Perfektionismus


  1. Begriffsbestimmung
  2. Psychologischer Zusammenhang
  3. Problematische Folgen
  4. Verwandte Störungen
  5. Zeitgeist
  6. Abhilfe
Selbst in der Sauna kommt der Perfektionist nicht zur Ruhe. Er versucht, deren Besuch optimal zu gestalten.

1. Begriffsbestimmung

Unterschied
Es macht Sinn, manches perfekt zu machen. Dazu gehören Herz-Operationen und der Betrieb von Atomkraftwerken. Das Motiv zur Perfektion ist dabei in sachlicher Notwendigkeit verankert.

Im Unterschied dazu geht Perfektionismus nicht vom sachlich Notwendigen aus. Er ist ein zwanghaftes Handlungsprinzip, das durch verborgene Ängste und Begierden verursacht wird.

Perfekt setzt sich aus zwei lateinischen Begriffen zusammen: Der Vorsilbe per- = hindurch, durch und durch, völlig und dem Verb facere = machen.

Per- zeigt zweierlei an: das Mittel als auch die Vollständigkeit des Zustands, der durch die Anwendung des Mittels erreicht wird.

Perfektionismus bezeichnet ein Verhaltensmuster, das den vollständigen Ersatz dessen, was spontan geschieht, durch etwas absichtlich Gemachtes betreibt.

An disem Einschb zur europäichen Gunstgeschichte könnte noch fiel verbäßert werden. Erst mal hat der Auto aber Mut zur Lük ke.

Der unbekannte Bildhauer

Marcus Suprangelicus lebte in der Renaissance. Marcus hatte enormes Talent. Er war ebenso begabt wie sein Zeitgenosse Michelangelo. Während Michelangelo sich schließlich aber mit der Qualität seiner Werke zufrieden gab, wollte Markus alles besser machen.

Deshalb hörte er nie auf, an seinen Skulpturen herumzuschleifen. So kam es, dass niemand jemals eines seiner Werke zu Gesicht bekam; weil Marcus sie auf der Suche nach absoluter Perfektion zu Staub zerrieb. Heute ist Marcus fast vollständig vergessen. Würde er hier nicht erwähnt, fände selbst Google keine Spur mehr von ihm.


Machen Sie den Test: Geben Sie Suprangelicus bei Google ein. Gerade mal 7 Treffer. Geben Sie Michelangelo ein: 66800000 Treffer. Was schließen wir daraus? Michelangelo war kein Perfektionist.

2. Psychologischer Zusammenhang

Während der Perfektionist draußen zwei Sicherheits­lücken stopft, reißt er innen drei neue auf.

Perfektionismus ist ein Laster des Ego, Gelassenheit eine Tugend des Selbst.

Perfektionismus kann als komplexe Abwehrstrategie verstanden werden, durch die das Ego versucht, seine Fremd­bestimmtheit zu verleugnen.

Es gibt Dinge im Leben, die man nur durch die perfekte Kontrolle aller Abläufe erreichen kann. Lässt man dabei größte Sorgfalt walten, wird das kein Fehler sein.

Perfektionismus ist etwas anderes. Perfektionismus ist eine psychologische Ausrichtung, die zwanghaft vollzogen wird. Der Perfektionist strebt nicht nur die Kontrolle darüber an, was tatsächlich optimaler Kontrolle bedarf. Er optimiert auch das, was ohne Optimierung ebenso gut oder besser liefe. Dazu greift er unentwegt in die Wirklichkeit ein, um deren Verlauf zu bestimmen. Er setzt drei Dinge voraus:

  1. dass er weiß, wie der Ablauf sein sollte.
  2. dass er weiß, durch welche Maßnahmen die gewünschte Wirkung erzielt werden kann.
  3. dass seine Eingriffe keine unerwünschten Nebenwirkungen haben.

