eines absoluten Werts, dem gegenüber es jene Haltung einnimmt, die es für einzig angemessen hält: absichtslose Achtsamkeit.

Alles Wirkliche ist Ausdruck des Absoluten. Nur wer das Wirkliche vom bloß Gedachten unterscheidet, wendet sich dem Absoluten zu.

Sich selbst betrachtet das religiöse Bewusstsein nicht als bloßes Gegenüber einer Wirklichkeit, die es zu nutzen, zu formen und abzuwehren gilt. Es sieht sich als Ausdruck eines Ganzen, in dem alles eine absolute Ordnung hat.

Zur Ordnung des absoluten Ganzen zählt nicht nur die Struktur der Außenwelt, die das Bewusstsein mittelbar, mit Hilfe seiner Sinne, erkennt, sondern auch die verborgene Dynamik seiner Innenwelt, wo es Wirkliches unmittelbar wahrnehmen kann.

Religiosität ist eine Sache der Alten. Der junge Mensch muss erst zur vereinzelten Form werden, bevor er in die Einheit zurückstrebt. Erst muss er sagen: Das bin ich. Das bin ich nicht. Du bist Du, aber ich bin ich. Dann kann er die Grenzlinien, die er selbst gesetzt hat, überschreiten. Die religiöse Unterweisung von Kindern macht nur Sinn, wenn sie danach fragen.

Dementsprechend legt es Wert darauf, sich selbst zu erkennen. Dazu löst es sich aus der Kette der Gedanken und Pläne. Es richtet den Blick auf alles, was es in sich selbst wahrnehmen kann. Weil jede Absicht die Wahrnehmung trübt, nimmt es das Erkennbare absichtsfrei und ohne Urteil an. Es vertraut darauf, dass reine Erkenntnis an ihm das bewirkt, was mit dem Wahren übereinstimmt. Wer das Wahre erkennt, geht ins Wahre über. Er bleibt nicht vor ihm stehen.

4.1. Transzendenz

Religiosität ist ein Bewusstseinsprozess. Sie ist die Rückkehr aus der zufälligen Form des Vereinzelten in die Einheit des Formlosen. Echte Transzendenz im Sinne echten Überschreitens geschieht, sobald sich das Selbstbewusstsein vom Ego ins Selbst erweitert.

Transzendenz: Zwei Formen des Überschreitens

Egozentrischer Blick Holozentrischer Blick
Für die heidnisch-politische Religion liegt die Welt des Transzendenten außerhalb des Ich. Das Überschreiten des Diesseits besteht darin, dass das Ego auf der Suche nach seinem Vorteil über die Grenze hinweg ins Jenseits schaut. Das Jenseits der mystischen Erfahrung liegt innerhalb des Ich. Das Überschreiten ist ein Erkenntnisakt, durch den das Selbstbild über die Grenzen der Person hinaus erweitert wird.

Der egozentrisch Gläubige denkt: Wenn ich mein eigentliches Wesen zurückweise und stattdessen eine moralisch-konforme Rolle spiele, werde ich einst aus der diesseitigen Welt zeitlicher Begrenzung in eine jenseitige Welt zeitlicher Unbegrenztheit hinüberschreiten. Dort bekomme ich den Lohn für meine Selbstverleugnung.

Der spirituelle Mensch erkennt: Wenn ich mein eigentliches Wesen annehme, entdecke ich, dass es die Grenze zwischen Dies- und Jenseits von je her überschreitet. Die transzendente Welt liegt nicht in einer Zukunft, in die ich einst vom Diesseits aus hinüberschreite. Sie liegt verwoben ins Diesseits im ewigen Jetzt.

Heidnisch-politische Transzendenz ist Hoffnung, Projekt und Illusion. Jetzt findet sie bloß in der Vorstellung des Gläubigen statt. Das gläubige Ego hofft auf einen Status, der ihm nicht zusteht. Es will als das, was es ist, in den Himmel.

Mystische Transzendenz ist Prozess und Wirklichkeit. Der Mystiker überschreitet seine Person indem er ihr gegenwärtig ist. Er entrückt dem Ego, indem er es sieht. Er erkennt, dass seine Person nicht das ist, was in den Himmel gehört.

Die einzig mögliche Erfahrung, die man nach dem Tod machen kann, ist die, dass es weitergeht. Geht nichts weiter, wird das niemand je erfahren.

4.2. Regeln und Gebote

Religiosität wird oft als gewissenhaftes Befolgen von Geboten aufgefasst. Das ist eine oberflächliche Betrachtung. Gebote und Regeln sind festgelegt, begrifflich und objektiv. Sie entsprechen einer Vorstellung davon, wie der Mensch zu sein hat, damit er als guter Mensch gelten kann. Gebote können nützlich sein und ihre Befolgung anzuraten, vertiefte Religiosität richtet den Blick aber nicht auf Bilder, die dem Wirklichen vorge­stellt sind, sondern auf die Wirklichkeit selbst, die nicht als umgrenztes Etwas denkbar ist.

Durch die Verengung des Denkens auf Vor- und Nachteil kann man den tatsächlichen Vorteil nicht finden.

Im Befolgen der Gebote blickt der Einzelne nicht über sein Ego hinaus. Als Sinn der Unterwerfung unter das kollektive Regelwerk benennen konfessionelle Religionen stets die Aussicht auf den Lohn, der angeblich jenem Ego zukommt, das sich unterwirft. Da das Wesen des Egos aber darin besteht, den eigenen Vorteil zu sichern, ist die vermeint­liche Unterwerfung unter lohnende Regeln eine neue Strategie, die das egozentrische Treiben unter dem Deckmantel vorgeblicher Demut fortsetzt. Sich zu unterwerfen ist der Versuch, sich das zu unterwerfen, dem man sich unterwirft. Es ist ein Umweg, um auf der Stufenleiter nach oben zu kommen.

Matthäus 19, 30:*
Viele Erste aber werden Letzte sein und Letzte Erste.

