Grenzen


  1. Begriffsbestimmung
  2. Existenzielle Grundlagen
  3. Psychologische und soziale Konsequenzen
  4. Kollektive Grenzen
Als Person braucht der Mensch Grenzen. Als er selbst überschreitet er sie.

Eine der besten Methoden, unglücklich zu werden, ist der Versuch, mehr zu sein, als man ist.

Wer alles mitnimmt, was er mitnehmen kann, trägt bald so viel Ballast, dass er kaum noch fortkommt.

1. Begriffsbestimmung

Die etymologische Recherche zum Begriff Grenze gibt nicht viel her; umso mehr die Betrachtung der Rolle von Grenzen für Psychologie und Gesellschaft. Immerhin, Zufall oder nicht: Das deutsche Wort Grenze ist slawischen Ursprungs. Es ist dem polnischen granica = Grenze entlehnt. Bis es vom polnischen granica abgelöst wurde, verwendete man im Deutschen das Wort Mark. Mark geht auf das indo­europäische mer[e]ĝ = Rand, Grenze, Grenzland zurück. Als Namensbestandteil ist der Begriff in Mark Brandenburg und Steiermark enthalten. Ob die Ablösung des ursprünglich benutzten Begriffs durch den slawischen darauf verweist, dass der Grenze nach Osten aus deutscher Sicht mehr Bedeutung zukommt als der nach Westen, ist reine Spekulation.

Raum und Zeit
Alles, was man sieht, ist Grenze. Alles, was man sieht verdeckt, was hinter der sichtbaren Grenze liegt. Das gilt auch für Objekte, die nicht blickdicht sind, sondern teilweise transparent. Ein gefärbtes Glas verdeckt sämtliche Aspekte der Wirklichkeit, die ihrem Farbton entsprechen. Ab zehn Meter Tiefe ist Rot im Meer nicht mehr wahrnehmbar. Auch für andere Modalitäten der Wahrnehmung gilt, dass konkret Wahrgenommenes zu einer Grenze wird, die anderes verdeckt.

Raum und Zeit verdecken nichts. Sie sind keine Objekte der Wahrnehmung. Auf ihre Existenz wird logisch schlussgefolgert. Unüberprüfbar bleibt, ob die Logik ihrer Existenz im Sinne Kants bloß Werkzeug dualis­tischer Bewusstheit ist, oder ob sie unabhängig davon existieren.

2. Existenzielle Grundlagen

Grenzen haben für die menschliche Psychologie eine herausragende Bedeutung. Die existenzielle Struktur des Menschen und seine Position in der Wirklichkeit können als Manifestationen eines Wechselspiels von Ein-, Aus- und Entgrenzung verstanden werden. Als Person braucht der Mensch Grenzen. Dem tiefsten Pol seiner selbst entsprechen sie nicht.

Jenseits und Diesseits - Selbst und Person
Der Mensch hat zwei Seiten. Die eine begegnet der Welt, die andere reicht darüber hinaus. Der Welt begegnet die Person; die auch als relatives Selbst bezeichnet werden kann. Aus ihr entrückt ist das absolute Selbst.

Das Adjektiv entrückt sollte nicht miss­verstanden werden. Entrückt meint nicht, dass sich das absolute Selbst in einem Raum jenseits des Raums, und nur dort, befände. Entrückt verweist auf ein Privileg des Selbst, das der Person als solcher nicht zukommt. Die Person ist dem Einfluss der Objekte, denen sie im Diesseits begegnet, ausgesetzt. Um dem Ausgesetztsein zu begegnen, grenzt die Person sich aktiv ab. Zugleich wird sie durch Objekte passiv begrenzt. Für das absolute Selbst gilt beides nicht. Das absolute Selbst ist kein Objekt, dem andere Objekte begegnen und damit schaden könnten. Da es kein Objekt ist, hat es keine Grenze, weder eine die ihm Objekte setzen noch eine derer es selbst bedarf. Das absolute Selbst liegt als Subjekt allem Verwirklichten zugrunde. Es ist Gegenwart, die Objekten Wirklichkeit verleiht. Es ist das Potenzial umfassender Bewusstheit und unbedingter Eingriffs­möglichkeit. Objekte mögen da sein. Ob sie wirklich sind, wird vom Subjekt her entschieden.