Grundlage des Perfektionismus ist Misstrauen. Das perfektionistische Ego misstraut dem Lauf der Dinge; sonst müsste es sich keine Mühe machen, ihn zu steuern. Grundlage des Misstrauens sind Angst und Gier. Das Ego fürchtet bedrohliche Entwicklungen, denen es nicht gewachsen ist; falls es sie nicht rechtzeitig verhindert. Das Ego fürchtet, Erfolge zu verpassen, ohne die es sich nicht wertschätzen kann.

3. Problematische Folgen

Der Perfektionist glaubt, einen Zustand entspannter Zufriedenheit erreichen zu können, indem er die zukünftige Struktur der Wirklichkeit auf Grund bewusster Entscheidungen im Voraus bestimmt. Das ist eine Illusion.

  1. Wie die eines jeden so stammen auch die Zukunftsentwürfe des Perfektionisten aus dem begrenzten Urteilshorizont seiner persönlichen Erfahrungen, Wünsche, Begierden und Ängste. Im Kleinen mag er erkennen, was günstig für ihn ist, im Großen und Ganzen geht das oft nicht.

  2. Die Auswirkungen eines jeden Eingriffs in die Wirklichkeit sind langfristig nicht absehbar. Was kurzfristig Glück verheißt, kann sich langfristig als Fluch entpuppen.

So wird der Perfektionist zu einem Hamster, der unermüdlich in eine Zukunft eilt, die nicht eintreffen wird. Statt zu erkennen, dass jedes Dasein bereits die Ankunft im Innersten einer Gegenwart ist, die man beachten könnte, wendet er den Blick gleich dreifach in die falsche Richtung.

  1. Er schaut nach außen.
  2. Er schaut in die Zukunft.
  3. Er schaut auf den Plan im Kopf.
3.1. Blick nach außen
Indem der Perfektionist im Auge behält, was er steuern will, verliert er sich selbst aus dem Blick. Weil er sich aus dem Blick verliert, fühlt er sich über­sehen. Weil er sich übersehen fühlt, versucht er, eine Welt zu erschaffen, die auf ihn zugeschnitten ist und ihn damit anerkennt.

Wer sich als Teil der Welt sieht, will sie steuern. Wer sich selbst sieht, lässt sich geschehen.

Der Perfektionist verfeindet sich mit dem, was ist. Dann ärgert er sich, dass ihm das, was er zu seinem Feind erklärt hat, Hindernisse in den Weg setzt.

Kämpfen Sie in der Wirklichkeit, aber nicht gegen sie. Sonst kann die Wirklichkeit Sie nicht siegen lassen.

Es gibt drei Zielscheiben des perfektionistischen Eifers:

  1. das Umfeld
    • Die Welt muss besser werden.
  2. der Verlauf des Lebens im sozialen Umfeld
    • Mein Leben muss besser werden.
  3. die Eigenschaften der eigenen Person
    • Ich muss besser werden.

Obwohl es so aussieht, als blicke der Perfektionist zur Verbesserung des Lebens nach außen und zur Verbesserung seiner Person nach innen, schaut er tatsächlich nur nach außen. Die Person, deren Position er verbessern und deren Erfolg er steigern will, ist ein Teil der Außenwelt. Er behält sie ständig im Auge, um zu überprüfen, ob sie seinen Vorstellungen entspricht; oder ob er sie weiter bearbeiten muss.

Sein tatsächlich Inneres - die Angst, einer übermächtigen Wirklichkeit unterlegen und damit entwertet zu sein - sieht der Perfektionist dabei nicht. So bemüht er sich, ohne wirklich zu wissen, was ihn nach vorne treibt.

3.2. Blick in die Zukunft

Jedes Machen zielt in die Zukunft. Impuls und Motiv jeder Tat liegen im Jetzt, das angestrebte Ziel jedoch im Dann. So kommt es, dass der Perfektionist kaum je die Gegenwart beachtet. Stattdessen blickt er in ein virtuelles Später; und wenn er die Gegenwart doch einmal beachtet, dann nicht um sie wirklich zu erkennen. Er überprüft, ob sie bereits der gewünschten Zukunft entspricht. Die Achtsamkeit des Perfektionisten zielt nicht ins Jetzt; obwohl er sich selbst nur dort entdecken könnte.