Vom Glauben zu wissen und vom Wissen, es nicht zu tun

Ein Ich ist demütig, wenn es nur das für unverrückbar wahr erklärt, was es als wahr erkennen kann. Sobald es Aussagen für wahr erklärt, die es nicht überprüfen kann, gibt es seine Demut auf. Es setzt sich durch die angemaßte Überlegenheit vorgeblichen Wissens über jene existenzielle Position, die ihm in der absoluten Ordnung tatsächlich zukommt.

Politische Religionen predigen Demut, aber sie praktizieren sie nicht. Sie ver­wechseln Demut mit Unterwürfigkeit. Statt wahrzunehmen, was er wahrneh­men kann, glaubt der Gläubige an den Wahrheitsgehalt mythischer Bilder, weil er sich vom Glauben daran Vorteile verspricht. Tatsächlich ist jeder dogma­tische Glaube eine Missachtung der absoluten Ordnung. Glaube, der sich auf unbeweisbare Lehrsätze versteift, schadet dem Geist. Er macht ihn trunken oder stumpf; oft sogar beides.

Dogmenglaube geht nur soweit mit der absoluten Ordnung Hand in Hand, wie sein Hochmut Teil dieser Ordnung ist; die den Versuch, sie umzustoßen zwar erlaubt, sich durch den Versuch aber niemals umstürzen lässt. Dass Glaube weder Berge verrücken noch Maulbeerbüsche ins Meer versetzen kann, ist ein deutlicher Hinweis auf die wirkliche Macht.

Wahr steht über richtig und falsch.

Vertiefte Religion überwindet die Verdinglichung der Lebendigkeit, die einer Anpassung an Regeln entspringt. Tief religiös ist die Beachtung der Wirklichkeit, die sich im sub­jektiv erlebbaren Hier-und-Jetzt offenbart. Wer den Blick auf die Wirklichkeit richtet, wird mit wahr oder unwahr beschäftigt sein. Wer Regeln zur Religion erklärt, kümmert sich um richtig und falsch. Damit bleibt er im Horizont seines Strebens nach persön­lichen Vorteilen stecken.

4.3. Rituale

Sowohl zur heidnisch-politischen als auch zur spirituell-mystischen Religionspraxis gehört der Gebrauch von Ritualen. Allerdings haben sie in beiden Welten unterschied­liche Funktion.

Der heidnisch Gläubige versucht durch das Ritual die Entscheidungen Gottes zu beeinflussen. Er führt Rituale aus, um göttlichen Zorn von sich abzuwenden oder um die wohlmeinende Aufmerksamkeit des Himmels auf sich zu ziehen. Dazu betet er fünf Vaterunser und acht Rosenkränze. Für den Heiden ist das Ritual eine Handlungsabfolge, dem er magische Wirkungen zuschreibt. Die politische Religion übernimmt die magische Vorstellung des Heiden und ordnet ihr eine weitere - nämlich politische Funktion - zu: die Ausrichtung der religiösen Gemeinschaft an einheitlichen Mustern. Dadurch erhöht sie die soziale Bindekraft des Glaubens unter Einsatz sozialen Zwangs.

Es gibt keine heiligen Rituale. Es gibt nur Rituale, die religiösen Zwecken dienen.

Beim Mystiker soll der Gebrauch des Rituals etwas an ihm selbst bewirken. Er legt regelmäßige Zeiten für Kontemplationsübungen fest. Das Ritual dient dem religiösen Prozess der Bewusstwerdung. Es hat nur Sinn, wenn es dabei Fortschritt bewirkt. Die soziale Verbundenheit des Mystikers steigt umso mehr er seine substanzielle Verbind­ung zu allem erkennt.

Rituale: Zwei Funktionen

Heidnisch-politischer Glaube Spirituelle Praxis
Das Ritual bezweckt eine Beeinflussung Gottes. Das Ritual dient als Werkzeug eigener Erkenntnis.

Das Ritual wird vollzogen.

Das Ritual wird benutzt.

Die gruppenspezifische Form des Rituals wird für verbindlich erklärt. Die Gruppe spricht ihr magische Bedeutung zu. Abweichende Varianten gelten als Sünde.

Die Art des Rituals wird frei nach ihrer Wirksamkeit gewählt.

Selbst wenn sich die Rituale unter­scheiden, entbehren sie der Individualität.

Selbst wenn sich die Rituale gleichen, sind sie individuellen Bedürfnissen angepasst.


Wird der spezifischen Form eines Rituals eine religiöse Bedeutung beigemessen, verfehlt es das Heilige. Dem Heiligen kann keine feste Form zugeordnet werden, weil die Zuord­nung einer festen Form das Heilige auf die Ebene des Geformten und damit Begrenzten herabsetzt.

4.4. Trachten und Symbole
Wer konfessionelle Trachten trägt, will in den Augen seiner Nachbarn etwas gelten. Wer selbst etwas gelten will, dem gilt das Wahre wenig.

Was für gruppenspezifische Festlegungen auf bestimmte Rituale gilt, gilt ebenso für entsprechende Symbole und Trachten.

Symbole und Trachten, mit denen Gläubige verschiedener Konfessionen auf ihr Verschiedensein verweisen, sind kein Anzeichen dafür, dass das Wesen der Religion tief empfunden würde. Das Heilige als gemeinsamer Nenner aller Formen gibt keiner Form den Vorzug. Jede Form ist Äußerlichkeit, in die sich das Heilige zwar beliebig erstrecken mag, durch die es sich aber niemals selektiv repräsentieren lässt. Der ernsthaft Religiöse bleibt eher unsichtbar, als dass er durch Signale darauf verweist, dass er sich für etwas Besonderes hält.

4.5. Opfergaben
Der Heide opfert Ziegen, der Konfes­sionelle seine Freiheit, der Mystiker Vorstellungen, Irrtümer und Illusionen. Wer alle Illusionen geopfert hat, ist der Wahrheit gegenwärtig.