Die Person erlebt sich von der Welt, der sie begegnet, abgegrenzt. Was ihre Sinne als Welt erleben und ihr Verstand als solche erkennt, ist ein Gefüge verschachtelter Grenzen, die im Zeitverlauf entstehen, verschoben oder überschritten werden und vergehen.

Dem absoluten Selbst sind endgültige Grenzen wesensfremd. Es befindet sich in keinem Raum, der es umgibt. Raum ist eine Möglichkeit des Selbst, kein Ort, an dem es sich befände. Es selbst kann räumlich sein. Es muss es aber nicht. Es ist den Inhalten des Raums nicht ausgeliefert. Insofern ist es dem Diesseits entrückt. Wenn es als etwas Diesseitiges erscheint, dann als Verwirklichung einer Möglichkeit.

3. Psychologische und soziale Konsequenzen

Als Person durchquert der Mensch eine Welt der Begrenzung, sein Selbst verbleibt in der Unendlichkeit. Daraus ergeben sich Notwendigkeiten, die für sein Wohlbefinden zu erfüllen sind.

  1. Als Person muss das Individuum zwischen sich und der Welt unterscheiden.
  2. Als Person muss es lernen, Grenzen hinzunehmen.
  3. Der Einzelne braucht den Mut, sich gegen andere abzugrenzen.
  4. Das Individuum muss dem unbegrenzten Wesen seines absoluten Selbst entsprechen. Dazu muss es zwischen Person und Selbst unterscheiden; und die separate Existenz seiner Person als untergeordnete Erfahrungsebene begreifen.
  5. Das Individuum braucht den Mut, Grenzen zu überschreiten. Ohne dass es Grenzen überschreitet, kommt es sich nicht näher.
3.1. Ich und Nicht-Ich

Solange man nicht an einer akuten Psychose leidet, scheint die Unterscheidung zwi­schen Ich und Nicht-Ich vollzogen. Das trügt. Auf intellektueller Ebene mag die Trennung vollzogen sein. Da weiß jeder mit gesundem Menschenverstand, dass er er ist, aber nicht der Andere. Betrachtet man jedoch das alltägliche Verhalten seiner selbst und anderer, erkennt man, dass die Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich als Konzept zwar steht, dass aber kaum jemand die Trennlinie unverrückbar einhält. Fast jedes personale Ich versucht, über die Grenze hinweg auf Kosten anderer zu leben und Unerwünschtes aufs Nachbargrundstück zu entsorgen.

Entsprechende Verhaltensmuster ordnet die Psychologie projektiven Abwehrmecha­nismen zu. Zu nennen sind...

Beim Psychosekranken führt die gestörte Abgrenzung zwischen Ich und Nicht-Ich zu Fehldeutungen, die im Verhältnis von Selbst- zu Weltbild unmittelbar zu Tage treten.

Man spricht von Ich-Störungen; also einem Selbsterleben, bei dem die Urheberschaft eigenen Erlebens über die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich hinweg dem absichtlichen Einfluss anderer Personen zugeschrieben wird.

Im Bereich der Normalpsychologie sind die Vorgänge subtil. Dort wird nicht das Gefühl als anderweitig gemacht und im Anschluss implantiert erlebt. Vielmehr schreibt der nor­male Mensch Verantwortung für unliebsame Erlebnisweisen anderen ebenso zu wie die Aufgabe, für sein Wohl zu sorgen. Zumindest tut er das oft.

Derartige Deutungen der Wirklichkeit sind alltäglich. Sie schreiben die Ursache eigener Gefühle anderen zu; aber nicht der eigenen Art, wie man Ereignisse deutet. Die personale Grenze zwischen Ich und Du wird übersehen.

3.2. Genügsamkeit
Je höher die Ansprüche ans Leben, desto eher bleiben sie unerfüllt. Je weniger Ansprüche erfüllt werden, desto eher erlebt man sich vom Leben missachtet. Je missachteter man sich fühlt, desto eher glaubt man, dass die Erfüllung von Ansprüchen Heilmittel ist.

