Demut


  1. Begriffe
  2. Beziehungsebenen
    1. 2.1. Soziale Demut
    2. 2.2. Religiöse Demut
    3. 2.3. Vorgebliche Demut
  3. Hochmut und Normalität
  4. Demütigung und Heilsversprechen
Drei Arten zu sein, die der Mensch nicht erzwingen kann: liebend, demütig und gelassen. Wenn man Zwang unterlässt, können sie zustande kommen.

Demütig ist, wer sich am Kleinen erfreut, nicht, wer auf seine Größe verzichtet.

1. Begriffe

Der Begriff Demut geht auf das althochdeutsche diomuoti = dienstwillig zurück. Darin sind die Wörter dienen und Mut enthalten. Die tiefere Bedeutung des Dienens kommt im litauischen Verb teketi = laufen, fließen, rinnen und im altindischen takti = eilt zum Ausdruck. Teketi und takti gehen auf dieselbe indoeuropäische Wurzel wie dienen zurück.

Rinnen und fließen: Das sind Seinsarten des Wassers. Wasser beharrt nicht auf einer bestimmten Form. Ohne zu zögern fließt es in die Form, die seinem Dasein jeweils zukommt. Das Jeweils bezeichnet dabei stets die absolute Gegenwart. Wasser nimmt keine Form ein auf die es sich versteift, um damit willkürlich Zukunft zu bestimmen. Es nimmt die jeweilige Gegenwart an, in der sich alle momentanen Gegebenheiten der Wirklichkeit zu einem umfassenden Prozess vereinen. Es verwirklicht in dieser Gegenwart sein Wesen. In jedem Wie, das ihm zukommt, bleibt Wasser seinem Wesen treu.

Positionen

Demut heißt, den Platz einzunehmen, der dem Wesen aus seinem Sosein heraus zu­kommt. Der Stein liegt, wo er liegt. Der Baum wächst, wo er wächst. Der Mensch geht, wo er geht. Wenn er geht, wo er geht, kann er heute dort sein, wo der Stein liegt, morgen da, wo der Baum wächst und übermorgen dort, wohin ihn ein Leben führt, dem er sich überlässt. Wenn er sich beim Gehen nicht in Gedanken an seinen Vorteil verliert, ist er im Wachsein gegenwärtig.

Im Begriff Mut erkennt man die indoeuropäische Wurzel mō- = nach etwas trachten, etwas anstreben, wollen. Derselben Wurzel entspringt die Moral. Der Mutige hat ein Ziel, für das er sich stark macht. Meist wird es ein Ziel sein, das ihm persönlich nützt.

Im Begriff Demut wird das Trachten des Mutes und die Hingabe des Dienens zur Bezeichnung einer besonderen Haltung vereint. Wie der Mutige, so trachtet auch der Demütige nach etwas. Der Demütige trachtet jedoch nicht danach, entgegen dem Lauf der Dinge einen persönlichen Vorteil zu erzwingen. Statt dem eigenen Vorteil dient sein Mut einem höheren Ziel. Es geht ihm um Übereinstimmung mit moralischen, also mit überpersönlichen Werten. Er trachtet danach, in der jeweiligen Gegenwart so aufzugehen, dass er sein Wesen erfüllt und die Welt, in die er eingebettet ist, harmonisch ergänzt.

Der Demütige nimmt die Wirklichkeit an, ohne vor ihren Härten zurückzuschrecken. Dann tut er, was seinem Wesen entspricht. Der Hochmütige wirft der Wirklichkeit vor, falsch zu sein. Er versucht, sich mit seinem Urteil über sie zu stellen und sie seinen Zwecken anzupassen.

2. Beziehungsebenen

Demut verweist auf ein Beziehungsverhältnis. Der demütige Mensch akzeptiert, als Teil in ein Ganzes eingebunden zu sein, in dem er als Teil nicht nur geborgen ist, sondern dem er als Teil auch zur Ergänzung dient. Der Teil, der dem Ganzen dient, ist stets die Person, die mehr oder weniger demütig ist; oder sich zumindest so verhält. Jede echte Demut weist über die Person des Demütigen hinaus. Der Empfänger der Dienstbarkeit kann dabei unterschiedlich sein.

Echte Demut ist auf allen Ebenen von vorgeblicher Demut zu unterscheiden. Vorgeb­liche Demut ist berechnend und damit im Grunde Heuchelei.

Demut heißt nicht Demut zu zeigen. Demut heißt zu sein, was man ist.