Die Grundidee des Heiden ist das Geschäftemachen mit dem Jenseits. Der Heide opfert. Das heißt: Er bietet dem Jenseits etwas an, um eine Gegenleistung zu bekommen. Der unpolitische Heide gab dabei etwas von dem, was der hatte: Teile der Ernte, ein Lamm, ein Kind.

Der politisch-konfessionelle Glaube hat diese Praxis nahtlos fortgeführt. So dienten all die festgesetzten Opfergaben, die das Alte Testament beschreibt, faktisch zwar der Ernährung der Priester, ihr theologischer Sinn lag jedoch darin, Gott dazu zu bringen, Israel das beanspruchte Land zu überlassen.

Ezechiel 44, 30:*
Das Speise-, Sünd- und Schuldopfer sollen sie essen; alles, was in Israel dem Bann verfallen ist, gehöre ihnen! Das Vorzüglichste von allen Erstlingen... und alle Weihegaben jeder Art... sollen den Priestern gehören...

Im Laufe der Zeit vollzog sich beim Opfergut ein Wandel, sodass sich die Opferpraxis fortentwickelt hat. Während der frühe Heide von dem opferte, was er besaß, opfert der Konfessionelle zusätzlich vom dem, was ihn selbst ausmacht: sein eigenständiges Urteil, die Freiheit des Denkens, das Vertrauen in den Wert seiner selbst, seine Willensfreiheit oder das Selbstbe­stimmungsrecht über seine Person.

Bei Abraham ging es noch um ein Opfern dessen, was vordergründig ihm gehörte: sein Kind. Jesus opferte, was er war. Er brachte seine eigene Person als Opfer dar, nachdem er sie in ein Opferlamm verwandelt hatte. Das Beispiel Jesu gilt seit zwei Jahrtausenden als Vorbild für die Gläubigen. Das Vorbild sagt: Opfert euch selbst.

Auch der Mystiker opfert: aber weder sich selbst noch konfessionelle Konkurrenten, die dem Heilsgewinn der Gläubigen angeblich im Wege stehen. Der Mystiker betrachtet sich selbst. Er erkennt, dass seine Person nicht der Repräsentant seines Wesens ist. Weil er das sieht, kann er sich von seinem Ego lösen, ohne ihm etwas anzutun. Er opfert die Illusion, als Person eine eigenständige Instanz zu sein. Der Mystiker opfert das Bild, dem er am liebsten entspräche.

Vom mystischen Glauben wird weder etwas herausgerissen noch herausgehauen.

Matthäus 5, 29:*
Wenn dein rechtes Auge dir zum Ärgernis wird, so reiß es aus und wirf es von dir.

Lukas 13, 7:*
... schon drei Jahre komme ich und suche Frucht an diesem Feigenbaum und finde keine; hau ihn heraus!

Es wird auch keine Zwietracht geschürt und niemand wird nieder­gemacht.

Lukas 12, 49-51:*
Feuer auf die Erde zu werfen, bin ich gekommen, und wie sehr wünschte ich, es würde schon brennen!... Meint ihr, ich sei gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, sondern Entzweiung. Denn von nun an werden fünf in einem Hause entzweit sein, drei gegen zwei und zwei gegen drei...

Lukas 19, 27:*
"Meine Feinde aber, die nicht haben wollen, daß ich König sei über sie, führt hierher und macht sie nieder vor meinen Augen!"

Mystischer Glaube rückt die Dinge im Kopf des Gläubigen an ihren rechtmäßigen Platz. Der Mystiker versucht nicht, über die Welt zu herrschen. Er versucht nur, sich ihrer Herrschaft zu entziehen. Konfession versucht, die Welt zu beherrschen. Mystik ist ein Weg, sich darin zu befreien.

Auch das, was beim Geschäftemachen eingehandelt werden soll, hat sich im Lauf der Zeit verändert. Während der frühe Heide durch sein Opfer einen diesseitigen Vorteil erwartete, geht es dem politisch-konfessionell Gläubigen seit der Spätantike um einen Platz im Himmelreich.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Jesus opferte seine Person. Der Mystiker opfert die Identifikation mit seiner Person. Ist das nicht dasselbe; bloß dass Jesus radikaler war? Auf den ersten Blick scheint es so. Genau betrachtet sind die Unterschiede wesentlich.

Der Mystiker hat beim Opfern keine politische Absicht. Zweck seiner Des-Identi­fikation von der Person ist die Freisetzung seines wahren Selbst aus der Gefang­enschaft im Horizont egozentrischer Ziele. Der Mystiker reinigt sich... und ist zufrieden, wenn es ihm gelingt. Dann ist er bereit, sein Wissen an jeden zu verteilen, der es haben will.

Jesu Opfer dient nicht der eigenen Reinheit. Die hat er als vorgeblicher Sohn Gottes längst erreicht. Es geht bei seinen Predigten auch nicht darum, sein Wissen um den Weg zur Reinheit an alle zu verteilen.

Markus 4, 11-12:*
... denen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil, auf daß sie... nicht verstehen... und sich nicht bekehren und nicht Vergebung finden.

Markus 4, 34:*
Ohne Gleichnisse redete er nicht zu ihnen [den Zuhörern]; waren sie aber unter sich allein, erklärte er seinen Jüngern alles.

Jesu Opfergang folgt einem politischen Vorsatz. Sein Ziel sieht er nicht darin, sich selbst vom Irrtum zu befreien, sondern die Guten von den Bösen.

Matthäus 3,12:*
Die Wurfschaufel hat er in seiner Hand, und säubern wird er seine Tenne; seinen Weizen wird er sammeln in den Speicher, die Spreu aber verbrennen in unauslöschlichem Feuer.

Matthäus 10, 14-15:*
Wenn man... eure Worte nicht anhört, so geht fort von... jener Stadt... Es wird dem Lande Sodoma und Gomorra erträglicher ergehen am Tag des Gerichtes als jener Stadt!