Nicht jeder, der seine Ansprüche nach unten schraubt, ist damit bescheiden. Bewusst gelebte Anspruchslosigkeit kann Ausdruck höchster Begehrlichkeit sein. Ja, kann man denn für Tugend keinen Lohn erwarten?

Weder der Glaube, man solle Ansprüche stellen, noch der, man solle es nicht, ist ein gutes Rezept; weil beides Soll und Vorsatz ist, was vor Tatsachen kaum zählt. Besser als zu fragen, was man soll, ist zu fragen, was tatsächlich geschieht.

Als Person begegnet man auf Schritt und Tritt Begrenzungen:

Aus zweierlei Gründen sind solche Begrenzungen schmerzhaft. Zum einen schmälern sie das persönliche Expansionspotenzial. Sie hemmen die Möglichkeit, sich auszubreiten. Zum anderen ist der Mensch in Begrenzung nicht wirklich zuhause. Sein Wesen ist eigentlich unbegrenzt, sodass er im Grenzland des Daseins Kompromisse machen muss, die die vollständige Erfüllung seines Wesens vereiteln.

Aus der Ahnung heraus, dass Begrenzung nicht das letzte Wort sein kann und aus Angst, als Ego zu kurz zu kommen, setzen viele überwertig auf persönliche Expansion. Sie glauben, mehr sei immer besser. Sie glauben, dass man mitnehmen solle, was man mitnehmen kann. Sie halten Verzicht für eine Feigheit der Dummen. Doch wehe dem, der seiner Begierden keine Grenzen setzt. Wer sich selbst nicht begrenzt, bekommt Grenzen erst recht von außen verpasst.

Gegenüber fremden Erwartungen gilt es sich abzugrenzen. Bei den eigenen lohnt es, sie auf das Wesentliche einzugrenzen.

Als die Geschäfte gut liefen, war klar: 250 PS und 250 Quadratmeter mussten es schon sein... und drei Wochen Malediven mit Luxusbraut im Fünfsternehotel. Als das Geschäft schwächelte, war der Aufschlag hart. Sogar die Braut sah sich anderweitig um.

Opfer und Täter
Zunächst sieht es so aus, als seien all jene, die kein Nein über die Lippen bringen, passive Opfer Übergriffiger, die sich nicht begrenzen und ständig etwas von den Opfern fordern. Das ist einseitige Sicht. Sie mag den Opfern zu einem guten Gewissen verhelfen, zu mehr aber nicht. Auch das Opfer ist Täter. Auch das Opfer will mehr: Liebe, Zuwendung, Wertschätzung; kurzum: die Bestätigung unbedingter Zugehörigkeit. Und da es sich mit dem, was es hat, nicht begnügt, hält es die Grenzen offen. Es könnte ja ein Quäntchen Zuwendung kommen, dessen Import an einer Grenze auf keinen Fall aufgehalten werden soll.
Viele Grenzen werden offengehalten; scheinbar den anderen zuliebe, tatsächlich, weil man auf der Jagd nach dem Lob für die eigene Tugend unersättlich ist. Anderen Gutes zu tun, meint oft nicht die anderen. Oft meint es das eigene Selbstwertgefühl.
3.3. Ich und Du

Ein Schwerpunkt des Daseins ist Gemeinschaftlichkeit. Das meiste, was den Einzelnen umtreibt, hat mit anderen zu tun. Ein Hauptanliegen ist die Beziehungsgestaltung.

Dabei steht der Einzelne nicht nur vor der Frage, ob er fremde Grenzen einhält, ob er sich der oben genannten Abwehr­mechanismen also enthält. Vielmehr ist jeder ständig Ziel­scheibe fremder Erwartungen und Ausgangspunkt eigener. Beiden Erwartungen gegenüber muss man Position beziehen; oder man wird zu ihrem Spielball.