Heucheln geht auf das mittelhochdeutsche Verb huchen = sich kauern zurück. Es ist mit der Wortgruppe um hocken und der indoeuropäischen Wurzel keu- = biegen verwandt. Wer Rücken oder Knie in Gesten beugt, deren Zweck es ist, Demut anzuzeigen, gibt Demut vor, ohne demütig zu sein. Menschen mag er damit beeindrucken, die Wirklichkeit nicht.

Heil ist nur Heil, wenn es dem Heil aller entspricht.
2.1. Soziale Demut

Auf der sozialen Ebene verhält sich demütig, wer das Wohl einer Gruppe oder das einer anderen Person als wichtiger erachtet als das eigene; ohne dass er seiner Haltung eine Bedeutung zumisst, die den Horizont des sozialen Gefüges überschreitet, an dem er teilnimmt.

Soziale Demut bleibt im Regelfall egozentrisch, weil der, der dem Interesse einer Gruppe dient, zumeist Mitglied dieser Gruppe ist und die Gruppe ihrerseits in Abgrenzung und Konkurrenz zu anderen Gruppen steht.

Als Sozialverhalten kann soziale Demut vorauseilender Gehorsam oder Folge von Demütigungen sein, die einer am anderen vollstreckt. Hier kommt der Wortstamm mō- = nach etwas trachten im ursprünglich egozentrischen Sinne zum Zuge. Die Demut des Vorauseilenden oder Gedemütigten trachtet nach den Vorteilen, die das demütige Verhalten verspricht: Lohn oder Verschonung vor der Gewalt eines Mächtigen. Im vollgültigen Sinn ist ein solches Verhalten nicht demütig, sondern ebenso berechnend, wie jedes andere, das an persönlichen Vor- und Nachteilen aus­gerichtet ist.

Soziale Demut, also die Bereitschaft, die eigenen Interessen den Interessen anderer unterzuordnen, kommt als patho­logisches Muster bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen vor, zum Beispiel bei depressiven oder abhängigen Persön­lichkeiten. Wohl dosiert ist sie jedoch Voraussetzung jeder solidarischen Gemeinschaft.

Dienstbereitschaften

Typ Muster
Soziale Demut Ich bewerte die persönlichen Vorteile anderer höher als die eigenen. Ich bin Teil einer Gruppe.
Religiöse Demut Ich stelle grundsätzliche Werte über den persönlichen Vorteil; aber auch über den persönlichen Vorteil anderer. Ich bin Teil des umfassend Ganzen.
Vorgebliche Demut Ich verhalte mich demütig, um Vorteile für mich zu bewirken. Meine Person ist kein Teil einer höheren Einheit, die über ihr steht, sondern das, dem ich tatsächlich diene.

2.2. Religiöse Demut

Die Bereitschaft, einer überpersönlichen Ordnung zu dienen, geht bei der religiösen Demut über den Horizont sozialer Interessen und Vorteile hinaus. Religiöse Demut dient höheren Werten an sich: der Wahrheit, der Erkenntnis, der Schöpfung, dem Wollen und Planen einer als heilig gedachten, transzendenten Instanz.

Kindstod
Nicht jeder kann zum Friedhof gehen. Wer zum Friedhof geht, ist bereit, mit dem, was geschehen ist, Frieden zu machen. Wer aber keinen Frieden machen kann, der soll sich der Entscheidung des Himmels verweigern. Nur wer es wagt, gegen Gott aufzustehen, ist in der Lage, ihm treu zu sein.

Auch im religiösen Sinn ist Demut mehr als eine Dienst­bereitschaft, von der sich der Dienende Vergünstig­ungen vonseiten jener Instanz verspricht, der er sich dienstwillig zur Verfügung stellt. Religion versteht sich als Rückbesinnung des Ich auf den Urgrund jener Wirklichkeit, aus der es hervorgeht.

Religiöse Demut beinhaltet den Verzicht auf die Vertretung persönlicher Teilinteressen, die nicht im Sinngefüge des Ganzen aufgehen.

Welches Teilinteresse im Sinngefüge des Ganzen aufgeht und welches nicht, ist abschließend kaum zu entscheiden. Da jede Situation einzigartig ist, kann das Passende nur jeweils neu ertastet werden. Gewiss wird man aus Erfah­rung Regeln formulieren, die Entscheidungen erleichtern. Trotzdem kann hier richtig sein, was dort nicht zutrifft.

Ein nahtloses Aufgehen im Sinngefüge des Ganzen ist nur möglich, wenn zwischen dem Demütigen und dem Ganzen, dem er dient, Wesensgleichheit besteht. Wird das Heilige vom Weltlichen kategorisch unterschieden, ist religiöse Demut im vollgültigen Sinn unmöglich. Was dann als Demut erscheint, bleibt egozentrische Fügsamkeit gegenüber einer fremden Macht, deren Wohlwollen man sich verdienen will.