Der Mystiker reinigt sich selbst; von Illusionen, die ihm den Weg zur Wahrheit versperren. Er fordert von niemandem, sich seiner Ansicht zu beugen. Jesus sieht sich als zukünftigen Herrscher eines Volkes, das von wertlosen Elementen zu bereinigen ist. Der eine betreibt Religion, der andere Politik.

5. Religion und Politik

Ohne absichtslose Achtsamkeit wird kein Glaube dem Wesen wahrer Religion gerecht. Religion ist die Rückkehr des Bewusstseins aus der Beliebigkeit des Denkens in die Treue zu dem, was als wirklich wahrgenommen werden kann.

Der religiöse Impuls ist stets gefährdet, von politischen Interessen vereinnahmt zu werden. Das Absolute kann Ziel tatsächlicher Hinwendung sein; oder Vorwand, um Machtbereiche auszuweiten. Beispiel dafür sind politische Religionen.

Moses hat die politische Religion keineswegs erfunden. Er hat sie radikalisiert. In Ägypten wurde Ra, in Babylon Marduk, bei den Römern Jupiter, in Griechenland Apollon ebenso zu politischen Zwecken benutzt, wie der biblisch-koranische Gott im Herrschaftsgebiet der abrahamitischen Kultur.

Religion ist Privileg; Privileg derer, die Zugang finden. Was Glaube zur Pflicht erklärt, ist Politik. Keine Glaubenspflicht war jemals Ausdruck echter Religion. Echte Religion ist Angebot.

Politische Religionen sind religiöse Varianten, die den wesentlichen Sinngehalt vertiefter Religiosität durch politische Überfrachtung verfehlen. Es sind Glaubenslehren, die den religiösen Impuls zum Erhalt vorgeblich religiös legitimierter Machtstrukturen benutzen. Sie leiten den Impuls für ihre Zwecke um, indem sie behaupten, ihre Macht sei vom absolut Wahren als endgültige Ordnung des Diesseits gewollt. Sie bezeichnen sich als monotheistisch. Tatsäch­lich begründen sie Monopole, die sich kultureller Muster zur Selbst­ermächtigung bedienen. Politische Religion ist Gotteslästerei. Sie empfängt keine Macht aus Gottes Händen, sondern versucht, sie seiner Hand zu entreißen: erfolglos.

Selbstverständlich wird im Gewand konfessioneller Bekenntnisse auch echte Reli­gion praktiziert; teils aber nur in verbogener Form, weil der Machtanspruch der Konfes­sionen dem Impuls jahrtausendelang nur eine Möglichkeit ließ: sich mit erlaubten Formeln zu tarnen. Deshalb spricht man von jüdischer, christlicher oder islamischer Mystik. Die Begriffe sind jedoch widersprüchlich, ähnlich widersprüchlich wie herrschaftsfreie Diktatur, weißes Schwarz oder nasses Feuer. Oder man macht sich klar, dass die Begriffe jüdisch, christlich und islamisch die Qualität der Verdunkelung beschreiben, die ihr jeweiliger Anspruch echter Religion aufzwingt.

Religion: Ein Name, zwei Welten

Politische Religion Spiritualität / Mystik
Politische Religion befasst sich mit dem Bezug des Einzelnen zu Glaubens­bildern und Heilsgemeinschaften. Spiritualität befasst sich mit dem Bezug des Einzelnen zum Absoluten.
Politische Religion fordert die Anpassung an gruppenspezifische Regeln. Sie behauptet, von Gott zur Vermittlung kollektiver Regeln beauftragt zu sein. Für die Einhaltung der Regeln verspricht sie Lohn. Der spirituelle Mensch sucht im Hier-und-Jetzt nach dem Verhalten, das aus seiner Perspektive mit dem Ganzen übereinstimmt.
Politische Religion fordert die Herrschaft des Glaubens. Befragt nach ihrer Legitimation verweist sie ohne Beleg auf eine angebliche Glaubenspflicht. Für Spiritualität ist Glaube nur Hilfsmittel; um die Richtung anzudeuten, in der Erkenntnisse zu finden sind. Glaube dient, ohne dass er Herrschaft verlangt.
Politischer Glaube legt Formen fest. Er spaltet und gelobt Konformität mit einer Seite. Spiritualität blickt über Formen hinaus. Sie versteht die Einheit des mit sich selbst Identischen.

Der Wahrheitsgehalt eines Glaubenssatzes ist nicht bestimmbar. Sonst wäre es kein Glaube, sondern Wissen. Wahre Religion kann kein bloßer Glaube sein, weil sie dann ein Glücksspiel wäre. Wer Glück hat, glaubt ans richtige Dogma. Alle anderen kommen in die Hölle. Dogmenglaube ist ethischer Nihilismus.

Religion strebt nach Freiheit. Ziel eines jeden religiösen Bemühens ist es, den Menschen aus den Begrenzungen und Bedrückungen des personalen Daseins zu befreien. Nichts was die Freiheit dieses Strebens einschränkt, kann daher wahrhaft religiös sein.

Der Versuch, die Religionsfreiheit zu beseitigen ist ein grundlegender Vorsatz aller abrahami­tischen Glaubensformen. Mehr noch: Ihr erstes Gebot ist die Abschaffung der Religionsfreiheit. Überall dort, wo man sie gewähren ließ, ist ihnen genau das weitgehend gelungen. Politische Religionen sind nicht in der Lage, Religions­freiheit glaubhaft zu fordern. Was sie darunter verstehen, ist der Schutz vor der Übergriffigkeit anderer. Es ist keinesfalls die Bereitschaft, die eigene Übergriffigkeit auszusetzen.

Religionsfreiheit ist das Selbst­bestimmungsrecht des Einzelnen in religiösen Fragen. Das staat­liche Zugeständnis von Sonderrechten an ausgewählte Organisationen und Vertreter von Glaubensgemeinschaften, die im Schutz dieser Sonderrechte die Selbstbestimmung anderer übergehen, hebelt diese Freiheit aus. Vor allem Kinder sind der Willkür staatlich lizenzierter Dog­men ausgesetzt. Im Namen parteiischer Religion dürfen ihnen Sicht­weisen aufgezwungen wer­den, die ihre seelische Gesundheit beschädigen.