Wer erkennt, was er tatsäch­lich haben will, wird das meist nicht mehr haben wollen.
3.3. Blick auf den Bauplan

Jede Absicht, etwas zu verbessern, setzt einen Plan voraus. Dieser Plan liegt in einer virtuellen Wirklich­keit: der Vorstellungswelt des Perfektionisten, der die tatsächliche Wirklichkeit dem Plan gemäß ausrichten will.

Je mehr der Perfektionist glaubt, dass die Dinge unbedingt so laufen müssen, wie er es für richtig hält, desto starrer schaut er auf den Plan in seinem Kopf; und damit einmal mehr vorbei an dem, was hier und jetzt geschieht. Wer eine Absicht verfolgt, sieht von dem ab, was nicht zu seiner Absicht passt; um alle Kraft auf das zu bündeln, was beabsichtigt ist. Deshalb heißt die Absicht Absicht. Je mehr Absichten man hat, desto weniger kann man von der Wirklichkeit erkennen. Wirklich sehen kann nur, wer nichts als Einsicht haben will.

3.4. Scheitern, Angst und Eifer

Die Komplexität der Wirklichkeit ist groß, die Planungskompetenz des Menschen gering. Daher kommt es meist anderes als man denkt; vor allem, wenn es um Langfristiges geht.

Je höher man die Messlatte eigener Handlungserfolge legt, desto öfter wird man daran scheitern. Immerhin: Da der Perfektionist perfektionistisch ist, kämpft er mit großem Einsatz um die Bestimmung der Dinge. Das übt seine Fähigkeiten, sodass er in der Regel tatsächlich mehr kann als viele seiner Zeitgenossen.

Egal wie viel sich der Perfektionist jedoch im Kampf gegen den Eigensinn des Weltverlaufs übt, er wird der Übermacht bis ans Ende seiner Tage unterlegen sein. Anders als jemand, der seine Unterlegenheit gelassen akzeptiert, stößt der Perfektionist aber immer wieder bis zu jener Grenze vor, an der er scheitert.

Jedes neue Scheitern steigert seine Angst, nur Wasser in einem Ozean zu sein, der über sein Schicksal entscheidet. Wenn der Perfektionist diese Angst nicht wahrhaben will, heizt er seinem Eifer weiter ein. Er denkt: Es kann nicht sein, dass ich mich fürchte, sobald ich alles optimiert habe.

4. Verwandte Störungen

Perfektionismus ist keine psychiatrische Diagnose. Psychodynamisch ist er als eine Spielart zwanghaften Verhaltens aufzufassen. Somit ist er ein Symptom, das in unterschiedlicher Ausprägung bei verschiedenen psychiatrischen Störungen vorkommen kann. Zu nennen sind vor allem:

4.1. Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung richtet sich der Kontrolleifer primär auf die Welt der realen Dinge. Der Zwanghafte...

Tatsächlich geht es beim Zwanghaften nur vordergründig um die Ordnung. Sein Bemühen um das perfekte Verhältnis der Dinge zueinander dient auch bei ihm der Abwehr von Angst. Der Zwanghafte glaubt: Wenn ich die einzig richtige Ordnung herstelle und es mir gelingt, mich nahtlos in diese Ordnung einzufügen, werde ich ganz sicher sein.

4.2. Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Dem Narzissten ist die perfekte Ordnung äußerer Dinge meist egal. Für ihn zählt, dass er an sich selbst keinen Makel feststellen kann. Dazu ist der Narzisst entweder kühn oder um die ständige Perfektionierung seines Könnens bemüht.

Ist er kühn, behauptet er kurzerhand, von je her ein perfekt gelungenes Resultat göttlicher Schöpferkraft zu sein. Dann befasst sich sein Perfektionismus damit, den Glauben an die verwirklichte Größe gegen innere und äußere Zweifel zu schützen.