Bekenntnis oder Geständnis

Glaube, der sich auf dogmatische Lehrsätze stützt, verlangt, mutwillig zu glauben, was man nicht wissen kann. Das hält er für Demut. Der demütige Mensch habe den eigenen Verstand zu missachten. Sein Bekenntnis zum Lehr­satz stehe über dem Geständnis, dass er nicht weiß, ob er überhaupt stimmt.

Ist es aber nicht eher ein Zeichen der Demut, Unwissenheit über das ein­zugestehen, was man nicht weiß? Glaube, der etwas zu kennen behauptet, was er nicht erkennen kann, ist Demut gegenüber dem eigenen Hochmut.

Zur Demut kommt es weder durch Gehorsam noch durch Absicht. Zur Demut kommt es durch Erkenntnis.
2.3. Vorgebliche Demut

Der strategische Verzicht auf die Vertretung eigener Interessen kann kaum je als echte Demut gelten. "Strategische Demut" ist ein Widerspruch in sich.

Besondere Ansprüche

Wenn der Demütige bei der Vertretung seiner Interessen scheitert, zuckt er mit den Schultern und versucht es ein zweites Mal. Ein egozen­trischer Mensch glaubt im Scheitern, etwas Schlimmes sei passiert. Er zieht sich irritiert zurück oder versteift sich auf vermeintliches Recht.

Zwischen echter Demut und demütigem Verhalten kann eine Lücke klaffen. Das Kernkriterium echter Demut heißt nicht, keine persönlichen Interessen zu verfolgen. Es heißt: persönlichen Interessen keine besondere Bedeutung beizumessen.


Das Adverb besonders entspringt dem gemeinger­manischen sunder = abseits, für sich. Zur selben Familie gehören altindisch sanutar = weit weg, abseits und lateinisch sine = ohne. Der Glaube des Egos an seine Besonderheit verkennt seine Bindung zum Rest der Welt. Es erlebt sich abgesondert, weil es ohne anderes zu bestehen glaubt.

Wer sich absichtlich um ein demütiges Verhalten bemüht, weil er glaubt, demütiges Gebaren an sich werde belohnt, sieht nachgerade vom Ganzen ab. Er verfolgt egozentrische Interessen; nämlich den Wert der eigenen Person und deren Position in einem eschatologischen Universum durch ein Verhalten zu erhöhen, das er für besonders beachtlich und lobenswert hält.

Eschatologisch enthält das griechische eschatos [εσχατος] = das Letzte. Das Adjektiv eschatologisch verweist darauf, dass hier kein als rein physikalischer Prozess gedachtes Univer­sum gemeint ist, sondern eines, dem das Ringen um Recht und Wahrheit als letztes und damit abschließendes Motiv eingewoben ist.

Universum ist aus lateinisch unus = eins und vertere = drehen, wenden gebildet. Das Universum ist auf das Eine hingewendet.

Wer außerstande ist, dem Himmel durch Einsicht zu folgen, handelt in größerer Demut, wenn er zur Weigerung steht, statt so zu tun, als ob er ihm zustimmt.

Unbefangenheit

Demut ist nicht daran zu erkennen, dass der Demütige sein Eigeninteresse systematisch in den Hintergrund stellt. Die Person, die als Nutznießer des Eigeninteresses in Erscheinung tritt, ist Ausdruck des Ganzen. Der Demütige wird daher auch die eigenen Interessen als vollgültig anerkennen und sie unbefangen vertreten; aus dem Wissen heraus, dass ihre Berechtigung nicht nur als egozentrischer Anspruch der Person zu behaupten ist, sondern sich aus dem Sinngefüge des Ganzen ergibt.

Die Interessensvertretung einer egozentrischen Person ist im Gegensatz dazu befangen; befangen innerhalb der vermeintlichen Grenze zwischen dem Ich und der Welt.

3. Hochmut und Normalität

Wer sich erhöht, grenzt sich ab. Wer sich abgrenzt, steigert den Bedarf, sich zu erhöhen, weil er sich von dem bedroht fühlt, was hinter der Grenze liegt.

Hochmut ist das Gegenteil der Demut. Hochmütig ist, wer sich eine Bedeutung beimisst, die ihm nicht zukommt und sich dadurch gegenüber dem Umfeld erhöht.