Glaube ist nur soweit religiös, wie sein Inhalt auf Mög­lichkeiten verweist, etwas zu erkennen. Das Faktum des Glaubens hat für sich allein keine religiöse Bedeutung. Sobald sich Glaube zum Wert an sich erklärt, verkennt er das Wesen vertiefter Religion.

5.1. Religionsfreiheit

Was man verbieten kann, ist streng genommen keine Religion. Im Grundsatz ist es dem Einzelnen immer freigestellt, die Verbindung zwischen sich und dem Absoluten in dem Umfang zu öffnen, in dem er fähig und bereit ist, es zu tun. Der Einzelne kann sich für sein Ego halten oder freisetzen, was darüber hinausgeht.

Der Mensch kann aber eingeschüchtert, verführt und dazu erzogen werden, an Mythen und die Machtansprüche derer zu glauben, die die Mythen verbreiten. Genau das zu bewir­ken, halten dogmatische Religionen für ihre Pflicht. Da der Einzelne auch dann nach der Verbindung zwischen sich selbst und dem Absoluten suchen kann, wenn er einen geforderten Glauben heuchelt, um sich vor Ausgrenzung zu schützen, ist es zwar unmöglich, religiöse Freiheit vollends zu entziehen, die Praxis dogmenkonformer Erziehung und sozialer Kontrolle, die im Einflussbereich konfessioneller Religionen üblich ist, zieht jedoch eine faktische Einschränkung der Religions­freiheit nach sich.

Seit sie in den Einflussbereich der biblischen Lehre geriet, war die Geschichte Europas von Religionskriegen, Pogromen ge­gen Andersdenkende, religiös motivierter Verfolgung, Vertrei­bung und Ausgrenzung geprägt. Erst die Aufklärung fand den Mut, sich gegen das biblische Gebot der Bevormundung zur Wehr zu setzen. Sie war es, die der Idee der Religionsfreiheit nach anderthalb Jahrtausenden zu neuem Leben verhalf. Aller­dings ist die Aufklärung bislang nur den halben Weg gegangen. Der institutionellen Religionsfreiheit hat sie zu ihrem Recht verholfen, die individuelle hat sie dabei zurückgestellt.

Politik fragt nicht nach Wahrheit. Sie fragt nach Machbarkeit, Machtgefüge und Vorteil. Für die Politik sind Glaubensgemein­schaften Machtfaktoren. Es sind weltanschauliche Parteien, mit denen man sich verbünden kann oder die man als Widersacher fürchten muss. Deshalb besteht Religionsfreiheit in den Augen der Politik aus der Befugnis aner­kannter Glaubensgemeinschaften, in ihrem jeweiligen Einflussbereich nach Gutdünken vorzugehen.

Zwei Ebenen der Religionsfreiheit

Institutionelle Freiheit Individuelle Freiheit
Schutz kollektiver Glaubensgemein­schaften vor der Unterdrückung durch konkurrierende Gruppen. Schutz des Individuums vor dem Zugriff kollektiver Glaubens­gemeinschaften.

Institutionelle Religion ist Gesellschaftspolitik. Spiritualität spielt sich zwischen dem Einzelnen und dem Absoluten ab. Sie ist keine politische Größe. Da sie politisch nicht verwendbar ist, macht sich die Politik kaum je zu ihrem Anwalt. Politik paktiert mit Konfession. Macht maskiert ihren Anspruch durch religiöse Gesten.

Konfessioneller Unterricht

Man stelle sich vor: Je nach politischer Gesinnung der Eltern gäbe es unterschied­liche Kindergärten, Grundschulen und Weltanschauungskurse am Gymnasium... Das Parteibuch könnte an die Geburtsurkunde gekoppelt werden. Ungenutztes Potenzial einer effizienten Gesellschaftspolitik!

So kommt es, dass der zentrale Bestandteil religiöser Freiheit, nämlich das spirituelle Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, bis heute unterschätzt wird. Als Kind bleibt der Einzelne genau jenen Kräften ausgeliefert, deren Vorsatz es ist, Religionsfreiheit abzu­schaffen. Bevor der Einzelne juristisch gesehen selbst bestimmen darf, ist sein Weltbild so von mythologischen Introjekten durch­setzt, dass die religiöse Selbstbestimmung behindert wird.

Da der Glaube konfessioneller Gemeinschaften logisch auf die Beseitigung der Religions­freiheit ausgerichtet ist, bedeutet die Gewährung institutioneller Freiheit für solche Gemeinschaften, zum Beispiel in Pädagogik und Erziehung, eine Einschränkung der individuellen. Eine aufgeklärte Politik trägt diesen Titel nur zurecht, wenn sie das bevormundende Element dogmatischer Religionen aktiv missbilligt; statt mit ihm gemeinsam Politik zu machen.

6. Liebe und Religion

Liebe ist mehr als ein Thema, mit dem sich Religion beschäftigt. Sie ist ihr eigentliches Ziel. Allerdings hat sie je nach religiösem Grundmotiv einen anderen Stellenwert.

Brechung und Rückbindung

Das Prisma bricht weißes Licht in tausend Farben, das Heilige sich selbst in tausend Formen. Wenn Grün versucht, über Rot zu herrschen, findet niemand mehr zum Weiß. Die Erkenntnis des Grünen, dass es rot ist und des Roten, dass es grün ist, verbindet sie zu reinem Licht.


Was Religionen voneinander unterscheidet, ist keine Religion. Es ist Politik oder Kultur.