Ist er weniger kühn, sind ihm Zweifel bekannt. Da ihm ein perfektes Ego aber als einzig sinnvolles Ziel erscheint, setzt er sich unter Druck, um das Beste aus sich heraus­zuholen. Oder er erwirbt neue Fähigkeiten, mit deren Hilfe er dem angestrebten Ziel persönlicher Perfektion näher kommt.

Folgeerkrankungen
Perfektionismus kann zu seelischen und körperlichen Folgeerkrankungen führen.
4.3. Borderline-Syndrom

Auch dem Borderline-Syndrom liegt in gewissem Sinne ein Perfektionismus zugrunde. Man könnte das Borderline-Syndrom als einen scheiternden Beziehungsperfektionismus bezeichnen.

Auch beim Borderline-Syndrom geht es um die Abwehr von Angst. Das Grundproblem liegt dabei im Streben nach absoluter Harmonie in zwischenmenschlichen Bezieh­ungen. Die Borderline-Persönlichkeit setzt voraus, dass Personen perfekt aufeinander ausgerichtet sein sollten. Da der Glaube daran immer wieder blind macht, die Verwirklichung aber an den Realitäten scheitert, schwankt die Borderline-Persönlichkeit emotional zwischen Begeisterung und Wut.

5. Zeitgeist

Seit sich der Mensch nicht mehr mit der Hoffnung auf ein jenseitiges Paradies begnügt, ist eine neue Seuche ausgebrochen. Glaubte man früher, um das Gute im Jenseits zu erlangen, müsse man auf seinen Genuss im Diesseits verzichten, denkt der Zeitgeist heute nicht mehr gotisch. Stattdessen glaubt er, dass man im Diesseits alles steigern, verbessern und optimieren muss, damit man am Guten überhaupt teilhat.

Wenn niemand mehr Fehler machen darf, weil alles perfekt laufen muss, kommt uns das teuer zu stehen.

Man kann versuchen, den Ablauf wirtschaftlicher und sozialer Prozesse grenzenlos zu optimieren. Das eigentliche Ziel - mehr Lebensqualität - erreicht man damit nicht. Im Gegenteil: Ein Zeitgeist, der von jedem verlangt, immer perfekter zu sein, zerstört mehr Qualität als er sichern kann.

Erstaunlich: Von 2000 - 2013 ist die reale Kaufkraft um 1,5 % gesunken. Der Aufwand, alles immer besser zu machen, hat sich im gleichen Zeitraum verdreifacht.

Haben Sie schon einmal eine Computer­zeitschrift gelesen, die nicht die perfekte Browser­einstellung versprach oder geniale Tricks zur Optimierung von Windows verriet? Haben Sie? Upps, da muss ich etwas übersehen haben.

Die Angst, morgen nichts Besseres zu bekommen als heute, ist zur zentralen Triebkraft gesellschaftlicher Prozesse geworden. Auf allen Ebenen wird auf Gedeih und Verderb optimiert.

6. Abhilfe

Wer unterwegs in Eile ist, ist Sklave seines Ziels.

Perfektionismus heißt Verbessernwollen. Verbessernwollen heißt Machen­müssen. Machenmüssen heißt, von einer Zielsetzung beherrscht zu sein. Beherrscht zu sein, ist ein Zustand, der dem Wesen des Lebens widerspricht. Perfektionismus verinnerlicht den Zustand, gegen den er sich eigentlich wehrt. Dagegen können Sie etwas tun.

Solche Zielsetzungen können große Dinge sein. Dann liegen sie vermutlich in der Ferne. Meist wirkt der Optimierungsdruck jedoch auf kleine Distanz.

Dann werden Sie von versteckten Zielsetzungen beherrscht, deren gemeinsamer Nenner im Bemühen liegt, irgendeinen Abschnitt Ihres Lebens durch Kontrolle zu optimieren. Das ist bereits ein Symptom des Perfektionismus.

Wohlgemerkt: Es muss kein neues Ziel sein, sich keiner Zielsetzung mehr zu unterwerfen. Es reicht zu sehen, welcher Zielsetzung man sich unterwirft. Erkennt man das, verändert sich manches wie von selbst.