Wir existieren als individuelle Personen. Individuell heißt ungeteilt (lateinisch dividere = teilen). Das Individuum geht aber nur dann von einem folgerichtigen Verständnis seiner Individualität aus, wenn sein Selbstbild die Wirklichkeit nicht willkürlich in Ich und Nicht-Ich aufteilt ohne die Unmöglichkeit einer Abtrennung des Ich vom Nicht-Ich zu beachten. Individualität ist Ausdruck umfassender Einbindung an der Stelle der Raumzeit, von der aus das individuelle Eingebundensein und die Welt erkennbar wird.

Individuen fällt es zu, sich persönlich um ihre Belange zu kümmern. Sie sind Anwälte ihrer selbst. Deshalb ist ihr Weltbild perspektivisch verzerrt. Sie überschätzen die Bedeutung, die ihrer Person objektiv zukommt. In Wirklichkeit haben die eigenen Belange nicht mehr Bedeutung als die Belange einer x-beliebigen Person. Diese Form der Selbstüberschätzung ist normal.

Normopathie

Solange man den Begriff Normopathie nicht abwertend versteht, ist er zur Bezeichnung des egozentrischen Normverhaltens treffend. Der Normopath (griechisch pathos [παθος] = Leid, Schmerz) leidet darunter, dass er seine Person in den Mittelpunkt seines Denkens und Handelns stellt. Da der Horizont der Person den des Selbst aber nicht umfasst, bedeutet Egozentrizität Verkrümmung ins Krankhafte.

Krank entstammt der indoeuropäischen Wurzel ger- = biegen, krümmen, von der auch die Begriffe Krampf, Kringel und Kranz abgeleitet sind. Krankes ist Gekrümmtes, das seine eigentliche Form verfehlt.

Da es als Normverhalten des Individuums gilt, sich selektiv um seine persönlichen Belange zu kümmern, wird diese Form der Selbstüberschätzung vom Umfeld nicht als hochmütig wahrge­nommen. Als hochmütig gilt erst, wer seine persönliche Bedeutung zusätzlich unterstreicht, indem er andere gezielt abwertet. Oft wird es sich dabei um narzisstische Persönlich­keiten handeln.

4. Demütigung und Heilsversprechen

Demut kann nicht durch Demütigung bewirkt werden. Demütigung ist kein Mittel, das den Gedemütigten zur Demut bringt, sondern ein Zeichen dafür, dass es dem, der ihn demütigt, an Demut fehlt.

Religion ist das Bemühen um eine Lebensführung, die sich nicht im Horizont einer beliebigen Person erschöpft, sondern vollstän­dig ins absolute Sinngefüge einfließt. Demut ist daher ein reli­giöses Kernmotiv. Erst wenn das Individuum vom Normver­halten ablässt, zentriert es sein Leben nicht mehr in die verkrüm­mende Mitte der eigenen Person, sondern in die unaufteilbare Ganzheit, die sein Wesen zum Ausdruck bringt. Nur der religiöse Mensch kann sich umfassend entkrümmen.

Ein unauffälliges Verb wäre entfalten. Da es alltäglicher ist, fiele seine Bedeutungstiefe aber schnell einem oberflächlichen Verständnis zum Opfer. Wer aber versteht, dass die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit nur durch die Preisgabe des Anspruchs auf eine besondere Bedeutung möglich ist, kann getrost von Entfaltung statt Entkrüm­mung sprechen.

In der abendländischen Tradition war die Tatsache, dass Religion danach ruft, die Person in den Hintergrund zu stellen, Ausgangspunkt von Fehlentwicklungen. Man hat geglaubt, dass religiöse Demut durch zweckdienliche Demütigung des Einzelnen zu erreichen ist. Deshalb gehören Demuts­gesten, Unterwerfung und Gehorsam für politisch-konfessionelle Glaubensformen zu Selbstbild und Aufgabe der Gläubigen. Ist das aber wahre Demut? Dient das ihrem eigentlichen Ziel: persönlichen Interessen nämlich keine besondere Bedeutung mehr zuzumessen. Tatsächlich sind Demutsgesten und Gehorsam Mittel, um sich auf Erden Bedeutung zu verschaffen, oder im Jenseits eine bessere Position. Auf Anhaltspunkte dafür, dass klerikales Purpur für echte Demut steht, wartet die Menschheit bis heute.

Demut und Erkenntnis

Da man echte Demut leicht verfehlt, sobald man sie als soziales Verhalten ausdrücklich zu praktizieren versucht, fragt sich, was auf dem Weg zur Demut überhaupt getan werden kann. Eine mögliche Antwort darauf ist: Demut im religiösen Sinne ist zu erreichen, wenn man keine andere Absicht für selbstlos hält, als die schiere Unterscheidung von wahr oder unwahr.