Politik ist die Anwendung der Parteilichkeit, Religion ist ihr Ende. Parteilichkeit kann überwunden werden, wenn man über sie hinausgeht, nicht aber indem man für eine Partei alle Macht verlangt.
6.1. Liebe und Ganzheit

Liebe ist die Bindungsenergie der Ganzheit. Religion ist die geistige Rückbindung ans Ganze, also die Aufhebung von weltanschau­lichem Dualismus und Gebrochenheit. Je mehr sich Religion ihrem eigentlichen Wesen nähert, der Rückbindung des Egos ins Ganze, desto mehr Liebe setzt sie frei.

Nicht alles, was als Religion bezeichnet wird, ist in der Lage, den Fluss zum Ozean zu führen. Die heidnische Freiheit in erotischen Dingen kann Lust vermitteln, die eine Ahnung der Glückseligkeit enthält. Ohne tiefere Erkenntnis ist es aber eine Lust, die sich in Sinnlichkeit erschöpft.

Den Befehl Liebe deinen Nächsten!, den politische Religion erteilt, fassen viele in tatsächlich religiöser Weise auf. Die Mehrzahl schafft es bestenfalls zu einer Maske, hinter der sich ihr grundsätzlicher Eigennutz verbirgt.

Sich selbst und andere zu lieben, kann nur, wer sich selbst und andere mit keiner For­derung bedrängt. Du sollst! weist zurück, was ist. Zurückweisung ist das Gegenteil von Liebe. Liebe heißt: Du bist, wie Du bist und das ist auch in Ordnung so. Man kann den Nächsten nicht lieben, wenn man vom Nächsten Liebe verlangt. Liebe zu verlangen, ist keine Liebe, sondern Eifersucht.

2 Moses 20, 3-5:*
Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!... Denn ich... bin ein eifersüch­tiger Gott...

6.2. Liebe und Kampfgemeinschaft

Politische Religion predigt Liebe gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gruppe. Gegen Andersdenkende predigt sie Ausgrenzung und Hass. Auch das Gebot der Feindesliebe, das sich das Christentum auf die Fahnen schreibt, hat nicht das Wohl des Feindes zum Ziel, sondern das eigene.

Sprüche 25, 21-22:*
Wenn Hunger hat dein Feind, dann speise ihn mit Brot, und wenn ihn dürstet, tränke ihn mit Wasser! Denn Feuerkohlen häufst du auf sein Haupt, und auch der Herr wird es an dir vergelten.

Römer 12, 9-20:*
Die Liebe sei ungeheuchelt... Segnet eure Verfolger... "wenn dein Feind hungert, gib ihm zu essen; wenn er dürstet, gib ihm zu trinken; denn tust du das, wirst du feurige Kohlen sammeln auf sein Haupt."

Paulus und Salomo sind sich einig: Feindesliebe ist eine Taktik. Indem man sie prakti­ziert, sammelt man Lohn für sich selbst. Was soll das aber für eine Liebe sein, die über den Köpfen der Feinde feurige Kohlen anhäuft?

Politische Religion definiert sich als Kampfgemeinschaft gegen Feinde, die sie, der Logik des Bekämpfens folgend, verwerflich nennt. Da der Kampf gegen die Feinde durch innere Zwietracht zu scheitern droht, formuliert sie die Pflicht, interne Konflikte beizulegen. In Unkenntnis ihres wahren Wesens bezeichnet sie diese Friedenspflicht voreilig als Liebe.

Gesundheit und Liebespflicht

Liebe ist ein spontanes Vermögen, aber kein Vorsatz. Es fällt dem zu, der sich und andere erkennt.

Nichts schadet dem Guten mehr, als der Versuch, es zu erzwingen. Das Gute ist nicht die Frucht des Bösen, sondern die Befreiung davon.

Das christliche Liebesgebot missversteht das Wesen der Liebe. Seine stän­dige Wiederholung hat aber dazu beigetragen, die Auf­merksamkeit auf die Bedeutung tatsächlicher Liebe auszurichten. Deshalb gab und gibt es eine Menge Christen, deren Bemühen um das Wohl anderer höchst wertvoll und fruchtbar ist, obwohl die Begründer ihres Glaubens Liebe in einer Weise verstanden, die ihrem Wesen zum Teil widerspricht.

Die Gesten der Liebe absichtlich anzuwenden, den Impuls, den man tatsäch­lich in sich haben mag, zeitgleich aber zu verleugnen, birgt jedoch das Risiko, seelisch zu erkranken. Viele, die Liebe als Pflicht akzeptieren und opferbereit altruistischen Idealen folgen, leiden unter einem Verlust unbefangener Lebendigkeit. Wer dem Guten aus Gehorsam dient, riskiert dem Dienst auch das zu opfern, was er besser leben ließe: die Akzeptanz seines authentischen Selbst. Die Wirklichkeit unter eine Vorstellung zu beugen, verkrümmt das Wesen des Gebeugten. Jedes Ideal ist daher auch ein Weg zum Falschen. Besser man gesteht sich in Demut das Unvermögen ein, zu lieben, als dass man sich vorgaukelt, es zu tun. Die Erkenntnis Ich kann nicht lieben enthält mehr Liebe, als der Vorsatz, sich zur Liebe zu zwingen.

6.3. Liebe und Erkenntnis
Ein Gott, der fordert, ist niemals ein Gott der Liebe. Ein Gott, der fordert, führt Krieg; selbst wenn er das Wort Liebe in immer neuen Varianten formuliert.

Die Fähigkeit, der Wirklichkeit liebend zu begegnen, steht und fällt mit dem Bild, dass man sich von ihr macht. Deutet man die Wirklichkeit als einen Kampfplatz, auf dem sich angeblich Gutes und Böses bekriegen, wird man zur Liebe gar nicht fähig sein; egal ob ein Gott sie fordert oder nicht. Das gilt erst recht, wenn man sich selbst für ein Etwas hält, dessen Existenz vom Sieg über ein feindliches Außen abhängt.

Erst wenn man die Wirklichkeit als Ganzes betrachtet, das sich wesensgleich in jeder Form zum Ausdruck bringt, wird man vom Widerstreit der geformten Gestalten nicht mehr geblendet sein. Zur Liebe gehört die Erkenntnis, dass einem das, was man scheinbar nicht ist, vollständig angehört.