Einnahmequellen
Der sicherste Verbündete des Psychotherapeuten im Ringen um seinen Wohlstand ist die fehlende Bereitschaft der Patienten, sich gegenüber den Erwartungen anderer abzugrenzen. Das führt regelhaft zu Kummer und Leid; und die Patienten zum Therapeuten.

Ursache der Störung ist ein ungestilltes Zugehörigkeits­bedürfnis. Wer Erwartungen anderer niemals Widerstand entgegensetzt, wähnt sich derart auf deren Sympathien angewiesen, dass er sich beim Bemühen, sein Gegenüber günstig zu stimmen, verausgabt. Ständig ist er jenseits des Gartenzauns damit beschäftigt, die Meinung anderer über sich selbst zu beeinflussen. Pathologische Folgen sind:

3.4. Selbstbestimmung
Einwegspiegel
Einwegspiegel sind besondere Grenzen. Sie trennen zwei Räume. Auf der einen Seite sieht der Betrachter sein Spiegelbild. Von der anderen sieht er den, der sein Spiegelbild im Spiegel sieht. Wenn die Person, die sich im Spiegel sieht, nicht ahnt, dass ihr Wesenskern nicht im Bild, sondern im Betrachter jenseits des Spiegels liegt, verkennt sie das Wesen ihrer selbst.

Fremdbestimmung ist Begrenzung durch andere. Das ist ein soziales Phänomen. Als Gegenpol dazu ist Selbstbestimmung zu betreiben. Selbstbestimmung im sozialen Kontext heißt: Ich tue, was ich selbst für richtig halte; auch dann, wenn andere anderer Meinung sind. Wer solcherart Selbstbestim­mung unterlässt, kann weder mit sich im Reinen sein, noch wird er eine Position erklimmen, von wo aus der Blick auf die Gemeinschaft Freude macht.

Darüber hinaus hat Selbstbestimmung eine höhere Dimension. Sie ist das zentrale Thema des individuellen Umgangs mit sich selbst. Um seelisch gesund zu sein, muss sich der Einzelne fragen, was oder wer er tatsächlich ist. Solange er glaubt, nur Person zu sein, wird er sich selbst verfehlen. Erst wenn er zwischen seiner Person und seinem absoluten Selbst unterscheidet, also die Person als eine Erscheinung seiner selbst erkennt, kann er tatsächlich selbst­bestimmt sein. Bis dahin wird er glauben, die spontane Reaktion seiner Person auf die Ereignisse der Welt sei er selbst. Dabei wird die Person meist mehr von der Welt bestimmt, als von sich selbst.

4. Kollektive Grenzen

Grenzen von psychologischer Bedeutung gibt es nicht nur interpersonell. Vielmehr neigen Menschen dazu, sich zu Gruppen zusammenzuschließen; oder andere zum Anschluss zu zwingen. Gruppen grenzen sich gegeneinander ab: entweder beiläufig oder grundlegend.

Die Leidenschaft, mit der die Einhaltung kollektiver Grenzen gefordert wird, ist vor dem Hintergrund des Zugehörigkeits-Selbstbestimmungs-Konfliktes verstehbar. Gruppen geben Sicherheit. Das war schon vor der Menschwerdung so. Deshalb neigen Menschen dazu, sich einer Gruppe anzuschließen und sich mit deren Wertvorstellungen zu identifizieren. Der Zusammenschluss hat Konsequenzen:

Kollektive Grenzsetzungen durch systematisierte weltanschauliche Positionen sind wesentliche Ursachen gesellschaftlicher Konflikte. Da jeder zur Gesellschaft als Ganzes gehört, ist er auch dann von solchen Konflikten betroffen, wenn er selbst keiner weltanschaulichen Gruppe angehört. Millionen werden ihrer Rechte beraubt, weil weltanschauliche Gruppen an willkürlich erzeugten Grenzen darum streiten, wer Recht hat. Dabei geht es beim Streit nur vordergründig um die Frage, wer inhaltlich Recht hat, wer der Wahrheit also näherkommt. Vielmehr geht es um die Erfüllung psycho­logischer und existenzieller Bedürfnisse. Es geht um die Frage, wer das Recht hat, sich an den Gütern der Welt zu bedienen; und andere davon abzuhalten.