Echte Demut erkennt Wert in dem, was ist, falsche versucht ihn zu erwerben.

Die Frage, wer das Heilige Land besitzt, ist Kernthema des alt­testamentarischen Glaubens. Wenn das Land in Besitz genom­men ist, so verheißt es Isaias den Israeliten, werden sie von dort aus die Habe der Völker genießen und sich so bereichern, dass sie Heuschrecken ähneln.

Isaias 61, 5-6:*
Dann stehen Fremde bereit, euer Kleinvieh zu weiden, Ausländer sind eure Bauern und Winzer. Euch aber nennt man "Priester des Herrn"... Die Habe der Völker werdet ihr genießen und ihres Reichtums euch rühmen.

Isaias 33, 3-4*:
... wenn du dich erhebst, zerstieben die Heiden. Dann rafft man Beute, wie Heuschrecken raffen...

Die ursprünglich mosaische Verheißung von Besitz und Reichtum bezog sich auf baldigen Vollzug im Diesseits. Da sich das als Illusion erwies, hat der Glaube ein neues Bild aufgebaut, das den Erfolg der Bereicherung ins Jenseits versetzt.

Matthäus 6, 19:*
Sammelt euch nicht Schätze auf Erden... sondern sammelt euch Schätze im Himmel...

Matthäus 5, 44-46:*
... betet für die, die euch verfolgen [und verleumden], auf dass ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet... denn wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr?

Taktische Liebe

Das Christentum rühmt sich der Feindesliebe. Mit fraglichem Recht. Zumindest für Paulus war Feindesliebe ein Werkzeug um den scheinbar Geliebten in die Hölle zu befördern.

Römer 12, 9-20:*
Die Liebe sei ungeheuchelt... Segnet eure Verfolger... "wenn dein Feind hungert, gib ihm zu essen; wenn er dürstet, gib ihm zu trinken; denn tust du das, wirst du feurige Kohlen sammeln auf sein Haupt."

Vermutlich hat Paulus davon geträumt, geliebt zu werden, statt zu verstehen, dass alle bereits in Liebe aufgehoben sind. Wie kann, wer Liebe versteht, glauben, dass sie die Hölle für andere plant? Ist der Himmel denn nicht zu rein, als dass er sich durch Rache beschmutzen würde?

Der Vorsatz der Selbstlosigkeit bleibt in den abrahamitischen Traditionen im Eigeninteresse des Egos gefangen. Das Dasein wird nicht wertgeschätzt. Es wird verwendet, um für die Zukunft etwas anzuhäufen.

Gewiss: Keine Schätze auf Erden zu sammeln, ist ein guter Rat. Und Schätze im Himmel zu sammeln, kann als Metapher echter Demut gelten. Sammeln bleibt aber Appell an egozentrische Mus­ter. Sammeln häuft an, was Sicherheit verspricht. Sammeln ist aus Angst geboren und sperrt zugleich in sie ein. Wer Schätze für das Jenseits sammelt, entkommt der Beengung durch persönliches Vorteilsdenken nur zum Teil. Wer den Schatz, er selbst zu sein, jedoch im Diesseits hebt, entrinnt der Angst, die ihm das egozentrische Denken aufzwingt. Wahrer Schatz ist keine Sammlung für die Zukunft. Wahrer Schatz ist seine Gegenwart in jeder Form.

Da er im Dualismus gefangen bleibt, wird auch die sogenannte Feindesliebe vom biblischen Glauben als Werkzeug betrachtet, mit dem sich der Gläubige etwas Besseres einhandeln kann als das, was er hat. Es heißt nicht: Erkenne den Wert des Feindes an. Es heißt: Liebe, damit du Lohn bekommst. Dass die vermeintliche Liebe den Feind zuletzt der Hölle überlässt, irritiert sie nicht.

Nicht die Abwertung des Menschen führt zur Demut, sondern seine Anerkennung.

Im Denken der abrahamitischen Tradition hängen Heilsversprechen und Demuts­forderung wie Pole eines Magneten zusammen. Je mehr der Selbstwert des Einzelnen durch den Unterwerfungsanspruch des Glaubens verneint wird, desto größer wird der Bedarf, für die Zukunft eine alles ausgleichende Überhöhung zu verheißen. Der abrahamitische Glaube hat Jahrtausende überdauert, weil er den Einzelnen demütigt und ihm den Himmel dafür verspricht, dass er es mit sich machen lässt. Besser, der Einzelne würde nicht gedemütigt, sondern so wertgeschätzt, dass er aus dem Gefühl seines Wertes heraus zu echter Demut findet.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.