7. Religion und Psychopathologie

Die Psychiatrie befasst sich mit dem Wohl der Seele, die Religion mit ihrem Heil. Da beide Themen ineinander verwoben sind, besteht Interesse, das Zusammenspiel von religiöser Ausrichtung und Psychopathologie zu verstehen. Für beide, für Religion und Psychiatrie, gilt gleichermaßen: Sie können für die Psyche nützlich oder schädlich sein.

Das Spektrum potenziell schädlicher Wirkungen der Psychiatrie ist breit. Zu nennen sind:

Konfessioneller Glaube entspricht einem komplexen psychosozialen Verhaltensmuster. Sein Wert für die seelische Gesundheit ist ambivalent. Neben schädlichen Wirkungen sind förderlich-schützende Effekte zu erkennen. Wohin die Waage ausschlägt, hängt von den individuellen Interpretationen und Identifikationen des Einzelnen ab.

Bestimmte schädliche Wirkungen, wie Konformismus, Spaltung von Gut und Böse sowie Ausgrenzung Andersdenkender sind spiritueller Religion wesensfremd; auch dann, wenn nicht zu leugnen ist, dass derlei Denkmuster so tief in die Grundstrukturen der mensch­lichen Psychologie eingewoben sind, dass sie oft erst durch ebenso tiefgehende spiri­tuelle Erkenntnisse überwunden werden; und deshalb auch in Kreisen weit verbreitet sind, die Spiritualität auf ihre Fahnen schreiben. Außerdem kann auch die Beschäfti­gung mit spirituellen Fragen schädlich sein; wenn sie zum Beispiel dazu verwendet wird, die Konfron­tation mit der Wirklichkeit zu umgehen. So mancher versucht die Wirklichkeit zu überspringen, statt in ihr aufzugehen.

Religion ist...

Ohne Religion ist Normalität erreichbar, nicht aber seelische Gesundheit. Normalität beschreibt das Vermögen, sich normgerecht in die Rollenspiele des jeweiligen Umfelds einzufügen und dessen Wertvor­stellungen zu teilen.

Seelische Gesundheit beruht auf...

7.1. Konfessioneller Glaube
7.1.1. Schützende Effekte

Konfessioneller Glaube bietet klare Eckpunkte:

Das sind Strukturen, die Menschen mit brüchigem Selbstwertgefühl, geringem Selbst­bewusstsein und mächtiger Lebensangst einen wertvollen Rahmen bieten, der sie vor manifesten Formen klinischer Psychopathologie beschützen kann. Deshalb ist es in der Tat oft so, dass konfessionell Gläubige psychisch stabiler sind als Atheisten, denen es misslingt, ihre Lebensangst durch soziale Erfolge auszugleichen. Für die Verlierer der sozialen Konkurrenz ist der Glaube an einen entrückten Retter ein Heilmittel, das die Härten ihres Daseins erträglicher macht; sodass ihr Leid sie nicht verzweifeln lässt.

7.1.2. Pathogene Wirkung

Bei der Beschreibung pathogener Wirkungen konfessioneller Glaubensformen gilt es, drei Varianten gläubigen Ausdrucks zu unterscheiden:

  1. tiefgehende Identifikation mit vermeintlich offenbarten Dogmen und durchgehende Orientierung am Text vorgeblich heiliger Schriften
  2. oberflächliche bzw. fassadäre Identifikation / Mitläufertum
  3. irrtümliche Identifikation mit einer Glaubensgemeinschaft
7.1.2.1. Tiefgreifende Identifikation

Unverrückbarer Dogmenglaube ist manifester Wahn. Das Wesen des Wahns besteht darin, ein unbeweisbares Vorstellungsbild für unverrückbar wahr zu halten, ohne zu erkennen, dass eine zweifelsfreie Unverrückbarkeit aus Mangel an Beweisen argumen­tativ nicht haltbar ist. Da Offenbarungsreligionen genau diesen Wahn zur höchsten Pflicht erklären, können sie bei empfänglichen Personen schwere seelische Erkrankungen verursachen.

Wahndynamik

Jeder Wahnhafte entwickelt eine Wahndynamik. Unter Wahndynamik versteht man den bestimmenden Einfluss einer Wahnidee auf das Verhalten. Wer unter einem Verfolgungswahn leidet, verbarrikadiert sich womöglich in seiner Woh­nung. Wer ernsthaft glaubt, Napoleon zu sein, posiert nach dem Vorbild des großen Siegers.

Nicht jede Wahndynamik ist spektakulär, nicht jede bringt überwiegend schäd­liche Konsequenzen mit sich. So kann ein gutgläubiger Mensch unver­rückbar glauben, dass Gott einst Propheten eingab, Menschen das Wohl anderer ans Herz zu legen und dass Jesus tatsächlich übers Wasser ging. Folgt er seinem Glauben redlich, kann das für ihn und andere ein Segen sein.

Kein konfessioneller Glaube beschränkt sich aber auf die eben erwähnte Botschaft allein. Vielmehr verbreiten Konfessionen Glaubensinhalte, die mit Liebe unvereinbar sind. Die Wahndynamik des Wohlmeinenden, der weder Bibel noch Koran tatsächlich liest, mag harmlos bleiben oder sogar fruchtbar sein. Wer sich aber grundlegend mit den Widersprüchen der vermeintlich prophe­tischen Botschaften zu identifizieren versucht, kann seelische Spannungen entwickeln, die nur durch eine Wahndynamik abzuführen sind, die andere Leute das Leben kostet. Die Geschichtsbücher sind voll davon. Auch heute noch hören wir davon in den Medien.

Nur selten ist die Identifikation mit dogmatischen Vorgaben so tiefgreifend, dass sie bis ins Wahnhafte führt. Meist bleibt sie unvollständig, trotz aller Mühen, sie vollständig zu vollziehen. Dann führt der Versuch, das Vernunftwidrige für sinnvoll zu halten, lediglich zu Persönlichkeitsstörungen; die ihrerseits aber weitreichende Konsequenzen für den Betroffenen und sein Umfeld haben können.

7.1.2.2. Fassadäre Identifikation

Hätte Moses den Israeliten nicht befohlen, bereits Kindern seine Botschaft einzuschär­fen (2 Moses 13, 8), hätte sich sein Glaube niemals ausgebreitet. Ein wesentliches Erfolgsrezept der Offenbarungsreligionen beruht darauf, Individuen so früh wie möglich die Freiheit zu entziehen, über religiöse Fragen eigenständig zu entscheiden. Das führt dazu, dass das Bekenntnis zu dieser oder jener Religion im Machtbereich abrahamiti­scher Konfessionen zur einer Fassade wird, die die meisten Menschen fraglos übernehmen.

Da die Mehrheit nur wenig Interesse an wahrhaft religiösen Fragen hat und sich von persönlichen Notwendigkeiten absorbieren lässt, ist die konfessionelle Fassade für sie ein auskömmlicher Kompromiss. Das spaltende Weltbild, das der Fassade eingewoben ist, ermutigt das Individuum jedoch nicht zu einem tiefergehenden Interesse an sich selbst, sondern bloß zum Rollenspiel. Es fixiert Menschen daher auf die Normalität ihres jeweiligen Kulturkreises. Normalität ist rudimentäre Lebendigkeit.

7.1.2.3. Irrtümliche Identifikation

Auch wenn die Mehrheit kaum religiöses Interesse haben mag, hat es eine große Minderheit durchaus. Viele suchen nach dem Wesentlichen und haben längst erkannt, dass das Wesentliche nicht im Zufälligen und Wechselhaften innerweltlicher Gewinne liegen kann, sondern nur im Wesen ihrer selbst... und in dem, was keinen Wechselfällen unterliegt.

Es gibt sogar Benediktinermönche, die ständig von "uns Christen" reden, ohne selbst welche zu sein. Sie machen sich nicht klar, dass man nicht zeitgleich Dogmen verwerfen und dem Glauben, der sie verkündet, treu bleiben kann.

Die Aufdringlichkeit, mit der sich konfessionelle Glaubenslehren als einzig legitimen Weg zum Heil verstehen, verwirrt viele bei der Wahl des besten Weges zu sich selbst. Aus Irrtum, Gewohnheit, Suggestibilität und der Angst vor Ausgrenzung bezeichnen sie sich als Gläubige dieser oder jener Konfession, obwohl sie es inhaltlich nicht sind.

Der Konflikt zwischen dem Glauben, dass man dem Glauben treu bleiben sollte und der Erkenntnis, dass es falsch ist, es weiter zu tun, kann zu schwerer Gewissensnot führen. Im guten Falle ist es das Gewissen, das letztendlich siegt.

7.2. Spiritualität

Wohlgemerkt

Religion ist die Befreiung des Selbst aus den Grenzen des Egos. Desidenti­fikation vom Ego bedeutet nicht dessen Schädigung; und erst recht nicht seine Beseitigung. Sie führt lediglich dazu, dass sich das Ich nicht mehr in den Deutungshorizont des Egos einsperrt.

Spiritualität und Mystik verkörpern die Essenz der Religion. Ohne Einbe­ziehung ihrer Antworten kann die Psyche zwar lernen, sich normal zu verhal­ten und in der Normalität das Leben sinnvoll zu gestalten, vollumfänglich gesunden kann das Ich aber nicht.

Dass dem mystischen Wirklichkeitsverständnis eine große Rolle bei der Heilung seelischer Erkrankungen zusteht, heißt nicht, dass es wahllos als Allheilmittel gelten kann. Neben Heilungschancen sind Risiken zu nennen.

7.2.1. Risiken

Eine erfolgreiche Arbeit an der Desidentifikation vom Ego setzt voraus, dass überhaupt ein stabiles Ego besteht. Für Menschen mit brüchigem Ego kann es daher ratsam sein, sich der Beschäftigung mit mystisch-spiritueller Praxis zu enthalten und stattdessen Normalität anzustreben. Das gilt vor allem für Menschen, die an einer Psychose erkrankt sind.

Zu den Risiken der Spiritualität gehört ihr Missbrauch zu Abwehrzwecken. Sich dem Leben zu stellen, verlangt Mut und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Statt sich zu stellen, kann man die profanen Freuden und Notwendigkeiten des Lebens aber auch abwerten. Dann handelt man wie der Fuchs, dem die Trauben als sauer gelten, weil er sich sein Unvermögen nicht eingesteht, an sie heranzukommen.

Statt seine Fähigkeiten im Konflikt mit Widrigkeiten zu entwickeln, sonnt sich so man­cher im Glanz geistiger Sphären, deren Höhen er nicht tatsächlich anstrebt, sondern als bereits erreicht erklärt, weil er die Kernaussagen der Mystik auszusprechen weiß. Der Schaden, der so entsteht, kann sich in der späten Einsicht offenbaren, dass zwar viele Trauben verpasst wurden, die Verleugnung des Appetits und des Unvermögens, ihn zu stillen, aber nicht zum Einklang mit dem Leben geführt hat.

7.2.2. Chancen

Während es für eine Gruppe Kranker riskant sein kann, spirituelle Praktiken anzuwend­en, zum Beispiel Meditation, überwiegen für alle übrigen die Vorteile. Alle neurotischen, also nicht-organischen, Erkrankungen können durch spirituelle Erkenntnis günstig beeinflusst oder gar kausal geheilt werden. Dazu zählen neurotische Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen ebenso wie Persönlichkeitsstörungen oder Suchterkran­kungen.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.
** Der Koran, (Komet-Verlag, ISBN 3-933366-64-X), Übersetzung von Lazarus Goldschmidt aus dem Jahr 1916.